
Reisetagebuch Motorradherbst (5): Hände wie Mülltüten
Reisetegabuch einer kleinen Motorradtour im Pandemieherbst 2020. Heute leidet die Barocca, ich habe Hände wie Mülltüten und der Helm stirbt.
Sonntag, 27. September 2020, San Vincenzo
Über der Bergkette vor San Vincenzo geht eine violette Sonne inmitten von Wolkentürmen auf. Das Unwetter hat die ganze Nacht hindurch gewütet. Das Regengebiet, das vom Meer über San Vincenzo hinweggezogen ist, hat den Sturm mit vorher nicht dagewesener Intensität wiederbelebt und Unmengen an Regen mitgebracht. Fast die ganze Nacht klapperten die Fensterländen von I Papaveri, Wasser rauschte durch die Dachrinnen und Regen klatschte draußen auf´s Pflaster. Im Wohnzimmer ist wieder Wasser durch die geschlossenen Türen gedrückt worden. Erst vor einer Stunde hat es aufgehört zu regnen. Jetzt stürmt es nur noch, und über dem Meer ballt sich schon die nächste Regenfront zusammen.
Die Temperatur ist über Nacht um fast 15 Grad gefallen und hängt nun bei einstelligen 8 Grad. Brrr. Und nicht nur das: Über ganz Mittelitalien zeigt die Wettervorhersage eine dicke Wolkendecke und Regen. Nunja, das werden wir sehen. Ich fahre heute einmal quer über den Stiefel und durch Bergregionen, da kann es ja nicht die ganze Zeit regnen, oder? Oder??
Ich mache mich fertig, schiebe das Motorrad vor das Tor und hänge das Gepäck ein, dann folgt ein letzter Rundgang durch La Conchiglia und ein Blick vom vorderen Balkon auf die startbereite V-Strom.
Schließlich lege ich die Schlüssel zum Appartement sorgfältig auf den Küchentisch und ziehe die Tür zu.
Vor dem Tor klettere ich in den Sattel. Ich entscheide mich dagegen die Regenkombi anzuziehen. Irgendwann heute werde ich nicht drum rumkommen, aber mal schauen, wie lange ich es rauszögern kann.
On the Road again! Die Barocca cruist über die Strada Statale 1 in Richtung Süden. Die Luft ist kühl, aber angenehm frisch, und ich genieße die Fahrt auf der nahezu leeren Straße. Sonntag Morgens um kurz nach 8, wer ist da schon unterwegs?
Leider währt das Vergnügen nicht lang. Schon nach einer Stunde, auf Höhe von Grossetto, beginnt es zu regnen. Erst wenig, und ich fahre an mehreren Haltemöglichkeiten am Rand der Schnellstraße vorbei in der Hoffnung, dass das gleich wieder aufhört. Tut es leider nicht, im Gegenteil. Von jetzt auf gleich legt der Regen so richtig los, und NATÜRLICH kommt jetzt über zehn Kilometer keine einzige Haltebucht und keine Tankstelle mehr.
Ich sitze hinter dem Lenker und fluche aus vollem Hals, während fette Regentropfen rasend schnell die Jacke durchtränken. Normalerweise gibt es auf dieser Straße alle 1000 Meter eine Haltebucht, aber jetzt natürlich nicht. Kilometer um Kilometer ziehen vorüber. Ich merke schon, wie mir Wasser am Hals runterläuft, aber immer noch keine Möglichkeit zum Anhalten in Sicht. Nee, so nicht!
Ah, da, eine Einfahrt zu einem Feldweg!
(Folgende Bilder von Streetview, deshalb Sonnenschein. Bitte bei Regen vorstellen.)

Die Einfahrt sieht nicht ideal zum Anhalten aus, aber ich muss jetzt die Regenkombi anziehen, sonst bin ich gleich klitschnass, und das geht nicht, wenn ich noch 8 Stunden Fahrt vor mir habe.
Ich bremse scharf und steuere in die Einfahrt. Der Untergrund ist uneben und besteht aus brökeligen Teerklumpen. Dooferweise habe ich von der Straße aus nicht gesehen, dass die Einfahrt nicht nur abschüssig ist, sondern auch Stufen im Belag hat. Als das Motorrad zum Stehen kommt und ich mich abstützen will, tritt mein rechter Fuß unerwartet ins Leere, und die Maschine kippt ruckartig zur Seite. Als mein Fuß endlich Kontakt mit dem Boden bekommt, ist die Suzuki in einer solchen Schräglage, dass ich sie nicht mehr in der Senkrechten halten kann.
