Reisetagebuch Motorradherbst (8): Asche und Phönix

Reisetagebuch Motorradherbst (8): Asche und Phönix

Tagebuch einer kleinen Motorradtour im Pandemieherbst 2020. Heute mit einem kauzigen Gast, unangenehmen Entdeckungen und deutlich überschrittender Geschwindigkeit.

Mittwoch, 30. September 2020, La vecchia Fontana, Roccafinadamo
Zwei kleine Hunde liegen in der Morgensonne vor der Vecchia Fontana, als ich die Koffer zum Motorrad trage. “Wo habt ihr denn Jack gelassen?”, frage ich, bekomme aber keine sinnvolle Antwort. Die beiden tanzen mir um die Beine und freuen sich so ausgelassen, wie das nur Hunde tun, die ein gutes Leben haben.

Neugierig schnüffeln sie an der Motorradkombi herum, die ich bereits trage. Das war die letzte Nacht auf “La Vecchia Fontana”, heute geht es weiter. Schade, an die Einsamkeit des Bergbauernhofs und Signora Annas Kochkünste könnte ich mich gewöhnen.

Die Koffer sind schon am Motorrad befestigt. Als ich die Gaststube betrete, sitzt an einem der Tische ein hagerer Mann und mustert mich mit großen Augen.

Mauro hatte gestern Abend erwähnt, dass sich noch spontan über Booking.com ein Gast angekündigt hat. Der muss dann aber erst sehr spät angekommen sein. Kein Wunder, der Hof hier ist schwer zu finden, erst recht im Dunkeln.

Der Mann ist vielleicht Mitte 60 und so dürr, dass sein Kopf zu groß für den Körper wirkt. Das graue Haar ist von den Seiten quer über kahlen Kopf gekämmt, wogegen es sich heftig wehrt und zerzauselt in alle Richtungen absteht. Der Mann trägt einen roten Pullunder, der seltsamerweise farblich gut zu seinem Gesicht passt und eine Nickelbrille, durch die er auf eine Art schaut, die ihn gleichzeitig erschrocken und zum Einschlafen gelangweilt wirken lassen.

“Giorno!”, ruft Signora Anna, als sie durch die Schwingtür zur Küche kracht, in einer Hand ein abgedecktes Körbchen, in der anderen eine Kaffeekanne. Sie stellt beides auf einen Tisch und verschwindet wieder.

Ich nehme Platz und untersuche den Inhalt des Körbchens. Die Inspektion fördert ein warmes Croissant zu Tage. Ich nehme meine FFP2-Maske ab und konzentriere mich darauf, einen Löffel von dem guten Honig-Apfelgelee aus dem Glas zu dem zerteilten Cornetto zu balancieren.

Das dürre Männlein starrt mich an uns sagt: “Jaa, Maske bringt nichts, muss man eh absetzen, sonst kann man nicht essen”. Meine Laune fällt schlagartig unter den Gefrierpunkt. Von fremden Leuten vor dem ersten Caffé angelabert werden ist schon schlimm genug, aber von einem Maskenverweigerer? Womit habe ich denn das verdient? Und was ist denn das überhaupt die Argumentation? “Jaja, Maske bringt nichts, weil sie den Weg zur Futterluke versperrt”, und das ist seine Entschuldigung warum er gleich überhaupt keine dabei hat, oder was?

Ich habe sowas von keinen Bock auf ein Gespräch. “Hm.”, mache ich und versuche dabei FrauZimt zu imitieren, die die Kunst beherrscht, ein simples “Hm” in einem so herablassenden Tonfall von sich zu geben, dass es beim Gegenüber ankommt als “Alles was Du sagst ist uninteressant und irrelevant und Du hast Glück, wenn ich Dir für die Unverschämtheit mich angesprochen zu haben nicht den Kopf abreiße.” .

“Aaah”, sagt das Männlein und glotzt mich unverfroren weiter an. “Sie verstehen mich. Mir wurde schon gesagt, dass ich heute Morgen Deutsch sprechen könnte”, sagt er so langsam, als ob er beim Sprechen gleich einschläft.

“HM.”, versuche ich es noch einmal. Aber meine Zimtpower ist nicht stark genug oder der Typ ist merkbefreit oder beides.

