Reisetagebuch Motorradtour (3): Ich lohn´ mich einfach nicht

Reisetagebuch Motorradtour (3): Ich lohn´ mich einfach nicht

Montag, 29. Juni 2020
Pension Kapellenstein am Knochen, Sachsen

Noch im Halbschlaf packe ich die Koffer. Wie das geht und was wo hingehört damit am Ende alles perfekt ausbalanciert ist, darüber muss ich gar nicht nachdenken. Obwohl ich jetzt länger als ein Jahr nicht mehr auf Tour war, erinnert sich der Körper noch genau an jede Bewegung. Ich trete auf die Terrasse der Pension, zirkele mit den Koffern in den Händen um die Au0enbestuhlung und gehe die Stufen zum Motorrad hinunter.

Jeder Handgriff um die Koffer anzubringen und zu sichern sitzt noch, jeder prüfende Blick erfolgt automatisch. Es hat die ganze Nacht geregnet, die Maschine ist nass.

Mit einem kleinen Mikrofaserhandtuch aus dem Topcase reibe ich Sattel und Instrumente trocken. Uh, kühl ist es. 14 Grad ist für Juni mal nicht viel.

Ach, eine Sache mehr als sonst haben wir noch. In einer der vorderen Bremsscheiben der Suzuki steckt ein Bremsscheibenschloss. Das benutze ich sehr selten, aber gestern Abend erschien es mir für den Ort hier angemessen. Wie auch immer, es sollte besser ab, sonst fährt die Maschine keinen Meter.

Ich stecke den Schlüssel in das aufbohrsichere Schloss und drehe ihn herum. Einmal. Nochmal. Ich ziehe ihn wieder raus, gucke ihn verwundert an, stecke ihn wieder rein und drehe ihn wieder.

Keinerlei Widerstand.

Der Schlüssel greift nicht.

Ab diesem Moment bin ich hellwach, als ich begreife, dass ich mein Motorrad nicht von der Stelle bekommen werde. Der Schlüssel dreht leer im Zylinder, aber das Schloss geht nicht auf. Wieder ziehe ich ihn raus, stecke ihn wieder rein, wackele daran herum. Nichts. Er greift nicht. Ich sehe mich schon Frau Gastwirtin bitten, einen Handwerker mit einer Flex zu bestellen.

Ich benutze das Bremsscheibenschloss sonst nie, warum habe ich das gestern Abend überhaupt angebracht? Ist doch gottverlassen hier im Erzgebirge. Ich fluche und drehe und stochere und dann rutscht der Schlüssel noch einen Millimeter tiefer hinein und das Scheißding geht endlich auf. Meine Fresse. Das Teil werde ich nicht wieder benutzen.

Unter einem bleigrauen, regenschweren Himmel geht es durchs Erzgebirge. Die Suzuki rollt über schmale Landstraßen und pöttert durch kleine Dörfer, oft nicht mehr als eine handvoll Häuser, in denen das Leben anscheinend von Weihnachten geprägt ist: In jedem Ort gibt es mindestens einen Betrieb, der Räuchermännchen oder Schwibbögen herstellt. Wundert mich nicht, seitdem ich weiß das der Kram sogar auf echten, deutschen Weihnachtsmärkten in Japan verkauft wird. Von hier aus wird deutsches Weihnachten in die Welt exportiert! In manchen Dörfern duftet es sogar ganz intensiv nach Räucherkerzen.

Roadside attraction ist ein Räuchermännchenmuseum, vor dem der zweitgrößte Räucherkegel qualmt, den ich je gesehen habe.


Ich fahre noch einmal durch das ganze Erzgebirge und die dunklen Nadelwälder und freue mich einfach daran, einfach nur unterwegs zu sein und den Wind am Helm zu spüren.

“Uh, der ist HIER?!”, denke ich, als ich ein Schild sehe, das den Weg zum Fichtelberg weißt. Das ist ja was! Das Fichtelgebirge wollte ich doch auch immer schon mal sehen!