“NEIN” presse ich noch zwischen den Zähnen hervor, da liegt das Motorrad schon am Boden. Da mein rechtes Bein Bodenkontakt hatte, kann ich einfach mit dem linken einen langen Schritt über den Sattel hinweg machen und stehe nun neben der Maschine. Die Suzuki kippt noch ein wenig weiter, so, dass die Räder praktisch in die Luft zeigen. Der Lagesensor der Maschine merkt, das etwas nicht stimmt und schaltet den Motor ab. Sie liegt mit dem Sattel ins Gefälle rein, schlimmer geht es nicht, und habe noch das fiese Knirschen von Kunststoff und Metall auf Stein im Ohr, das den Umfaller begleitet hat.
Ich bin fassungslos. Ey, das kann doch jetzt nicht passiert sein! Meiner erster Gedanke ist: Ich gehe wieder ins Bett, das ist mir zu anstrengend hier, tschö.
Während mein Hirn sich noch weigert zu verstehen, dass das 230 Kilo schwere Motorrad plus 30 Kilo Gepäck hier quasi mit den Rädern nach oben in einem Feldweg rumliegt, übernimmt der Körper und fährt den Notfallplan für diese Situation.
Einer meiner Fahrlehrer bei einem Sicherheitstraining hat mal gesagt: “Macht Euch Pläne. Legt Euch im Geiste Pläne zurecht für jede Situation, in die ihr kommen könnt. Stürze. Unfälle. Oder was ihr tut, wenn euch unvermittelt jemand die Vorfahrt nimmt und der Einschlag unvermeidbar ist. Wenn ihr auf Touren unterwegs seid, habt ihr viele Stunden, um im Kopf immer wieder und wieder diese Pläne durchzugehen. Wenn es dann soweit ist, und ein Ereignis tritt ein, dann müsst ihr nicht lange überlegen sondern ihr haltet Euch einfach an den Plan, den ihr Euch gemacht habt!”
Das habe ich beherzigt, und noch bevor ich bewusst begreife was ich mache, habe ich die Handschuhe ausgezogen und drücke ich auf die Schnallen der RokStraps, die die Koffer und das Topcase zusätzlich sichern. In hohem Bogen fliegen die gummigespannten Gurte auseinander, dann krame ich mit zitternden Fingern die Kofferschlüssel hervor und nehme Topcase und den linken Koffer ab. An den zweiten Koffer komme ich nicht heran, da liegt gerade ein Motorrad drauf.
Die Suzuki liegt auf der rechten Seite auf Koffer und Lenker. Ohne Hilfe wird es schwer, die Kiste wieder aufzurichten, weil sie nicht nur wieder in die Senkrechte, sondern auch über das Gefälle gehoben werden muss.
Ich habe auf dem Trainingsplatz mal eine GS so in einen Hang gelegt. Um die wieder allein aufzurichten, musste ich das Motorrad einmal am Boden liegend auf der Fußraste drehen – was funktioniert hat, aber eine Seite der Maschine war daraufhin völlig hinüber, das würde ich meiner Barocca gerne ersparen.
Egal, Worst Case ausmalen bringt nichts, ich muss es probieren. Ich stelle mich rückwärts ans Motorrad, gehe in die Knie und greife mit der linken Hand den Gasgriff und mit der rechten Hand den Gepäckträger oberhalb des Koffers. Dann strecke ich langsam die Beine, als wenn ich aus einer Kniebeuge hochkomme. Fast augenblicklich kippt die V-Strom über ihren Sturzbügel ein gutes Stück auf die andere Seite, und die Reifen berühren wieder den Boden.
Ich drücke den Hintern in den Sattel, stemme die Stiefel gegen den Boden und trippele mit kleinen Schritten rückwärts, dabei strecke ich ein wenig die Beine. Langsam hebt sich Motorrad vom Boden, und Sekunden später steht es wieder in der Senkrechten. Woah, das war erstaunlich einfach!
ICH. DEPP.
Wenn man ein Motorrad aufhebt, das auf die rechte Seite gefallen ist, dann sollte man vorher den Seitenständer auf der linken Seite ausklappen. Dann kann man die Maschine einfach darauf abstellen. Wenn man das nicht macht, so wie ich gerade, dann steht man wie ein Trottel auf der verkehrten Seite der Maschine und guckt doof aus der Wäsche. Man Man Man. Und nun?