“Ich…”, sagt das Männlein langsam und beginnt in seiner Jackentasche zu wühlen. Als er gefunden hat was er sucht, hält er mir einen Reisepass hin. Sollen das jetzt? “…habe zu Hause ja nur Deutsch gesprochen. Aber im Kindergarten musste ich dann italienisch lernen.” Ach Gotte, auf dem Reisepass ist ein Österreichischer Bundesadler. Aber italienisch im Kindergarten? Er kommt also gebürtig aus Südtirol.

“Zu Hause immer Deutsch, aber dann im Kindergarten…”, hebt das Männlein wieder an. “Sie kommen aus Südtirol”, kürze ich ab. “Ja genau… darauf wollte ich hinaus…”, sagt das Männlein und wirkt leicht beleidigt, als hätte ich ihm die Pointe zu einem spitzenmäßigen Witz geklaut. Ich habe heute Morgen aber echt keine Geduld für jemanden der meint, mir seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen, nur um auszudrücken, dass er Deutsch und Italienisch beherrscht.

Ich esse schweigend weiter. Anna werkelt in der Küche, im Gastraum hängt eine aggressive Stille.

Der Mann glotzt eine zeitlang Löcher in die Luft, dann legt er sich die Fingerspitzen beider Hände auf´s Gesicht und tastet darin herum. Dann schaut er herüber, um zu sehen ob ich das bemerkt habe und mich jetzt wundere, was er da macht. Ich tue ihm aber nicht den Gefallen zu fragen, also kommt er von sich aus damit raus.

“Ich war auf dem Monte Vettorio”, sagt er und macht eine Pause, als ob er jetzt Applaus erwartet oder eine Nachfrage, was das wohl ist. Oder wo der ist. Der Monte Vettorio nämlich nicht hier in der Nähe. Aber auch diesen Gefallen tue ich ihm nicht. Ich WEISS wo dieser Berg ist, und wer da hochmarschiert ist selbst schuld.

“Da lag schon Schnee. Ich bin das gar nicht gewohnt. Nie habe ich in der Höhe Probleme, aber die Sonne hat geschienen und dann der Schnee und dann hat es länger gedauert als gedacht. Der Weg ist ja ganz schön…”

“Sie sind auf einen schneebedeckten Zweieinhalbtausender gewandert und haben die Sonnencreme vergessen?”, kürze ich das Ganze ab. “Die brauche ich sonst nie”, verteidigt sich das Männlein schwach, seufzt resigniert und befühlt weiter sein sonnenverbranntes Gesicht.

“Aber das ist eh nicht mein Jahr. Ich bin ja mit dem Auto da draußen gekommen”, sagt er und deutet durchs Fenster. Draußen steht ein Fiat Doblo Maxi, ein kleiner Transporter, ähnlich einem VW Caddy.

“Da habe ich mir eine Matratze reingelegt und jetzt kann ich da auch drin schlafen wenn ich mag!”, sagt der Mann stolz. “Und ich hatte Photovoltaik auf´s Dach gemacht.” Ich gucke nochmal raus, aber der Doblo hat keine Solarzellen auf dem Dach, nur seltsam verbogen aussehende Halterungen über der A-Säule. “Naja, jedenfalls, jetzt kann ich nicht mehr darin schlafen, weil hinten drin die ganze Photovoltaik liegt.”

Das Männlein erzählt seine Geschichten wirklich so unfassbar langsam, dass für mich ein Ratespiel daraus wird… was ist wohl passiert? Schaffe ich es zu erraten worauf er hinauswill, bevor er mit seiner Geschichte am Ende ist?

“Ist abgefallen?”, rate ich etwas vorschnell.
“Als ich auf die Autobahn gefahren bin”, sagt das Männlein fröhlich, “Da hat sich alles hochgewölbt und dann ist es weggeflogen”.
“Argh, watten schiet”, sage ich und lege die Serviette weg, “OK, muss los”.
“Wo geht´s hin?”, fragt das Männlein.
“Marken”, sage ich, “über Castelluccio”.

“Aber da komme ich ja…”, hebt der Mann an.
“…gerade her, ich weiß”, sage ich.

Der Monte Vettorio ist nämlich der Hausberg von Castelluccio, einem winzigen Bergdorf in den sibellinischen Bergen. Auf dem Weg zum Monte Vettorio liegt der “Pilatus-See”, an dem angeblich Pontius Pilatus nach seiner Flucht gestorben sein soll.

