Reisetagebuch Motorradherbst (4): Philipp Lahm aus dem Senegal

Reisetagebuch Motorradherbst (4): Philipp Lahm aus dem Senegal

Tagebuch einer kleinen Motorradtour im Pandemieherbst 2020. Heute ohne Motorrad und ohne Abenteuer, dafür gibt es Sturm, Lasagne und Philipp Lahm.

Mittwoch, 23.09.2020
Ah, diese Ruhe auf I Papaveri.

Ich verschlafe den halben Vormittag und bin dann mild überrascht: Das Wetter ist ja doch ganz okay! Das ist nett, denn eigentlich sollte EXAKT an dem Zeitpunkt, als ich hier ankam der Weltuntergang beginnen. Dauerregen und Sturm, sagt die Wetterapp, und zwar genau so lange bis ich wieder abreise! Unfair!

Normalerweise ist der September in San Vincenzo noch ein Spätsommer (außer 2017, als ich hier war und das der kälteste September seit 40 Jahren war). Tatsächlich war die vergangenen Wochen hier jeden Tag Sonnenschein und Temperaturen um die 25 Grad, aber jetzt, wo ich hier bin, sieht es so aus: Jeden. Tag. Regen.

Heute habe ich aber Glück, der Regen zieht gerade im Norden und Süden an San Vincenzo vorbei. Ich packe ein Handtuch ein, kaufe im Chinaladen einen billigen Sonnenschirm und Badelatschen und fahre an den Strand.

Zwei Mal schaffe ich es ins Wasser zu springen, aber nach einer Stunde fallen dann doch die ersten Tropfen. Ich fahre zurück, lungere etwas im Appartment herum und hole Tagebuchschreiben von gestern nach. Was schön ist: Franca hat mir einen Schreibtisch in die Wohnung gestellt. “Du schreibst doch immer so viel”, hat sie per Whatsapp getextet, als ich mich dafür bedankt habe. “Aber nicht über uns schreiben!” kam noch eine Nachricht hinterher. Nein, natürlich nicht.

Vor dem Fenster kann man Elba erkennen.



Abends laufe ich das erste Mal zu Fuß im Gewerbegebiet von San Vincenzo rum. Polizeibeamtinnen schließen gerade die Garage des Ordnungsamts ab, eine Tierärztin raucht unter dem Leuchtschild der Tierklinik. Am Rande des Gewerbegiets liegt ein kleiner Supermarkt, in dem ich das Abendessen erjage.

Donnerstag, 24.09.2020
Ausgeschlafen, getankt, ab 12 Uhr Strand.

Am Strand kommt ein farbiger, schlacksiger Mann auf mich zu, die Arme voller Plastikspielzeug. Ein Strandverkäufer. Der Strand hier ist kostenlos, dafür hat er Werbeunterbrechungen in Form von Verkäufern, die hier mit Korbware, Plastikspielzeug und Teppichen herumwandern.
“Hello my friend”, sage ich freundlich. “Nice to meet you. But I won´t buy anything”.

Er freut sich, dass er mit “Freund” angesprochen wird und sagt “Friend, I am from Senegal”.
“I am from Germany”, sage ich.
“Allemande?”, fragt der Verkäufer. Er trägt ein Fußballtrikot. Keine Ahnung von welchem Verein, ich kenne mich mit Fußball kein Stück aus. “Oui, Allemande”, sage ich. “Phillip Lahm”, sagt der Verkäufer und strahlt. “Nice to meet you, Phillip Lahm from Senegal”, sage ich.
Er guckt komisch, wirkt wütend und stapft davon.

Erst am Abend raffe ich, dass das vielleicht doch nicht der Name des Verkäufers war.

Freitag, 24.09.2020
Heute Vormittag ist Arbeit angesagt. Dank schnellem Internet auf I Papaveri funktioniert es, das meine Kollegen in Deutschland im Büro sitzen und ich San Vincenzo und wir trotzedm zusammenarbeiten. Ein Verlust ist der Arbeitstag ohnehin nicht: Seit Heute Nacht tobt ein Unwetter über San Vincenzo. Der Sturm hat den Regen sogar durch Türen und Fenster gedrückt, heute morgen standen Pfützen auf dem Boden des Appartements.

Jetzt sitze ich am Schreibtisch, das Reise-Netbook ist im Zeltmodus aufgeklappt und balanciert auf einem Kochtopf. Per Videokonferenz führen wir ein Vorstellungsgespräch. Zu meiner großen Freude mit einer Bewerberin. Das ist schon die dritte sehr gut qualifizierte Frau, mit der ich mich im Rahmen einer offenen Stelle unterhalte, und die zweite mit Migrationshintergrund. Sollte das ein Trend sein, finde ich ihn völlig großartig. Es werden DRINGEND mehr qualifizierte Frauen in IT-Berufen gebraucht, und wenn die noch diverse Wurzeln und andere kulturelle Hintergründe haben, umso besser! Das bereichert die Branche, die immer noch zu sehr von weißen Männern dominiert wird.

Ich bin gerade mitten in dem Gespräch, als es an der Tür klopft. Ich entschuldige mich kurz und springe auf. Draußen steht Licio schief im Wind, mit einem abgedeckten Tablett in der Hand. “Darf ich?”, sagt er. “Ja, klar, aber ich bin gerade am Arbeiten…”, sage ich und ziehe mir schnell die FFP3-Maske über.

“Dauert nur eine Sekunde”, sagt Licio, tappst mit kleinen Schritten an mir vorbei und bugsiert das Tablett in die Küche. “Das ist heiß, heiß, heiß”, sagt er und stellt es ab.