Einmal um die Maschine rumlaufen und sie dabei versuchen mit einer Hand in der Balance zu halten? Glücksspiel ob das klappt, zumal sie wegrollen kann, denn ich habe auch vergessen einen Gang einzulegen. Ok ich hatte einen Plan, er war nur nicht besonders vollständig.
Ich beuge mich über den Sitz und versuche den Seitenständer mit einem Arm zu erreichen, aber das klappt nicht, das Motorrad ist zu groß und ich zu klein und außerdem stehe ich im Gefälle. Ich lege ich mich quer über den Sattel und mache mich lang und länger bis die Wirbelsäule knackt und ich auf Zehenspitzen balanciere, immer mit einer Hand die Handbremse haltend. Fehlt, noch, dass ich in er Position zur anderen Seite umfalle. Aber dann bekomme ich den Ständer mit den Fingerkuppen der linken Hand zu fassen und kann ihn Millimeter für Millimeter rausschieben, bis er von selbst ausklappt.
Die Barocca sinkt auf den Ständer und steht, und ich stehe stoßatmend neben der Maschine im Regen.
Dann schiebe ich das Motorrad so, dass sie auf dem Bröckelasphalt einigermaßen gerade steht und untersuche sie auf Schäden. Oberflächlich: Keine. Anscheinend ist das Motorrad wirklich “nur” auf den verstärkten Handprotektor und den Koffer gefallen. Der Koffer hat einen kleinen Kratzer, der Protektor ebenso, aber genau für sowas hier ist der halt gemacht. Wenn jetzt nicht das Gepäcksystem oder der Lenker verzogen sind, ist das alles noch glimpflich abgegangen.
Ich versuche in meinen Körper reinzuhören, ob der sich irgendwas gezerrt hat, aber da rauscht gerade nur das Adrenalin. Sich Dinge zerren und dann schlimmen Muskelkater bekommen, dass passiert nahezu jedem Moppedfahrer beim ersten Umfaller. Aus Reflex versucht man die Maschine nämlich immer aus dem Rücken heraus zu heben, und das Resultat reicht von schlimmem Muskelkater bis hin zu ausgerenkten Rücken. Aber wenn man die Maschine rückwärts und aus den Beinen heraus hochstemmt, hat man viel Kraft und, mit etwas Glück, keine Folgeschäden*.
Ich hänge Koffer und Topcase wieder ein und sichere sie mit den Spanngurten, dann klippe ich die kleine Tasche auf, die seit Neuestem auf dem Soziasitz der V-Strom befestigt ist. Ich hielt es für eine gute Idee, bei dieser Fahrt die Regenkombi immer griffbereit zu haben. Und noch etwas ist in der Tasche, etwas, das ich schon seit vielen Jahren nicht mehr auf Touren mitgenommen, geschweige den benutzt habe: Überhandschuhe. Darin hat man kaum noch einen festen Griff, aber immerhin ist alles wasserdicht eingepackt.
Zum Vergleich: Das hier sind meine Hände in den gut gefütterten Handschuhen, so wie ich die normalerweise trage:
Und das hier sind die dicken Handschuhe in den Überhandschuhen. Damit kann ich kaum noch greifen oder Schalter oder Hebel am Lenker bedienen. Hände wie Mülltüten eben, echt nur für extreme Situationen:
So verpackt klettere ich wieder in den Sattel und prüfe den Lenker. Sieht OK aus, zumindest nicht grob verbogen. Mittlerweile gießt es in Strömen, auf den Instrumenten steht schon das Wasser. Anna, wie sehen denn die Wetteraussichten entlang der Route aus?
Aha. Nicht so supi. Ich starte den Motor und manövriere das Motorrad aus dem Bröckelweg heraus und zurück auf die Schnellstraße. Nach 300 Metern entfährt mir ein lautes. “WAR. JA. KLAR.” – direkt hinter der nächsten Biegung der Straße hätte ein großer, ebener, schön zementierter Parkplatz gelegen.
Nach 150 Kilometern, die wie im Flug vergehen, geht es von der Straße parallel zur Westküste ab und ins Landesinnere.
Ich hoffe den Regen hier zu verlieren, aber die Hoffnung ist tatsächlich nur gering. Der Regen ist nämlich das, was man in Deutschland “ergiebigen Landregen” nennt. Das ist so Regen, der es nicht eilig hat und der sich benimmt wie ein ungebetener Gast. Er kommt mit dreckigen Schuhen ins Wohnzimmer, pflanzt sich in den Lieblingssessel, legt die Beine hoch, macht es sich gemütlich und will nicht mehr gehen. So auch hier: Unverändert stark prasselt der Dauerregen herunter, und so weit ich schauen kann, hängt über dem Land eine geschlossene Regendecke.