Ach, Castelluccio. Habe ich schöne Erinnerungen dran. Ich habe da oben in einem kleinen Gasthof mal drei Tage lang ein episches Wetter ausgesessen. Das war gemütlich, trotz Magenverstimmung.

Ich lege meine FFP-Maske wieder an, stehe auf und gehe Richtung Küche. Das hagere Männlein guckt mir verwundert durch seine Nickelbrille nach und sagt dann: “Aber da steht doch nun wirklich gar nichts mehr!”

Ich erstarre in der Bewegung und drehe mich wieder zu ihm um. “Was?!”

“Ja, da steht nichts mehr. Ein Haus am anderen, alles kaputt. Kannst durch die Mauern bis ins Kaschtel gucken (gemeint ist ein Schrank, Anm. S.), da ist Geschirr und alles noch drin, aber darf halt keiner mehr rein in das Haus und es rausholen, weil alles jederzeit einstürzen kann. Beim Erdbeben vernichtet, das auch L´Aquila zerstört hat”.

Ok, jetzt weiß ich, dass er Unfug erzählt. “Bei allem Respekt, aber L´Aquila war 2009, und ich war zuletzt 2016 in Casteluccio, da stand noch alles”, herrsche ich ihn an. Aber irgendwo in meinem Hinterkopf springt eine kleine Erinnerung auf und ab und will Aufmerksamkeit, weil sie meint, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu der Story des Österreichers zu passen.

Sie hat sogar recht, sofort nachdem ich ihr Beachtung geschenkt habe, dämmert es mir – der Österreicher hat L´Aquila mit Amatrice verwechselt, und DAS Erdbeben war im Januar 2017 und hat in der Region gigantische Schäden angerichtet. Aber Castelluccio? Das liegt doch so weit oben und außerdem hätte ich das doch bestimmt mitbekommen!

“Ich muss weg”, sage ich. Der Mann tippt gerade quälend langsam “E-R-D-B-E-B-E-N L-A-Q-U-I-L-A” in sein Smartphone ein.

Ich stecke den Kopf durch die Schwingtür zur Küche. “Signora Anna?”

Anna legt einen Lappen zur Seite und fragt “Willst Du schon los?”
“Ich muss. Ich hoffe, dass ich nicht wieder sieben Jahre brauche, um das nächste Mal hier her zu kommen. Für eine Rückkehr gibt es so viele Gründe, das Haus, das tolle Essen…”
“Und die Freunde!”, sagt Anna und strahlt, “Du hast jetzt hier Freunde! Vergiss das nicht! Das ist der beste Grund um wieder zu kommen!”
Umarmung muss ausfallen wegen Corona, also nicke ich einfach und gehe.

Im Rausgehen höre ich das Männlein rufen “Ich habe es gefunden! Es war 2017!” Ich beschleunige meine Schritte. Jetzt habe ich es eilig. Castelluccio zerstört? Das KANN doch nicht sein.

Ich springe in den Sattel und steuere die V-Strom über den Sandweg und die kaputte Bröckelstecke den Berg hinauf. Auf der Straße gebe ihr die Sporen und heize durch die Berge Richtung Teramo. Es ist ein schöner Morgen, aber ich nehme mir nicht viel Zeit um die Schönheit der Abruzzen zu bewundern.


Ich fahre nach Norden, nach Ascoli Piceno. Die gleiche Strecke wie schon vor zwei Tagen.

Dieses Mal aber nicht weil ich Oliven essen will. Ascoli Piceno ist auch das Tor zum Apennin an dieser Stelle, und die Barocca schießt über die Strada Statale 4 in Richtung der Berge und dann durch die engen Täler gen Westen.

Geschwindigkeits- und Überholverbote ignoriere ich weitgehend, wenn Anna nicht ausdrücklich vor Blitzern warnt. Stattdessen nutze ich jede Gelegenheit zum Überholen von LKW und Bussen. Viele Gelegenheiten sind das nicht, denn die Täler hier sind kaum mehr als Felsspalten in den Bergen, und die Straßen sind schmal und gewunden.

Beim Ort Arquata del Tronto lenke ich die V-Strom von der Talstraße weg in die Berge, und schon nach der ersten Kurve sehe ich ein Haus, das in der Mitte auseinandergebrochen ist.

Man kann bis in eine Küche sehen, ein Herd hängt schief an einer Wand. Mir klingen noch die Worte des Österreichers im Ohr. “Kannst bis ins Kaschtel gucken, ist Geschirr und alles noch drin”.