“Also, Kinder lädt man zum Essen ein, wenn sie zu Besuch sind, aber weil unser deutscher Sohn es ja anscheinend für “zu gefährlich” hält mit uns Mittag zu essen”, er macht eine Pause und rollt mir den Augen, grinst dabei aber, “hat Franca das hier für Dich gemacht.” Er zieht das Tuch vom Tablett, darunter kommt eine Auflaufform mit Lasagne zum Vorschein.

“Woah! Danke!”, sage ich und freue mich. Dann gucke ich zum Rechner, der mit eingeschalteter Kamera genau in Sichtweite steht. Wenigstens ist das Mikro gemutet. Glaube ich.

“Also, das ist Lasagne al Forno, typisch italienisch, da sind Tomaten drin und Pastablätter und…”, sagt Licio. “Ich liebe Lasagne, Licio, wirklich, ganz herzlichen Dank, aber ich muss da wirklich noch was arbeiten.” “OK, aber vergiss das Essen nicht”, sagt der alte Herr und zwinkert, dann geht er.
Lasagne! Eine ganze Auflaufform Lasagne!! Nur für mich!!!

Ich kehre an den Schreibtisch zurück und schalte die Mikro wieder ein. Zwei meiner Kollegen und die Bewerberin haben die Lasagneszene genau mitverfolgt. “Entschuldigen Sie die Unterbrechung”, sage ich. “Mich hat gerade Lasagne ereilt, aber natürlich ist das hier wichtiger. Bitte, fahren Sie fort.”

Ich kann schwer sagen ob die Bewerberin irritiert ist oder nicht, dazu ist ihre Verbindung zu schlecht. Außerdem bin ich abgelenkt, denn über das Feld, das zwischen I Papaveri und dem Meer liegt, fliegt gerade polternd und scheppernd das Blechdach eines Gartenschuppens. Das fliegende Dach wird von einem Mann verfolgt, der es versucht wieder einzufangen.

Der Sturm jammert und mault um das Haus, manchmal klatscht der Regen gegen das Dach und minutenweise scheint die Sonne. Nachdem die Vorstellungsgespräche durch sind, schließe ich die Sturmklappen an Fenstern und Türen und mummele mich ein. Ich muss nicht raus, ich habe Lasagne, Internet und “Uva Globe Red”:

Und außerdem bin ich ja ohnehin hier, um mich vor der Welt zu verstecken. Das kann ich auch mit einem Buch im Bett tun.

Samstag, 25.09.2020
Ach, das ist ja hübsch, Sonnenschein! Ich greife mir das Topcase, wische die Barocca trocken und fahre einfach los. Das schlechte Wetter hatte auch sein Gutes: Das Motorrad ist jetzt nicht mehr weiß, der heftige Regen der letzten Tage hat den Marmorstaub aus Carrara abgewaschen.

Nördlich von San Vincenzo, in einem Dreieck zwischen der Küstenstadt Livorno im Westen, Pisa im Norden und Volterra im Osten liegt eine weite Hügellandschaft mit Feldern, die umgrenzt wird von Bergketten.

Den rollenden Hügeln fehlt das, was man typischerweise mit Toskana assoziiert, nämlich die alten Bauernhäuser mit den zypressengesäumten Auffahrten, wie man sie südlich von Siena findet. Jetzt, im Herbst, ist das Land schon gepflügt, und statt wogender Kornfelder sieht man nur graue Hügel.

Immerhin gibt es an den Bergen noch viel Grün. Einen bunten Herbst, so wie in Deutschland, kennen hier die meisten Baumarten gar nicht. Entweder grün oder vertrocknet, dazwischen gibt es nichts.

Ich besuche “Le Grazie”, das Anwesen, wo ich vor 10 Jahren das erste Mal übernachtet habe.

Damals, als ich nur hier her gekommen bin, um die Orte aus dem Spiel “Assassins Creed II” sehen wollte. “Le Grazie” fand ich so toll, dass ich dann noch zwei Mal hier war. Hier war es, wo ich das Motorrad im Schotter der Auffahrt gelegt habe und mir ein Wikinger beim wiederaufrichten helfen musste.

Das Anwesen gibt es noch, aber es ist geschlossen und sieht verwahrlost aus. Nicht so verwahrlost als wäre hier gar nichts mehr los, aber als Pension wird das hier mit Sicherheit nicht mehr genutzt.

Immerhin ist der Ausblick von Parrana San Giusto schön.

Ich kurve einmal durch die Hügellandschaft, dann fahre ich nach San Vincenzo zurück.

Der kleine Badeort ist nicht leergefegt, aber es sind doch deutlich weniger Menschen unterwegs als sonst. Man merkt, das Nebensaison plus Pandemie ist. Immerhin: Alle Geschäfte haben Markierungen für Abstände und Laufwege sowie Desinfektionsspender, und ausnahmslos jede Person – egal ob im Verkauf oder KKundschaft – trägt eine FFP-Maske.

Am Hafen strampeln um die 100 Leute auf Spinnigbikes und werden abwechselnd von drei Animateuren angebrüllt, aber ansonsten ist wirklich gar nichts los.

Die Innenstadt ist schmuck rausgeputzt, aber die Geschäfte haben wenige Besucher, trotz Zugangsbegrenzung, Abstandsgebot, Maskenpflicht und Desinfektionsspendern überall.

Es gibt übrigens auch eine italienische Corona-App, die auf meinem Telefon schon seit letzter Woche läuft. Die ist auf Deutsch übersetzt und lässt sich besser bedienen als die Deutsche.

Am Abend packe ich meine Sachen. Morgen geht es weiter, von San Vincenzo in das Land der Bären und Wölfe. Als Franca das hört, guckt sie erstaunt. “Ok, wenn Dich ein Bär frisst, schick mal ein Foto”, sagt sie lachend.

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