Hätte ich nicht gedacht. Ich hätte angenommen, dass es nicht die ganze Strecke regnen kann, aber da habe ich mich wohl getäuscht.
Außerdem habe ich noch ein anderes Problem: Ich muss mal. Aber wo anhalten, wenn es so stark regnet? Müsste ja was mit einem Dach sein, damit ich mich geschützt auspacken kann. Ansonsten bin ich auch auf der Innenseite nass. Tja. Leider findet sich keine alte Scheune oder sowas am Wegesrand.
In meinem Hinterkopf springt eine kleine Erinnerung auf und ab und hält ein vergilbtes Foto hoch, auf dem der Orteingang von Tuscania zu sehen ist.
Als ich dort vorbeifahre weiß ich auch, was die Erinnerung mir mitteilen wollte. Hier steht eine Ruine eines zwar fertig gebauten, aber nie in Betrieb genommenen Ladengeschäfts mit großen Vordächern. Ideal zum Anhalten und für eine Entleerungspause, aber leider ist das Grundstück mittlerweile umzäunt, sonst wäre das wirklich perfekt für einen Stop gewesen.

So fahre ich weiter, mit drückender Blase. Zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden. Zwischendurch Tanken. Nach 5 Stunden komme ich durch Antrodoco, das an der Grenze zwischen dem Latium und den Abbruzzen liegt. Von hier geht es über mehrere Serpentinen in die Berge.
Zur Erinnerung: Antrodoco ist der Ort am Fuß des Berges, wo Forstschüler eine Wald in Form der Buchstaben DVX gepflanzt haben, der den “Duce”, den Faschisten Mussolini, grüßt. Kann man auch auf dem Foto hier sehen:
Mir tut mittlerweile alles weh, weil ich völlig verkrampft sitze. Durch das konzentrierte Fahren im starken Regen bin ich ohnehin angespannt, dazu kommen die Kälte durch Regen und Fahrtwind und die volle Blase. Ich weiß, dass jetzt eine heftige Strecke mit Serpentinen und einer starken Steigung kommt und dann drei Parkplätzen in Folge. Ah, da sind sie – Regen hin oder her, ich muss jetzt einfach.
Ich stelle die Barocca ab, entblättere mich zur Hälft aus den Regenklamotten und lasse laufen. Ah, meine Güte, tut DAS gut!
Der Regen läuft mir in den Kragen und über die Brust, und schnell sehe ich zu, dass sich die vielen Schichten meiner Klamotten wieder geschlossen bekomme.
Erst jetzt registriere ich erst, wie kalt der Regen eigentlich ist. Wieder am Motorrad gucke ich auf das kleine Thermometer im Cockpit, das entweder wegen des Regens oder der Kälte kaum ablesbar ist. Was steht da, 4 Grad???
Und das ist erst der Anfang. Als ich hinter L´Aquila in die Berge fahre, sinkt die Temperatur kontinuierlich weiter. Meine Hände sind mittlerweile eiskalt, denn durch die Überhandschuhe und die dicken Handschuhe geht nur noch wenig Wärme von der Griffheizung durch.
Eigentlich wollte ich über die Hochebene der GranSasso-Gebirgskette fahren, aber das lasse ich besser bleiben. Zum Glück kenne ich die Gegend gut genug um einmal um das Gebirgsmassiv herum navigieren zu können.
So oder so muss ich aber dafür über den Cappanelle-Pass, und der liegt auf 1.350 Metern. Schon auf dem Weg dorthin zittere ich stoßweise, trotz der zwei Schichten Merinokram, dem Fahreranzug und den Regenklamotten darüber. Die Nässe und der Fahrtwind sorgen ohnehin schon dafür, dass ich seit Stunden auskühle, und nun fällt die Temperatur immer weiter.
Und nicht nur das: Bei der kurzen Pause habe ich gemerkt, dass das Wasser durch den Spalt zwischen Regenhose und -Jacke hindurchsickert. Nur ganz wenig, Tropfen für Tropfen, aber das hat trotzdem dazu geführt, das sich zuerst die Jacke des Fahreranzugs und jetzt die Schichten darunter langsam mit eiskaltem Wasser vollsaugen. Ich spüre die Nässe nur nicht mehr, ab einem gewissen Grad fühlen sich Kälte und Feuchtigkeit genau gleich an.