Ein paar Kilometer weiter komme ich an einer ganzen Siedlung von identischen, eingeschossigen Holzhäuschen mit tonnenförmigen Thermosiphon-Anlagen auf den Dächern vorbei, die dicht an dicht gebaut sind und alle genau gleich aussehen.

Ich weiß, was das hier ist: Notunterkünfte. Häuser, in die Dorfgemeinschaften umgesiedelt werden, wenn ganze Orte zerstört wurden. In Italien bleiben diese Barackendörfer dann oft sehr lange bestehen – die Opfer des Bebens von 2009 in L´Aquila harren immer noch in diesen Leichtbauhäusern aus, seit 11 Jahren.

Ein paar Kurven weiter weiß ich auch, wer in den Unterkünften lebt. Vom Ort Pretara ist so gut wir nichts mehr übrig. Einige sehr kleine und ganz alte Steinhäuschen stehen noch und werden von dicken Balken gestützt, aber der Großteil der Häuser besteht nur noch aus Schutthaufen, aus denen hier und da nochmal eine Wand oder ein Kamin heraussteht.

Bis jetzt hatte ich ja die Hoffnung, dass das Männlein Castellucio mit einem anderen Ort verwechselt hat, aber die schwindet nun rapide. Egal wo ich hinkomme, überall sind Spuren der Zerstörung zu sehen.

Vor mir ragt die Bergkette mit dem Monte Vettore wie eine Wand auf.

Ich gebe Gas drücke die V-Strom um die Kurven, Unterwegs überhole ich eine kleine gemischte Tourengruppe aus Enduros und Choppern und später ein Pulk GSen, die sofort im Rückspiegel verschwinden und die die Barocca auch nicht wieder einholen. Ja, ich KANN schnell fahren wenn ich muss oder will, und gerade habe ich es eilig.

Immer weiter geht es an den steilen Hängen hoch. Die Baumgrenze bleibt zurück, darüber gibt es nur noch gelbliches Gras und Felsen. Viele Felsen, an denen die Barocca jetzt vorbeischießt.

Hinter der Bergkette liegt die Hochebene. Hier muss ich doch kurz anhalten, zu schön ist die Landschaft hier.

In einen Berghang hat ein Bauer den Bosco d´Italia gepflanzt, einen Wald in Form von Italien.

Ich fahre weiter und über die Hochebene auf Castelluccio zu. Irgendwas steht da oben auf dem Berg noch, aber auf die Entfernung lässt sich nicht ausmachen was und wieviel. Die Straße zum Berg ist auf jeden Fall nagelneu, was auch nichts gutes erahnen lässt. Straßen hier oben werden nicht aus Jux und Dollerei neu gemacht oder weil sie kaputt sind. Die werden nur saniert, wenn wirklich nichts mehr von ihnen übrig ist.

Auf dem Weg den Berg hinauf, auf dem “Deltaplano”, sehe ich nagelneue Holzbauten für Restaurants und auch ein paar Notunterkünfte und Versorgungscontainer. Oh Mistmistmist. Hier war früher nichts außer einem Wendeplatz für die Tankwagen, die Milch abholen.

Eine Minute später halte ich in der Ortsmitte. Auf den ersten Blick sieht es hier aus wie immer, aber das stimmt nicht. Die Geschäfte, die die Linsen verkaufen, die auf der Hochebene geerntet werden, sind nicht mehr in den Steinhäuschen am zentralen Platz untergebracht, sondern in Holzbauten davor.

Bei genauerem Hinsehen sehe ich, das mindestens jedes zweite Haus fehlt. Der deutlichste Hinweis aber: Überall sind Soldaten und bewachen Absperrungen. Praktisch der gesamte alte Ortskern ist “Zona Rossa”, rote Zone, und mit Baugittern versperrt.

Ich hänge den Helm an den Spiegel und eile in eine Seitenstraße, die zum Friedhof führt. Auch hier stehen Absperrgitter und große Funktionscontainer, die eine Notunterkunft oder eine Zentrale für die Soldaten sein könnten.

Das Gebäude des Guerrin Meschino, “meines” Gasthofs, steht noch – aber nur auf den ersten Blick. Er ist verlassen. Im Vorbau, der Teil des Restaurants ist, liegt eine dicke Staubschicht und Spinnweben bedecken Gegenstände, die offensichtlich in großer Eile zurückgelassen wurden. “Wir sind am Fuß des Berges mit einer Notküche”, steht auf einem Zettel an der Tür.

