Reisetagebuch Motorradtour Ost (5): Bond-Bösewicht in Rübezahls Reich

Reisetagebuch Motorradtour Ost (5): Bond-Bösewicht in Rübezahls Reich

Mittwoch, 01. Juli 2020, Jablonec nad Nisou

Im Erdgschoss der Pension im tschechischen Jablonec im Riesengebirge. Auch heute bin ich in dem großen Gästeraum der einzige Gast. Alle Tische sind leer, die Buffettwagen mit Stofftüchern abgedeckt. Wieder ist die Situation leicht surreal.

Ich setze mich an den Tisch am Fenster, auf dem heute schon ein Krug mit heißem Wasser und einem Strunk Minze drin steht. Kurz darauf kommt Gastwirt Petr mit zwei dampfenden Tellern aus der Küche, stellt einen davon vor mich hin und nimmt dann mir gegenüber Platz. Ich beäuge das Ding auf dem Teller. So ein Ei habe ich noch nie gesehen.

“Heißt “Gelegtes Ei*”, glaube ich, auf Deutsch”, sagt er. Habe ich noch nie gehört. “Wird so mit Essigwasser gemacht und gewirbelt”, sagt Petr. Aha. Sieht interessant aus.

“Weißt Du”, sagt Petr, “das es hier riesige, russische Militärflughäfen gibt? Die nicht mehr benutzt werden und langsam verfallen?” Ich horche auf. Lost Places! Das ist spannend! “Werden nicht mehr für Flugverkehr benutzt”, fährt Petr fort, “aber sie sind noch da.” Wo? Wo? Wo? ruft meine Innere Stimme. “Manchmal machen die Russen da komische Sachen”, sagt Petr. “Was denn so?”, frage ich. Petr zuckt mit den Achseln. “Wer weiß? Kommt man ja nicht hin! Ist aber alles abgesperrt und gesichert, also muss es geheim sein.” Ich bin mild enttäuscht.

Kurze Zeit später brummt die V-Strom über Land- und Dorfstraßen und dann SCHON WIEDER nach Liberec und die Kurvenstrecke hoch. Das ist jetzt das dritte mal in drei Tagen das ich hier lang fahre, aber mein Gott, gibt Schlimmeres als eine tolle Kurvenstrecke mit dem Motorrad zu fahren.

Kurz bevor die Straße auf der anderen Bergseite wieder ins Tal führt biege ich nach links auf eine kleine, aber gute geteerte Straße ab, die in den Wald und den Berg Ještěd hinauf führt. Unterwegs überhole ich Wanderer und Radfahrer, die ebenfalls auf dem Weg nach oben, aber mehr dafür zu leisten bereit sind.

Nach einigen Kilometern erreiche ich einen großen Parkplatz, auf den ich gegen zwei Euro die Barocca zurücklassen kann. Aus den Seitentaschen es Topcase fuddele ich ein winziges Knäuel, das sich zu einem ganzen Rucksack aus Ripstop-Supersil auseinanderfalten lässt. In den Rucksack werfe ich eine Wasserflasche und die Kamera hinein und töffele los, weiter den Berg hoch.

Mein Ziel liegt auf dem Berggipfel, der nur einen Kilometer entfernt ist,  aber 100 Meter höher liegt. Die Steigung ist ganz ordentlich, und mit den dicken Stiefeln, der Lederhose und der schweren Jacke bin ich bald ordentlich am Schnaufen. Aber ich habe das Ziel schon vor Augen, und das sieht aus wie das Hauptquartier eines James-Bond-Bösewichts: Der Fernsehturm Ještěd, der genauso heißt wie der Berg auf dem er steht.

Der Turm stammt aus den 60ern und frühen 70ern, zufällig genau den goldenen Zeiten für absurdes Setdesign in Bondfilmen (vgl. “man lebt nur zweimal” oder “Feuerball”), und weist eine ungewöhnliche Form auf, die eines Rotationshyperboloiden (ja, das heißt wirklich so!). Der Turm steht auf ca. 1.000 Metern, ist selbst rund 100 Meter hoch und in seinen unteren Stockwerken sind ein Restaurant mit 300 Plätzen und ein Hotel mit 14 Zimmern untergebracht.


Der Weg bietet reichlich Gelegenheit um stehen zu bleiben und die Aussicht zu genießen. Wie ein Teppich liegt Tschechien am Fuß des Berges ausbreitet, man kann heute Kilometerweit sehen.

Oben angekommen die Enttäuschung: Der Zugang zum Gelände und zum Turm ist mit Flatterband abgesperrt. Einige Arbeiter und Besucher stehen davor und warten. Ja, auf was denn? “Nur 20 Minuten, dann ist wieder offen”, sagt einer der Arbeiter. Ich nicke und setze mich in den Schatten und gucke der Seilbahn zu, die von Liberec aus hier hoch gekrochen kommt.