Als ich den Pass erreiche, zeigt das Thermometer Null Grad an. Hier oben ist es sehr windig. Zum Glück schneit es nicht, aber der Regen ist nun wirklich eiskalt. Beschleunigt vom Wind fühlt es sich an, als würde ich mit kleinen Eisstücken beschossen. Das Zittern kommt nun in regelrechten Spasmen, bei denen ich mich total verkrampfe. Ich gefriere hier gerade zum Eiswürfel! Auf schlechtes Wetter war ich vorbereitet, aber nicht auf so tiefe Temperaturen in Kombination mit Dauerregen.
Ab jetzt geht es wieder bergab, erst langsam, dann schneller. Die Strecke ist kurvig und bei trockenem Wetter ein wahres Vergnügen, aber nun fahre ich sie sehr langsam, mit 50 bis maximal 70, oft auch noch wesentlich langsamer. Mag ja sein, dass die Tourance-Next Reifen super für Regen sind, aber bei so starkem Regen und Temperaturen um den Gefrierpunkt muss ich nun wirklich nicht austesten, wo deren Grenzen sind.
Um die Berge herum liegt Teramo, das größte Dorf in der Gegend. Kurz vorher, da bin ich mir sicher, kommt nochmal eine große Tankstelle. Ah, da ist sie schon! Die Barocca hat zwar seit dem letzten Tankkstopp kurz vor Viterbo erst wieder 250 Kilometer auf der Uhr, aber nun geht es in spärlich besiedeltes gebiet, da will ich vorher nochmal Bezin aufnehmen.
Leider weigert sich der Tankautomat meine Kreditkarte anzunehmen (“Nur einheimische Bankkarten!”), also fummele ich mein Portemonnaie aus der Jackentasche und schiebe einen Geldschein in den Automaten, den der prompt wieder ausspuckt. Was zum… Moment mal… der Geldschein ist ja auch klitschnass! Habe ich mit meinen steifgefrorenen Fingern gar nicht gemerkt. Ich kann froh sein, dass der Automat sich nicht daran verschluckt hat.
Umgekehrt gebe ich mich aber auch nicht geschlagen. Fluchend nehme ich den linken Koffer ab, lege ihn auf den Boden und wühle mich durch meine wasserdicht verpackte Unterwäsche. Ah, da! In einem Paar Socken ist eine kleine und vor allem trockene Bargeldreserve. Ich füttere den Automaten mit dem Sockengeld, und endlich fließt Benzin in den Tank der V-Strom. Als er bis zum Rand voll ist, sind die 20 Euro noch lange nicht aufgebraucht. Die Schleichfahrt hat wohl dafür gesorgt, dass die Barocca ordentlich unter 4 Litern verbraucht hat. Egal, ich pfeife auf die 4 Euro, die ich der Tankstelle jetzt schenke. Hauptsache ein voller Tank.
Ich ziehe die mülltütigen Überhandschuhe aus, weil ich gleich mehr Sicherheit beim Zugreifen brauche, dann gucke mir das Motorrad an. Das Wasser steht in jedem Winkel des Fahrwerks, auch die Kette ist ordentlich gespült und beginnt Rost anzusetzen. Über die Schaltfläche am Lenker erhöhe ich den Ausstoß des Kettenölers.
Dann geht es so richtig in die Berge, über die Westseite des Gran Sasso.
Es gibt nur noch keine Ortschaften, die mal aus drei, mal aus vier Häusern bestehen. Das reicht schon, um einen Namen auf der Landkarte zu bekommen. Anna führt uns zwei Mal auf Wege, die ich mich weigere zu fahren – selbst die richtigen “Straßen” hier sind nur eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern, Absenkungen und Rissen, die aktuell gerade von Wassermassen und Schlamm überspült werden da muss ich nicht auch noch über unbefestigte Feldwege fahren um drei Minuten abzukürzen.
Selbst die geteerten Wege hier oben sind echt unglaublich. Teilweise sehr steil, und jetzt gerade auch noch zusätzlich mies durch Erdrutsche und Überspülungen.