Ich gehe bis zur ersten Absperrung in den alten Ortskern. Das Bild ist erschütternd, auch hier ein Schutthaufen am Nächsten, und das waren alles einmal bewohnte Häuser.

Hier mal zum Vergelich zwei Aufnahmen aus fast dem gleichen Winkel. Das hier ist Castelluccio in 2014:

…und hier in 2020:

Nur ein paar neue Häuser sind stehen geblieben. Das ganze Ausmaß der Zerstörung wird in diesem Video von 2018 sichtbar. Vom winzigen Ortskern auf dem Berggifpel ist praktisch nichts mehr übrig.

Die Verwüstung ist auch auf den Satellitenaufnahmen zu sehen. Darauf sind alle Häuser rot markiert, von denen gar nichts mehr übrig ist oder die offensichtlich schwer beschädigt wurden. Aber auch der Großteil der anderen Gebäude ist nicht mehr bewohnbar.

Tief betreten unterhalte ich mich kurz mit einer jungen Linsenverkäuferin. Ja, sagt sie, das Erdbeben sei schlimm gewesen. Allerdings hätte die allermeisten Einwohner sowieso nur noch in den Sommermonaten hier gelebt, wenn sie in der Landwirtschaft zu tun hatten und die Touristen kamen. Viele haben ihren eigentlichen Wohnsitz woanders, von daher hätten sie nicht alles verloren.

Ich nicke. Sowas haben mir die Gastwirte vor vier Jahren auch schon erzählt. Castellucio liegt nämlich so abgelegen, dass es in strengen Wintern oft wochenlang nicht erreichbar ist. Das tut sich niemand mehr freiwillig an. Im Winter wohnt man lieber unten im Tal, unter Menschen und mit einem Supermarkt um die Ecke.

Mir wird bewusst, dass ich 2014 hier in Castelluccio eine einzigartige Erfahrung gemacht habe, die ich nie werde wiederholen können. Ich schaue noch ein wenig über die Landschaft hinweg und bewundere das Spiel von Sonne und Wolken, deren Schatten über die Hochebene ziehen. Erst durch die Begrenzung der Bergketten rund im die Ebene wird deutlich, wie groß das alles hier ist. Nur durch Grenzen begreift der Mensch, wie groß die Welt um ihn herum sein kann.

Ich fahre ein mal über die Hochebene. Die vermeintliche Weite zu durchqueren dauert kaum mehr als fünf Minuten. So viel zur Größe der Welt.

Es geht durch die Berge hinab bis nach Norcia. Auf dem Weg sehe ich noch mehr eingestürzte Gebäude. Bei diesem Gasthof ist das ganze Vordach in sich zusammengebrochen. Am Zaun hängt ein Transparent “Suppenverkauf auf der Rückseite”. Dass die Trümmer hier seit drei Jahren so rumliegen zeigt vielleicht auch wie wenig Geld die Leute hier haben und wie sich die Versicherungen anstellen.

In Norcia angekommen bin sofort angepisst. Am Rand des Ortes liegt ein stillgelegtes Restaurant mit einem tonnenförmigen Vordach, unter dem man perfekt sein Mopped abstellen kann und das mir bei Unwetter schon als Regenschutz gedient hat. Von dort sind es nur ein paar Schritte bis in die Altstadt, wirklich der perfekte Motorradparkplatz. Nur: Da komme ich nicht mehr hin. Jemand hat auf den Parkplatz vor dem alten Restaurant ein komplettes neues Restaurant gebaut! Von oben kann ich meinen Unterstand noch sehen, es gibt aber keine Zufahrt mehr dahin!

Verärgert parke ich woanders und will Norcia betreten. Das ist nur gar nicht so einfach. Mehrere Tore in der historischen Stadtmauer sind mit Brettern vernagelt, die Mauer selbst an mehreren Stellen eingestürzt und nur mir darübergeschmiertem Spritzbeton provisorisch gesichert. Oh nein, nicht auch noch Norcia!

Als ich endlich ein offenes Stadttor finde, betrete ich eine nahezu ausgestorbene Stadt. Zwar steht hier noch viel, aber die 2017er Erdbeben müssen auch Norcia schwer erwischt haben. Fast alle Häuser sind mit metallenen Halteklammern und Zugankern gesichert, Bögen zwischen Häusern mit Stahlkonstruktionen verdübelt.