Eine halbe Stunde später stehen die Arbeiter immer noch am Flatterband, das die Auffahrt absperrt. Niemand tut etwas, alle warten nur. Mittlerweile stehen auch noch fast 30 Menschen davor, die mit der Seilbahn hier hochgekommen sind, vor der Absperrung. Mir reicht der Unfug jetzt, ich gucke mich kurz um, dann klettere ich an einer unbeobachteten Stelle über die Brüstung und springe.

Eineinhalb Meter tiefer komme ich auf einem schmalen Pfad auf, der unter der Straße verläuft. Links geht es fast senkrecht den Berg runtergeht.

Ich laufe einmal um die Bergspitze herum und komme an der gemauerten Aussichtsplattform an. Ein seltsames Männlein sitzt hier und hält sich die Augen zu.

Auch von hier ist der Blick toll.

Wunderbare fünf Minuten habe ich diese Aussicht für mich, dann kommen andere Besucher. Die sind mir gefolgt und laufen ebenfalls über den Pfad und um die Straße herum, mit Erlaubnis und sogar Hilfe der Bauarbeiter!

Zwanzig Minuten später wird auch das Flatterband entfernt, und nun wird es voll. Ich gehe und gucke mir den Turm an.

Der war in den 70ern bestimmt total das Luxusresort. Bis hin zu den Lampen ist hier designtechnisch alles durchgestylt und nobel und aufeinander abgestimmt, aber dooferweise hat man halt auch seit den Siebzigern hier nichts gemacht oder erneuert. Die alte Grandezza ist runtergekommen, aber immer noch in Betrieb.

In den Gängen hängen Bilder vom Turm zu verschiedenen Jahreszeiten.

Später mache ich eine Tour in und um Rübezahls Reich und brause durch das Erzgebirge.

Naja, was man so brausen nennt, an den meisten Landstraßen liegen langgezogene Dörfer, und einen großen Teil der Zeit kann ich gar nicht schneller fahren als 50. Aber das ist OK, ich habe es nicht eilig und kann mit so die Landschaft angucken, die hauptsächlich aus Wald besteht, durch den die Straße in Kurven und über Berge führt. Kleine Holzhäuschen stehen am Straßenrand.

Dir Straße ist schön und gemütlich zu fahren, und ohne Ziel cruise ich durch die Gegend, bis ich mich unversehens in Polen wiederfinde.

Guter Gott, was bauen die hier? Direkt hinter der Grenze ist eine Baustelle, die so groß ist, als würde der ganz Berg ausgehöhlt.

Mit Schildern hat man es hier nicht so, weshalb ich mir nie ganz sicher bin, wie schnell ich eigentlich fahren darf. Ein paar Stundenkilometer drüber sind ohnehin schnell passiert, denn die Straßen in Polen sind viel besser ausgebaut als Tschechien, breiter und gepflegter, und die Häuser links und rechts Häuser sind frisch renoviert oder neu gebaut, und in den Auffahrten stehen große und neue SUVs. Und die wählen hier die Faschisten von der PIS, weil sie Angst haben, dass ihnen dieser Wohlstand genommen wird? Von der gleichen EU die ihn gebracht hat? Manmanman.

Nach einer Stunde durch Polen werde ich unversehens von einem LKW gejagt. Der war elendig lang vor mir hergegurkt, und auf einem übersichtlichen, aber mit Überholverbot belegten Abschnitt war ich mit leicht überhöhter Geschwindigkeit an dem vorbei gezogen. Das hat den Fahrer merklich geärgert.

Nun hält sich der Fahrer an keine Beschränkung mehr und donnert hinter der V-Strom her, als wäre er ein Sportwagen und allein auf der Straße. In den Ortschaften, in denen Tempo 50 ist und die voller Tagesausflügler sind, rückt er mir bis auf wenige Zentimeter auf, macht Lichthupe und lässt zwischendrin auch das Presslufthorn scheppern. Das ist beängstigend.

Sofort nach Ende der Ortschaften gebe ich wieder Gas, aber egal wie klein und kurvig die Bergstraßen hier auch sind: Der LKW rast in halsbrecherischen Tempo und mit über 100 Sachen hinter mir her. Bremse ich, wächst der Koloss im Rückspiegel sofort wieder zu einem Berg an. Nein, den werde ich so nicht abhängen.

