Reisetagebuch Motorradtour (2): Ostwärts

Reisetagebuch Motorradtour (2): Ostwärts


Statt langer Sommerreise in ferne Länder nur eine Fahrt durch den Osten. Immerhin wird es eine Woche durch Erz- und Riesengebirge gehen und haufenweise Leichen meinen Weg pflastern.

Sonntag, 28. Juni 2020

Ich halte es nicht mehr aus.
Ich muss hier raus, ich muss hier weg. Mit dem Motorrad auf die Straße und weg, weg, weg, am Besten irgendwo hin wo alles anders ist als hier. Wind um die Nase, Asphalt unter den Reifen und was anderes sehen, aber bitte keine Menschen.

Die kurze Fahrt nach Weimar ist zwei Wochen her, aber zwei Tage in Thüringen und anschließend drei Tage Rumgammelei zu Hause, das reicht nicht, um den Stress des Jahres aus dem Kopf zu kriegen.

Das vergangene Jahr im Job war schon heftig, aber seit März ist die Arbeitsbelastung nochmal förmlich explodiert. Während fast alle Kolleginnen und Kollegen im Homeoffice waren und dort versuchten Arbeit, Pandemie und Kinder irgendwie unter einen Hut zu kriegen, habe ich im Firmengebäude die Stellung gehalten.

Teils war ich tagelang alleine auf einer ganzen Etage in der Firma, außer mir nur ein bis zwei Personen im ganzen Haus. Das Telefon am Ohr bin ich durch die leeren Büros gewandert. Alles koordinieren, organisieren, den Laden irgendwie zusammenhalten, telefonieren, telefonieren, telefonieren, weil die Kollegen zu Hause halt nicht anrufbar waren. Teils alle 10 Minuten ein anderes Gespräch, andere Menschen, in anderen Notlagen, die Notwendigkeit anders auf die Leute einzugehen, eine endlose Abfolge von Zuhören, Erklären, Anweisen, Weitergeben.

Mein offizieller Rekord liegt jetzt bei 13 Stunden am Tag Dauersabbeln, zwischendurch war an solchen Marathontagen sogar der Akku des DECT-Telefons leer, genauso wie mein eigener. In den kommenden Wochen, das ist absehbar, wird die Arbeitslast NOCH größer. Wenn ich also noch eine Auszeit nehmen will, dann jetzt.

Deshalb mache ich noch eine Woche Urlaub und tue das, was mir dabei hilft, den Kopf frei zu kriegen: Wegfahren, was anderes sehen.

In der Garage steht die ZZR 600 startbereit, aber nach kurzer Rücksprache mit Leuten die wissen, wie im Osten die Straßen aktuell sind, nehme ich heute doch lieber die andere Maschine. Das Sportfahrwerk der Renaissance würde mir im Osten keine Freude machen.

Neben der Kawasaki steht die Barocca, die schwarze Suzuki DL 650 V-Strom, mein Motorrad für Fernreisen. Die Maschine ist perfekt durchgewartet und hat nagelneue Reifen drauf. Von denen ist nicht mal der Glitschmodder komplett runter, so wenig bin ich seit Oktober letzten Jahres gefahren.

Unsere große Reise dieses Jahr ist wegen Corona ausgefallen, nun geht es also gemeinsam auf eine kurze Tour. Die Suzuki trägt nur die kleinen Givi-Koffer. 36 Liter auf jeder Seite, dazu ein Topcase und einen Neuzugang: Eine kleine Tasche auf dem Soziasitz, in der die Regenkombi verstaut ist.

Ich schiebe die Maschine aus der Garage und verriegele das Tor, dann wuchte ich mich in den Sattel und versuche die V-Strom auf der abschüssige Straße vom Seitenständer zu heben. Scheiße, ist die hoch.

Für meine 1,70 Meter Körpergröße hatte ich die große Maschine 2017 tieferlegen lassen. Das hat allerdings die Fahreigenschaften so negativ beeinflusst, dass im vergangenen Herbst die Tieferlegung wieder ausgebaut wurde. Seitdem bin ich die Barocca praktisch nicht mehr gefahren und muss mich an die neue Höhe erst einmal gewöhnen.

Unter lautem Ächzen habe ich die Kiste dann irgendwann vom Seitenständer. Meine Fresse, was bin ich unfit. Coronabedingt zu wenig Bewegung, fühlt sich an, als ob ich kaum noch Muskeln habe. Egal, los jetzt.

Ich drücke den Starter, rolle die Straße runter und bin weg.

Kurz darauf fängt es ein wenig an zu regnen, aber das ist mir egal. Ich bin einfach nur glücklich, endlich wieder unterwegs sein zu können. Mein Gott, wie hat mir das gefehlt. Der Kurztrip neulich nach Weimar war nett, aber keine Erholung. Ständig habe ich an die Arbeit gedacht und Gedanken gewälzt. Ich bin anscheinend nicht der Typ für Balkonien, ich muss weg, damit der Kopf raus aus allem kommt. Nicht weit weg, aber weg, und am Besten im Sattel eines Motorrads.