Tatsächlich macht mir das alles nichts, denn ich weiß: Ich kann das, und: Die V-Strom hält das aus. Alte DL 650s hatten oft das Problem, dass im Dauerregen die Zündkerzen Wasser abbekommen und förmlich ersoffen sind. Aber die Barocca ist eine eine DL650 A aus der Bauserie L0 von 2010. Ihr Design ist noch das der alten K-Serie, die von 2004 bis 2009 gebaut wurde, aber sie steht an der Spitze der Evolution dieser Baureihe und hat solche Kinderkrankheiten nicht mehr.
Ich bin ein Eiswürfel und steuere nur noch stoisch über Asphaltversatze und um Pfützen und andere Hindernisse herum soweit möglich. Trotzdem gibt es immer wieder Stellen, an denen die Maschine durch leichte Furten muss oder über Erdrutsche hinweg oder über Äste, die quer über den Wegen liegen. Ein Straßeneinbruch ist so tief, dass das Wasser bis zur Radnabe geht und beim Durchfahren über die Stiefel spült.
Später wird die Straße wieder etwas besser, aber es regnet jetzt so stark, dass der Regen in Wellen über die Fahrbahn spült.
Ich behalte die Anzeige des Navis, auf dessen Bildschirm das Wasser steht, im Auge. Noch 29 Kilometer, noch 40 Minuten. Noch 30 Minuten. Noch 20 Minuten. Nein, DEN Weg fahre ich nicht. Ok, wieder 30 Minuten. Man Man Man. Mittlerweile haben sich die Lederhandschuhe mit Wasser vollgesogen. Dank der Membran sind meine Finger noch trocken, aber es fühlt sich an, als hätte mir jemand mit Wasser gefüllte Tafelschwämme um die Hände gebunden.
Noch 5 Kilometer. Hm. Warum steht da “Straße verlassen?” Noch bevor ich mir Gedanken darüber machen kann, höre ich plötzlich ein vertrautes Geräusch im Helm. Es ist der “Beep”-Sound, den die Tasten für das Bluetooth-System an der Helmseite machen, wenn man sie betätigt. Ich höre den Sound einmal, dann zweimal, dann klingt es, als ob jemand in rasender Geschwindigkeit alle Tasten hintereinander bedient. Der Helm versucht jede Tasteingabe mit seiner etwas dulllig klingenden Sekretärinnenstimme zu bestätigen, kommt aber nicht hinterher – “Settingmode-Connectionestablished-Settingmode-Up-Up-Up-Down-Louder-Connection-Intercom-Setting-…” bis er plötzlich “FM Radio on” sagt und verstummt. Ich lege den Kopf schief und denke noch “WTF?”, als plötzlich in ohrenbetäubender Lautstärke eine italienische Arie durch die Lautsprecher dröhnt.
Ich mache eine Vollbremsung und reiße mir den Helm vom Kopf. Ich sehe gerade noch, wie das Bluetooth-Panel und die rote Notbremsleuchte an der Rückseite flackern, dann sagt der Helm laut “Good Bye” und geht einfach aus.
Na super. 2013 ist mir hier in den Bergen der Helm verreckt weil die Batterie leer war, nun stirbt er den Tod durch Ertrinken. Ich setze den Helm wieder auf und gucke auf´s Display des Navis. Das zeigt nur noch “Straße verlassen” und zeichnet eine gerade Linie von meinen Standort irgendwo in die Landschaft. Problem ist nur: Da, wo ich die Straße verlassen soll, ist kein Weg, nur ein Berghang und Bäume.
Nee, so nicht! Ich rufe Annas Zieleingabe auf und zippe mit regenschweren Handschuhen “Roccafinadamo” ein, aber den Ort kennt die Garmin-Datenbank erst gar nicht. Sind ja auch nur zwei Häuser. OK, dann anders. Ich bin mir sicher ich hatte für Notfälle irgendwo die Koordinaten… ah, da. Ok. Dachte ich es mir.
Ich fahre weiter, und nach zehn Minuten finde ich eine Einfahrt zu einem kaputten Weg, den ich wiedererkenne. Vorsichtig fahre ich ihn entlang, und nach einige Kurven schon sehe ich ein vertrautes Haus.
Es geht steilen Berg hinunter, um eine enge Kurve voller Schlamm, dann noch um zwei Stellen herum wo die Straße weggebrochen und alles notdürftig aufgeschüttet wurde und noch eine irre Steigung wieder hoch und SCHON stehe ich vor einem winzigen Gasthof. La Vecchia Fontana.
Kaum bin ich zum Stehen gekommen und habe den Helm abgenommen, da hält ein alter Opel neben mir und Mauro, der Chef des Agriturismo, springt heraus. “Los, komm”, ruft er und eilt durch den Regen auf eine Scheune zu. Er schiebt das Tor auf und bedeutet mir, ich solle das Motorrad hineinfahren.