Ich tippe auf Annas Bildschirm herum und lasse mir den unmittelbar vor uns liegenden Streckenabschnitt anzeigen. Ah, da, da sieht es gut aus. Ich bremse etwas ab auf die erlaubten 70 Km/h, und sofort klebt mir der LKW wieder am Heck und hupt dröhnend. Kurz vor einer scharfen Kurve gebe ich wieder Gas und vergrößere den Abstand zum LKW, der selbst auch sofort wieder beschleunigt. Die Barocca duckt sich tief der Straße entgegen und rast um die Kurve. Der LKW ist für einen Moment außer Sicht, die Straße wird wieder gerade. Ich suche den Fahrbahnrand ab. Wo, wo, wo… ah! Genau dort, wo er in der Karte eingezeichnet ist, befindet sich ein kleiner Abzweig in den Wald!

Ach Mist. Ich hatte auf eine kleine Straße gehofft, in die ich jetzt schnell verschwinden kann, es ist aber nur ein kleiner Wirtschaftsweg, der mit einer Schranke verschlossen ist.

Ich fluche und gebe wieder Gas. Um dem roten Monster im Rückspiegel weg zu fahren müsste ich jetzt rasen wir eine besenkte Sau. Das bietet sich hier aber nicht an: Zu recht geschwindigkeitsbeschränkte, weil sehr kurvige, Streckenabschnitte wechseln sich mit Ortschaften ab, in denen erstaunlich viele Touristen zu Fuß unterwegs sind. Da kann ich nicht einfach durchheizen, und sobald ich nach Vorschrift fahre, hängt mir der LKW wieder bis auf Zentimeter am Heck. So dicht, dass ich im Rückspiegel die toten Insekten sehen kann, die an seinem Kühler kleben.

Aus dem Ort raus und wieder beschleunigen. Der LKW hängt leicht zurück. Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70. Wieder hängt er mir auf dem Rücksitz. Die Situation geht mir auf die Nerven.

Zwei Ortschaften weiter sehe ich auf einem geraden Stück eine kleine Stichstraße, die im 90 Grad Winkel abzweigt und über eine Brücke führt. Kurzentschlossen tue ich so, als wollte ich geradeaus fahren – und biege dann im letzten Moment und ohne abzubremsen abrupt nach rechts ab. Die V-Strom geht für einen Moment aus den Federn, als sie von der ebenen Hauptstraße mit 60 Sachen über eine Welle in der Fahrbahn rast. Ich trete in die Bremsen und gucke in den Rückspiegel, aber der LKW ist schon vorbeigerauscht und lässt ein letztes Mal seine Pressluftfanfare dröhnen.

Abgehängt!

Langsamer und ungehetzt fahre ich weiter, an Flüßchen entlang und um Seen herum, die malerisch in den bewaldeten Bergen liegen und in der Sonne glitzern. An einigen Seen liegen Feriendörfer aus kleinen Holzhäuschen. Die Straße führt irgendwann in die Berge und schwupps, bin ich wieder von Polen nach Tschechien gewechselt. Ich liebe das Europa ohne Grenzkontrollen.

Aus den waldigen Bergen sticht ein besonders hoher hervor. Das ist die Schneekoppe. Ich versuche bis zur Seilbahnstation zu kommen, aber leider ist ein Wintersportort davorgebaut worden und der will Geld haben, damit man nur bis zu Seilbahn hinfahren darf. Nee, so nicht. Ich fahre die Straße zurück die ich gekommen bin. Ist viel los hier, eine Menge Autos mit auswärtigen Kennzeichen. Trotz Corona ist hier die Feriensaison im Gange.

Durch die Berge fahre ich bis zum kleinen Ort Spindlermühle. Das ist auch ein Sportort und voll mit Touristen.

Ich drehe nur eine Runde und fahre weiter, jetzt am Südrand des Riesengebirges entlang, bis ich nach rund 9 Stunden wieder in Gablonz ankomme.

Meine Güte, tut mir der Hintern weh. Zu schmerzen begann er schon nach 4 Stunden. Liegt das am fehlenden Training, oder an der abgepolsterten Sitzbank? Dank weniger Polsterung kann ich die Maschine besser halten und rangieren, so hoch wie sie jetzt ist. Aber früher konnte ich den ganzen Tag fahren ohne Schmerzen. Ich muss wohl meinen Hintern mal im Auge behalten, denn für Fernreisen ist das so nichts.

Tour des Tages: Einmal durch und um das Riesengebirge, 306 Kilometer, rund 9 Stunden.


* Auf Deutsch heißt diese Art von Ei “pochiert” oder auch “verlorene Eier”.

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  1. @Silencer: Ich arbeitete und lebte ja von 1991 bis Ende 1995 in der Nähe von Dresden. Genauer gesagt in Kamenz, einer kleinen Kreisstadt zwischen Dresden und Bautzen gelegen. Vom Frühjahr an bis in den Herbst erkundete ich mit dem Motorrad ausgiebig die grenznahen Regionen unserer Nachbarn. Im Winter war ich ein paar Mal zum Langlauf in Spindlermühle und auch in der Hohen Tatra.

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