Die V-Strom brummt über die Bundesstraße aus Göttingen raus, dann nach Duderstadt und hinein ins Eichsfeld. Die Menschen hier haben nicht viel Fantasie, und das merkt man an den Ortsnamen. Worbis. Breitenworbis. Kirchworbis.

Es geht nach Mühlhausen, dann nach Gotha, Ilmena, durch das ländliche Thüringen. Kornfelder, oft bis zum Horizont.

Es hat überall vor mir geregnet, die Straße ist nass und Wasser steht in den Spurrillen. Stärkere Güsse bleiben mir zum Glück erspart, als ich durch den Thüringer Wald fahre.

Im “Nationalpark Thüringer Schiefergebirge” schlängelt sich die Saale zwischen Bergen hindurch. Die Suzuki rollt über Brücken, die über eine Talsperre führen. Darauf schippern Ausflugsboot herum.

Dann geht der Thüringer Wald in das Südenende des Erzgebirges über. Die Barocca gleitet über die meist erstaunlich neuen Landstraßen, fällt elegant in die Kurven, schleicht durch die kleinen Dörfer, überholt blitzschnell Lieferwagen und Traktoren. Wie gut es tut, endlich wieder den Fahrtwind im Gesicht zu spüren! Ich habe ja irgendwann behauptet, Motorradfahren sei bloß Mittel zum Zweck – eine einfache und billige Art von A nach B zu kommen. Aber das stimmt nicht.

Motorradfahren bringt einen ganz nahe an das Land und die Landschaft, die man gerade kreuzt. Man riecht die Umgebung, man spürt Sonne und Regen und den Motor, man hört die Straße unter den Reifen. Reisen mit dem Auto schließt einen in einer Blase ein. Geschützt vor der Witterung, bei angenehmer Temperatur, mit Unterhaltungsprogramm aus den Lautsprechern… Individualreisen mit dem Auto ist nett, aber nicht mit dem Reisen mit dem Motorrad zu vergleichen, wo alles ungefiltert auf einen einstürmt.

Im Erzgebirge sieht es genau so aus, wie ich es mir ausgemalt hatte. Dunkle Nadelwälder, moosüberwachsene Felsen. Der finstere Wald aus den Märchen? Das ist der hier!

Bei Schwarzenberg ist ein Pumpspeicherwerk. Das sind praktisch zwei Seen, einer im Tal und einer auf einem hohen Berg. Der im Tal ist leer, der auf dem Berg gefüllt. Wird Strom benötigt, wird das Wasser aus dem oberen See abgelassen. Es schießt durch Rohrleitungen ins Tal in den unteren See und treibt dabei Turbinen an. Wenn der Strombedarf normal ist, wird das Wasser mit großen Pumpen wieder vom unteren in den oberen See zurückgepumpt. Pumpspeicherwerke sind bestens geeignet um Bedarfsspitzen beim Strom abzufangen. In Deutschland gibt es 36 davon.

Die Pension Kapellenstein am Knochen klingt unappetitlich und sieht nach nichts aus, bietet aber gute Zimmer, gutes Essen, faire Preise und vor allem: Ruhe. Selbst das Bier hier trägt den Namen “Einsiedler” und wird von der Besitzerin der Unterkunft mit Mundschutz und Maske serviert.

Das Essen hat schon tschechische Anklänge. Es gibt Gulasch nach Erzgebirge-Art, dazu böhmische Knödel, die eher schmecken wie Weißbrot.

Als ich abends im Bett liege merke ich, wie mein Gesicht kribbelt. Das kommt vom Fahrtwind, der den ganzen Tag über die Haut ging, und der ungewohnten Menge an frischer Luft. Endlich wieder auf der Straße. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlafe ich ein.

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0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour (2): Ostwärts

  1. Schöne Ecke. Ich war dieses Jahr zweimal da: Einmal mit einem Kollegen Tour Sauerland-Bayer. Rhön, thür. Wald und Erzgebirge und dann ein zweites mal offroad in einer geführten Endurowandertour im Erzgebirge. Tolle Gegend, so viel Landschaft da… ; – )))

    Gruss

    Lupo

  2. Ich freue mich, dass du das Motorradfahren und unterwegs sein für dich als Ausgleich gefunden hast! Immer wieder bin ich erstaunt, wie sehr du Reisen genießen kannst und wie viel du für dich rausholen kannst, nachdem dir das Prinzip damals* noch eher fremd war.

    *CeBIT vor langer langer Zeit

    Viele Grüße von einer, die das große Reisen nicht vermisst, dafür aber plant in Zukunft kürzer, näher und wie eine Weinbergschnecke (mit Schlafwagen) unterwegs zu sein. 😀

    Nur nach Neuseeland würde ich gern nochmal und auch länger, auch um es dem Mann zu zeigen. Ich befürchte das wird eher nichts mehr, aber gut dass ich schon fast überall war, wo es mich hinzog. NZ wäre mein Auswanderungsland, aber so weit weg, das kann ich der Familie nicht antun. 🙂

  3. Lupo: Endurowandern kann ich mir dort super vorstellen, das lädt geradezu ein! Muss eine tolle Erfahrung gewesen sein!