Leider ist die Scheune eher ein Schuppen und vollgestellt mit Traktoren und Mähaufsetzen, da ist nicht genug Platz für die große Suzuki. “Doch, komm, dass passt schon!”, ruft Mauro und winkt ungeduldig, aber als ich so weit reingefahren bin wie es geht, steht die Hälfte des Motorrads immer noch draußen und ICH stehe genau unter der Dachtraufe, von der ein Wasserfall herunterfällt und mir genau auf den Kopf platscht und dann in den Kragen läuft. “OK, die ist größer als ich dachte”, sagt Mauro und hilft mir dann, das Motorrad rückwärts wieder nach draußen zu schieben.
Die Maschine muss draußen und im Regen bleiben, aber ich bringe meine Koffer ins Innere des kleinen Wirtshauses und bekomme erst einmal einen Caffé zum Warm werden. Dann beziehe ich mein Zimmer, das gleiche (die Nummer 5, “Girasole”) wie beim letzten Mal. Ich war nämlich schon einmal hier, 2013 war das. Das Zimmer ist OK, wenn auch winzig und obwohl der Lüfter im Badezimmer hat einen Lagerschaden hat und vor sich hin rumpelt.
Im Reisegepäck ist eine kleine Wäscheleine, die ich nun raus hole und quer durchs Zimmer spanne, um dann die Klamotten zum trocknen aufzuhängen. Ist auch wirklich ALLES nass, nur die guten Daytona-Stiefel haben dicht gehalten. Die Airbag-Jacke muss in der Dusche hängen, da tropft ein stetiger Strom schmutzigen Wassers raus.
Meine gesamte Barkasse ist auch nass. Den gesamten Geldbestand den ich für weitere zwei Wochen Miete, Essen, Tanken usw. für diese Reise dabei habe liegt zum trocknen in der Fensterbank.
Am Abend werde ich dann für alles entschädigt. Im Gastraum des kleinen Hofes gibt ein Festmahl und ich bin froh, den Tag heute überstanden zu haben. Sieben Stunden in eisigem Regen mit voller Konzentration Motorrad fahren, das zehrt.
Ich bin nicht ganz allein, außer mir sitzen am anderen Ende des Raumes noch vier Rentner, die sich angeregt unterhalten. Ich ignoriere die und widme mich ganz meinem Essen. Also Vorspeise gibt es Käse und Wurst aus eigener Produktion, dazu Zucchinisalat. Der Primo sind Tagliatelle mit Karotten und als Secondo gibt es gebratenes Irgendwas mit Bratzkartoffeln und Bohnengemüse.
Nach diesem Megaessen falle ich auf´s Bett und schlafe vor Erschöpfung sofort ein.
Tour des Tages: Von San Vincenzo durch die ganze Toskana, dann über Tuscania, Viterbo, Terni, Rieti und L´Aquila, dann um den Gran Sasso herum nach Teramo, von dort die letzten Meilen über Basciano, Scipione, Bisenti bis nach Roccafinadamo. 455 Kilometer, hat insgesamt 9,5 Stunden gedauert, davon 7 Stunden in Eisregen.
* Wer sich anhand meiner Beschreibung nicht vorstellen kann, wie man ein Motorrad rückwärts und aus den Beinen wieder aufhebt, dem sei dieses Video empfohlen. Ab 3:15 zeigt eine zierliche Frau wie sie eine Harley hebt.
0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradherbst (5): Hände wie Mülltüten“
LOL – wie sehr ich doch beim Lesen mit dir gelitten habe. Das stoische Aussitzen der Kilometer, dieses “WTF mache ich hier”, kurz vor dem beginnenden Gelächter des Wahnsinns.
Und die GS, die mit den Rädern hangaufwärts lag war in meinem Fall meine eigene an einem Deich. Lehrgeld 🙂
Als du die Barocca hochstemmst denke ich nur: “hoffentlich hat er den Ständer draußen und den Gang drin” … und dann kommt es schon. Ich lache immer noch 😉
Je nach Lage funktioniert das Heben über den eingeschlagenen Lenker aus der Kniebeuge heraus auch ganz gut, muss man aber bei aufpassen.