Von der Kirche im Ort steht gerade noch die Fassade, die von einer abenteuerlichen Gerüstkonstruktion gehalten wird.

Bedrückt fahre ich weiter, aus den Bergen heraus und dann auf Schnellstraßen parallel zu Ihnen nach Norden, schließlich wieder auf kleinen Straßen einmal durch den Appenin hindurch und Richtung Ostküste, an Urbino vorbei und noch ein wenig weiter.

Nach insgesamt achteinhalb Stunden Fahrzeit und 370 Kilometern verkündet ein Schild, dass ich nun in der Provinz von Rimini angekommen bin. Darauf weist aber erst einmal sonst nichts hin, hier ist kein Meer, das ist rund 40 Kilometer weg. Das hier sind die Marken. Hier sieht es aus, als hätte jemand die Toskana genommen und einmal zusamengeknüllt: Auch hier gibt es Felder und Wälder, aber keine weichen Hügel, sondern echte Berge.

In diesen Bergen liegt der kleine Ort Mondaino, und kurz dahinter meine Unterkunft für heute.

Die Barocca kommt vor einem schmucken, sehr gepflegten Gasthof zum Stehen. Das ist das Haus von Marco Merli und seiner Frau Grazia.

Im Vorfeld hat mir Merli in Mails auf Deutsch geantwortet, und als er um die Ecke kommt, weiß ich auch sofort warum.

“Sie sind Schweizer!”, rutscht es mir heraus, als er mich begrüßt, einfach weil ich so froh bin, dass er kein Südtiroler ist oder einfach nur gut mit Google Translate umgehen kann. “Hörrrt man daas?”, sagt er mit einem breiten Grinsen. Ich mag Merli sofort. Er ist ein Hüne von einem Mann, vermutlich Anfang 60, braungebrannt, grauer Bart, ein schelmisches Lachen in den Augen.

“Mit dem Motorrad da?”, spricht er das Offensichtliche aus und schaut auf die V-Strom, die leise knackend vor dem Haus abkühlt. “Ja. Und sie sind auch Motorradfan?”, sage ich. Ein deutlicher Hinweis darauf ist, das Merli eine Motorradjacke trägt. Außerdem hatte ich vorher auf der Website des B&B gelesen, das Motorräder seine Passion sind, und Biker hier nicht nur willkommen sind, sondern auch eine Werkstatt vorfinden.

“Naja, ein Bißchen”, sagt Merli und lehnt sich an eine bestimmt 20 Jahre alte Varadero, das Pendant zur V-Strom aus dem Hause Honda. “Ein Bißchen” ist krasse Untertreibung, aber Merlis Understatement finde ich gerade sehr erfrischend.

Mit Marco Merli werde ich in den kommenden Tagen noch so manches interessantes Gespräch führen. Er kennt Gott und die Welt und hat alles mögliche gemacht.

Die Sonne beginnt bereits den Sinkflug, und ich fahre einige Kilometer zurück nach Mondaino. Der Ort ist winzig, so ein typisches Bergnest, um eine Burg herum gebaut.

Hier gibt es eine kleine Bäckerei, die sowohl kunstvolle Torten anbietet als auch Pizza. An der Straße stehen Tische. Perfekt in der Pandemie!

Nach den Gelagen der letzten Tage ist eine simple Pizza und ein Wasser aus der Plastikflasche echt okay.

Wieder am Gasthof angekommen geht die Sonne gerade endgültig unter. Ich beziehe mein Zimmer, vor dem die V-Strom parkt.

Was für ein schönes Haus. Marco und Grazia haben ihm den Namen “La Fenice” gegeben, “Der Phönix” – weil sie es mit viel Zeit und Mühe von einer verfallenen Ruine wieder zu einem Schmuckstück aufgebaut haben. Vielleicht passiert ja mit Casteluccion und den anderen Orten in den sibellinischen Bergen etwas ähnliches, und eines Tages erhebt sich aus den Schutthaufen auch etwas neues.

Tour des Tages: Von Roccafinadamo über Teramo und Ascoli Piceno nach Castelluccio, von dort nach Norcia und dann bis nach Mondaino, knapp vor San Marino. 366 Kilometer, rund 8 Stunden.

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