Was ich in dem Moment nicht kapiere: Der Fichtelberg steht gar nicht im Fichtelgebirge. Das liegt rund 130 Kilometer südwestlich, bei Wunsiedel. Aber das weiß ich in diesem Moment nicht, und jetzt freue ich mich auf den Fichtelbereg zu fahren.

Der ist ganz schön hoch, oben drauf ist ein Skizentrum. Das hat jetzt, im Juni, natürlich geschlossen, und der große Parkplatz liegt verlassen da. Nicht mal Aussicht gibt es, weil rundrum hohe, naja, eben Fichten stehen.

Unterhalb des Fichtelbergs ist ein Grenzübergang nach Tschechien. Der ist geöffnet und nicht besetzt, es finden keine Kontrollen statt. Nach den vergangenen Woche, in denen die Grenzen zwischen den europäischen Ländern geschlossen waren, bin ich erleichtert. Ich bin alt genug um mich daran erinnern zu können, was Grenzen in Europa bedeutet haben, und empfinde es als große Errungenschaft, dass sie im Schengenraum seit 1995 praktisch nicht mehr existieren. Die Corona-Pandemie hat dafür gesorgt, dass in den vergangenen Wochen Grenzen dicht waren – nun sind sie wieder geöffnet, ein Zeichen dafür, dass es andere Wege gibt mit der Seuche umzugehen.

Kaum quert die Barocca die Grenze, ist einiges anders: Straßen, Häuser, Schilder, alles sieht anders aus als ein paar Kilometer westlich. Die Straße sind sehr schmal, oft nur 1,3 spuren, und haben meist keine Markierung, die Prengel tragen rote statt weiße Reflektoren, die Schilder haben andere Farben. Mal ganz abgesehen davon, dass sie natürlich auf Tschechisch sind.

Alles ist sehr ländlich. Manchmal sieht es hier aus, wie ich mir die Highlands von Schottland vorstelle.

Ich fahre eine weite Schleife durch den tschechischen Teil des Erzgebirges. Ich habe Zeit und will einfach viel von der Landschaft sehen. Das klappt nur so mittel, meist führt die Straße durch dichte Wälder, und von Bergen oder gar Gebirge ist nichts zu sehen.

Irgendwann stoße ich auf die Elbe, der ich in Richtung Norden folge. Die Straße ist wenig befahren und überall Geschwindigkeitsbegrenzt, und so habe ich viel Zeit mir den gewundenen Taleinschnitt mit seinen vielen, recht neuen und nie all zu großen Orten anzusehen.

Bei Tetschen-Bodenbach lasse ich die Elbe allein weiterfließen und biege nach Osten ab. Jetzt geht es über kleine und kleinste Strässchen Richtung Liberec, der größten Stadt in der Region am südwestlichen Rand des Riesengebirges, das etwa auf der Höhe von Dresden, aber 120 Kilometer weiter östlich beginnt.

Kurz hinter Liberec liegt der Ort Gablonz, oder auf tschechisch Jablonec nad Nisou, Gablonz an der Neiße. Der größte Teil des 45.000 Einwohner-Orts liegt in einem Tal, die Ränder kuscheln sich an umgebende Berge.

Ich steuere die Barocca zur Südseite des Tals und dort den Berg hinauf bis fast nach oben, dann stelle ich das Motorrad an einer Straße in einem Wohnviertel ab. Von hier aus kann man den ganzen Ort überschauen, und hier ist auch eine Pension, in der ich die nächste Tage verbringen möchte. Eigentlich.

Der Wirt der Pension spricht Deutsch und erklärt mir, dass es sich für Hotels und Pensionen ja nicht lohnt, für nur einen auf zu machen. Und ich ja der einzige Gast gerade sei. Was sich ja nicht lohne. Also, für ihn. Er hat ja auch eigentlich gar nicht offen.