Wenn du mal was für uns für’s Kradblatt schreiben möchtest, melde dich per E-mail 😉
Kradblatt: Hehe, ich bin also nicht allein mit dem Seitenständer-Fehler 🙂
Dankeschön für das Angebot, das freut und ehrt mich! Wenn ich mal was besonders habe, melde ich mich gerne. Falls Du umgekehrt mal ein Thema hast bei dem Du denkst, da könnte ich was zu machen – gerne Bescheid geben!
Heieiei, was für eine TorTour. Regen is ja o.k., aber Kälte mag ich so garnicht und Du hattest beides gleichzeitig, Erschütternd.
LIEBEn Gruß
Was eine Tour. Flachlegen kann ich meine auch mit Lockerheit. Z.B. im Stand wegen Seitenständer-Steilheit den Hang runter. Alleine durch Aufrichten-Position drehend alles verscheppert, was am Möpp rechts dran ist.
Das war nur einer der “Fails” unter mehr.
Kippmoment ist mit Sozia noch viel höher, da Zusatzgewicht am Heck zieht.
Ich fahre ja ohne feste Angabe meine Touren und kann so gut dem Regen entfliehen.
Und Anna die dumme Nuss hätte dich nicht drauf hinweisen können das ein paar Meter weiter ein ordentlicher Parkplatz kommt?
Die einzelnen Elemente deiner Tortour hatte ich sicher auch schon, aber so geballt und so stark ausgeprägt an nur einem Tag: schrecklich. Zum Glück scheint es dich nicht vom weiteren Moppedfahrn abzuhalten.
Rudi. Auch eher der Sonnenmensch, was? 🙂
Ali: Du warst noch nicht lange genug mit mir unterwegs. Da gibt es dann irgendwann kein Entkommen mehr…
Zimt: Nee, leider nicht. Haltebuchten und Parkplätze sind nicht im Kartenmaterial 🙁
Bla: Niemals. Das gehört halt auch zu unserem Hobby. Da heißt es Zähne zusammenbeißen und durch, und im Anschluss können wir dann die GS-Fahrer verhöhnen, die nur bei Sonnenschein bis zur nächsten Eisdiele fahren :-)))
Navis sind doch deren zwei bei Tour an meinem Möpp am laufen.
Das China-Navi zeigt nicht nur jeden Waldwanderweg an, sondern zuverlässig auch jeden Park- oder Halteplatz.
Dafür kann es keine Wetterapp oder Reifenkontrolle, aber Film abspielen.
OSM auf Garmin mit garantierter Darstellung der Haltemöglichkeit ist mir zuviel Info.
Die Chinesen!
Moin, danke für das Video zum Motorrad aufheben. Ich liebe den Monkey Lift. Was das ist? Schaust Du hier: https://youtu.be/45iv6pdogLo
Gruss
Lupo
Interessant! Das kannte ich in der Tat noch nicht, Danke für den Hinweis! Für den Monkey Lift braucht man allerdings zwei Personen und eine gewisse Geschicklichkeit, sonst fällt der Sozia die Kiste auf die Rübe ?
Ja, zur zweiten Person, Geschicklichkeit, nö. Nett sind auch die Vedeo von MotoJitsu: https://youtu.be/vDi–SHP_Vw
@silencer: Schick mir bitte mal eine Email an info@kradblatt.de – Dann habe ich deine Kontaktdaten direkt auf dem Schirm 😉
Sonnenmensch stimmt, Silencer, allerdings mag ich den Regen auch. Wirklich! Nur warm muß es sein. Einige meiner besten Touren die gemacht habe waren im Regen. Ich mag es wenn die DIVA leicht wegschmiert, wenn ich Sie dann mit leichtem Körpereinsatz wieder einfange dann macht mich das glücklich. Bei Kälte fahre ich nicht mehr, das Kapitel habe ich lange hinter mir, denn dann sitze ich total verkrampft auf meiner Geisha und ärgere mich die ganze Zeit darüber wie saublöd ich doch bin bei so einer Affenkälte Mopped zu fahren. Das raubt mir geistig und körperlich wichtige Ressourcen, die ich ja eigentlich zum fahren brauche.
Kradblatt: Mache ich, würde mich freuen wenn wir was finden, wo die Zusammenarbeit passt.
Rudi: Sehr weise! Fahren kostet viel Energie, da muss man nicht noch frieden. Jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden lässt.
@Rudi und Silencer: Ich fahre schon immer auch im Winter. Da nutze ich entweder den Thermoboy (das Original, nicht den untauglichen Nachbau von Polo) oder den A4 von Art for Function, Stiefel von Kamik und alte Fäustlinge.