    Kalesco: Ja, die Zeiten ändern sich… Die legendäre Cebit, dass muss 2009 gewesen sein, vielleicht auch 2010. Seitdem hat sich so einiges geändert, und über das Motorradreisen habe ich viel über mich gelernt. Stellt sich raus: Ich hatte mich die ganze Zeit über falsch eingeschätzt 🙂 Neuseeland aktuell reisst mich ziemlich vom Hocker, gefühlt eines der progressivsten Länder der Welt und definitiv eines mit Zukunft.

    Thomas: Danke! Und: Der Osten ist gar nicht weit weg, einfach machen 🙂

    Marcus: Grundsätzlich hätte ich schon Lust, einmal was für´s Kradblatt beizusteuern, danke für das Angebot. Ausgerechnet diese Teilstrecke der Tour hier bietet sich aber m.E. nicht für einen eigenen Artikel an. Dazu war sie zu unspektakulär, und da ich keine Lust auf Knipsen hatte, gibt es auch wenig Material zur Bebilderung.

    1. Ja, war es. Aber ohne Tourguide nicht legal machbar.

      @kalesco: MACHEN! Auf die Familie keine Rücksicht nehmen. Ich hatte vor ca. 20 Jahren ein Angebot in Australien und bin auf Wunsch meiner Tochter nicht runter gegangen. Heute muss ich mir anhören, warum ich das nicht gemacht habe….

      @Thomas: Unbedingt hinfahren. Lohnt sich.

      @Silencer: Die Gegend ist so schön, da braucht es keine spektakulären Bilder. Mich hat die Normalität beeindruckt, klingt blöd, ich weiss. Und die Bilder oben sind schon ausreichend, finde ich. Unter dem Viadukt bin ich übrigens auch drunter druchgefahren.

      Lupo

  4. Da freut sich einer über die “erstaunlich neuen Landstraßen”, und das bereits schon 30 Jahre nach der Osterweiterung der Bundesrepublik…
    Ja ja, die A72 endet nicht mehr kurz nach Plauen, sondern mündet nach Hof in die A9! Die Bundesstraßen sind im Osten nicht mehr gepflastert und sogar die Landstraßen haben dort mittlerweile einen festen Fahrbahnbelag. 🙂
    Bestimmt ist das Reisen ohne “Kapsel” anstrengender, aber – so wie Du es beschreibst – auch beeindruckender. Ich bin Bikerneuling und diese Worte machen Lust auf mehr. Danke!

    1. Lukra: Das sagst Du so als wäre das selbstverständlich 😉 Ich komme aus dem ehemaligen Zonenrandgebiet und noch heute ist es so, dass die Straßen im Harz absurd schlecht sind. Und wenn man ein paar Meter weiter fährt, so um Erfurt oder Weimar rum, hat man Du tatsächlich überall noch Kopfsteinpflaster. Ich war vor ein paar Wochen da unterwegs und bei meinem alten Auto ist tatsächlich das Hitzschutzblech vom Katalysator auf dem Kopfsteinpflaster abvibriert, nachzulesen hier. https://silencer137.com/2020/10/31/reisetagebuch-osttour-1-die-finstere-seite-des-ettersbergs/

      Deshalb habe ich mich über die neuen Straßen im Erzgebirge doppelt gefreut 🙂
      Ansonsten kann ich nur sagen: Dir allzeit gute Fahrt, mach Fahrsicherheitstrainings und falls Du mehr Anregungen brauchst: Unter “Reisen” da oben kannst Du erleben, wie ich vorsichtig ab 2012 erste Schritte in Richtung Moppedreisen unternommen habe 🙂

  5. Kopfsteinpflasterabschnitte kann man überall noch antreffen, stimmt. Selbst in großen Städten wie z. B. Nürnberg, Berlin oder Hamburg ist man davor nicht gefeit.
    Danke, das wünsche ich Dir natürlich auch. Anregungen habe ich mir jedenfalls schon viele geholt, auch bei Dir.

  6. Den Drang, dem beruflichen Alltag zu entfliehen, kennen mein Mann und ich nur allzu gut. Daher möchten wir im nächsten Jahr unsere allererste Motorradtour unternehmen. Für den Anfang entscheiden wir uns für ein Ziel, welches noch nicht ganz so weit entfernt liegt. Allerdings werden wir für den Motorradtransport eine Firma benötigen.

    1. Hallo Lucy,
      dann wünsche ich Euch viel Spaß bei der Tour. Und bei der Planung, die kann auch schon Freude machen. Wollt ihr denn weit weg? Ansonsten kann auch der Weg das Ziel sein. Sich unterwegs schon etwas anzugucken oder auch nur die Fahrt zum Urlaubsort kann ja auch schon ein Erlebnis sein.

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