Ich bin leicht genervt. Ja, du Nase, denke ich, genau deshalb habe ich Dir vorher Mails geschrieben und vorsichtig gefragt, ob ihr offen habt und mich beherbergen könnt. Statt “Neh wir ham zu” kam ein “Meld´ dich kurz vorher nochmal”, als Antwort. Ja, habe ich gemacht, und jetzt bin ich hier, und nun?

Ja, Betrieb nur für mich lohnt sich ja nicht, sagt der Gastwirt, der sich als Petr vorstellt. Aber wenn ich schon mal hier sei, “Kannst Dir ein Zimmer aussuchen”. aha. Abendessen? “Musst Du woanders finden”. Ok. Frühstück? “Wann?” “Ist sieben oK? Frage ich und kriege dicke Backen und ein Kopfschütteln als Antwort. “Das ist früh. Aber ja, ist OK, ich habe ein kleines Kind, da muss ich eh´ früh raus”, heißt es dann. Ein Lehrbuchbeispiel für eine Text-Bild-Schere.

Egal, ich bin hier und, obwohl ich genervt bin, werde ich mir heute keine andere Unterkunft mehr suchen. Zumal hier die Barocca einen sicheren Unterstand hat und die Zimmer zwar zusammengewürfelt, aber groß und gut sind.

Ich lade das Gepäck ab, dann will ich in die Innenstadt fahren um ein wenig Bargeld zu organisieren und etwas zum Abendessen zu erjagen. Eigentlich dachte ich ja “Bargeld holen lasse ich mal, ich mache es wie Modnerd und zahle alles per Karte”, aber Pustekuchen. Die Unterkunft will Bares. Um an das zu kommen, muss ich in die Innenstadt. Das klappt aber nicht ohne Bargeld, denn Moppedparkplätze gibt es nicht, Falschparken wird sofort abgeschleppt, die Parkautomaten nehmen nur Bargeld. Catch 22.

Als ich in einem Einkaufszentrum am Stadtrand endlich Geldautomaten finde, sind leider drei davon defekt.
Immerhin, es gibt einen Lidl, und in dem kriege ich Fertigessen. Und man, ist das schlecht, vor allem, wenn man es kalt essen muss:

Am Abend sitze ich in meinem Zimmer am Fenster, blicke auf die beleuchtete Stadt hinab und finde alles nicht mehr so schlimm. Die Aussicht von hier ist toll, es gibt einen Motorradparkplatz, das Zimmer ist groß und wenn ich der einzige Gast im ganzen, großen Haus bin, dann kann mir wenigstens niemand anderes auf den Sacque gehen oder COVID19 einschleppen.

0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradtour (3): Ich lohn´ mich einfach nicht

  1. Ha, Dir haben leider noch ca. 2 km und 100 Hm bis zum Fichtelberggipfel gefehlt! Beim nächsten Mal den Parkplatz links liegen lassen und weiter die Straße hoch. Dann hätte es auch mit der Aussicht geklappt. 😉
    Gulasch mit Knödel scheint zu munden…

  2. Interessante Gegend. Schon mit dem Auto besucht, war eher Durchfahrt wie Intensivreise mit Möpp.
    Habe und hatte so ein Kettenschloß von Abus, höchste Sicherheitsstufe. Verschlossen und kein Schlüssel dabei.
    Mit einer Akkuflex in wenigen Sekunden durchtrennt. Seither gebe ich auf solche Sicherungen nicht mehr viel. Beim Klau reichen zwei Männer und ein Kastenwagen.
    Auch Sache von Sekunden.

  3. Rudi: Organisierte Bremsscheibendiebesbanden, GAAAAAAAnz schlümm!!

    Lukra: Ach mensch, das hätte ich vorher wissen müssen… Naja, ein Grund nochmal da hin zu fahren. 🙂

    ssuchi: Nee, für einen lohnt sich nicht. >:-(

    Ali: E sgibt ein geiles Schloss von Abus, das ist so gebaut, dass man keinen Winkel für die Flex findet um die anzusetzen. Das Ding ist super, hatte ich mir bestellt – und dann festgestellt, dass es an der V-Strom keine Möglichkeit gibt das zu befestigen. Meh.

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