Reisetagebuch Motorradherbst (9): Markig

Reisetagebuch Motorradherbst (9): Markig

Kleine Motorradtour im Pandemieherbst 2020. Heute mit unspektakulärem Rumgedödel durch die Marken, einem unbefriedigendem Besuch bei Ela und einem Hundertjährigen, der die Faust schüttelte und verschwand.

Donnerstag, 01. Oktober 2020, La Fenice, Marken

Das “La Fenice”, der Gasthof von Marco und Grazia, hat einen gemütlichen Frühstücksraum, in dessen einer Ecke ein kleines Buffett aufgebaut ist.

Marco Merli, der Besitzer von La Fenice, trägt bereits eine OP-Maske. “Ich muss Dich jetzt bedienen”, sagt er, und das macht er dann auch. Es ist sehr seltsam, Dinge zu sagen wie “Bring mir bitte noch ein einen Glas Wasser und ein Stück Apfelkuchen und ein Schälchen Obstsalat” und der große, vierschrötige Mann in Jeans und Motorradjacke bringt mir dann ein Tellchern mit diesem und jenem wie ein Butler. Aber nun, Corona halt. Marco muss tatsächlich so einige Male laufen, denn die Kuchen, die Grazia gebacken hat, sind einfach irre gut, und ich muss von allen probieren.

Nach dem Frühstück steige ich auf´s Motorrad und steuere durch die Berge der Marken. Kürbisse liegen am Straßenrand aufgestapelt, und auch an den Bäumen ist zu sehen, dass es langsam Herbst wird.

Die Berge sind mit Wäldern bedeckt, das hügelige Vorland mit Feldern. Auf einer Wiese steht die Skulptur eines galoppierenden Pferds, das mit einem Kind auf dem Rücken über eine Weltkugel springt. Eine Tafel am Wegesrand gibt Auskunft darüber, dass die Skupltur den Namen “Der Gedanke ist schneller als das Handeln” (“Il pensiero è più veloce dell´azione”) trägt und von Gianni Calcagnini ist.

Langsam dödelt die Barocca durch die Marken und über schlechte Straßen bis nach Norden, bis in den Ort Gambettola.


Hier hat die legendäre Stamperia Bertozzi ihren Sitz und direkt neben dem Rathaus ein Ladengeschäft, in dem die handgemachten Textilien verkauft werden. Ich parke die V-Strom davor und betrete den Laden.

Zu meiner Enttäuschung ist Ela Bertozzi heute nicht da, und die Verkäuferin hinter dem Tresen kenne ich nicht. Die ist aber auch ein wenig überfordert, als ich ihr sage, dass ich eine Tischdecke für einen kleinen Küchentisch benötige. “Sowas haben wir nicht, tut mir leid”, sagt sie. “Doch, haben sie”, sage ich und zeige ihr ein Bild des Tischs inklusive Maße, auf dem eine Tischdecke von Bertozzi liegt.

“Öh, also… Nein, sowas haben wir nicht”, sagt die Verkäuferin wieder und fummelt etwas hilflos ein einem Stapel Handtücher herum. Na, dann eben nicht. Meine Kauflaune hält sich eh in Grenzen, ich habe nur reingeschaut, weil ich gerade in der Nähe war und gehofft hatte Emanuela zu treffen.

Das Land hier ist jetzt ganz flach, und an Feldern vorbei und durch kleine Orte fährt die V-Strom genau auf die Küste zu, um dann auf die SS16 einzuschwenken. Die Schnellstraße bringt in der Saison die Urlauber zum “Teutonengrill” der 60er Jahre, nach Rimini.

Ich überlege kurz ob es sich lohnt die Stadt anzugucken, aber die Erinnerung und heute morgen Marco Merli sagen, das bis auf einen winzigen Teil im Stadtkern nichts dort wirklich hübsch ist. Nee, das ist mir dann zu anstrengend. Zumal es heute warm ist, über 25 Grad.

Stattdessen fahre ich kurz im Ort Bellaria Igea Marina vorbei und gucke, ob es das kleine Familienhotel “Albergo Pozzi” noch gibt. Da habe ich damals, 2012, auf meiner allerersten Motorradreise und nach einem langen Regentag, allein übernachtet – in einem billigen Zimmer über einem Abzug aus der Küche, aus dem es nach Fisch roch. Gott, war das damals alles neu und aufregend! Zu meiner Freude gibt es das Haus noch.

Nach dem kleinen Schlenker fahre ich zurück in die Berge der Marken und zum “La Fenice”. Kilometer waren das. Die Hitze macht mich müde, also spielen wir heute mal Team Mittagsschlaf. Warum auch nicht, ich habe immerhin Urlaub.

135 Kilometer.

Als ich nach zwei Stunden Rumgedöse wieder aufwache, fühle ich mich immer noch matschig. Aber hey, hilft ja nix, ich kann ja schlecht den ganzen Tag im Bett liegen bleiben. Auf große Abenteuer habe ich aber auch keine Lust und so setze ich einfach einen Kurs nach Urbino. In der kleinen Unistadt kenne ich mich aus und weiß, wo ich hin muss.

Kurze Zeit später schraubt sich das Motorrad die engen Gassen den Berg hinauf und rollt durch eine herbstliche Allee, um dann auf den Moppedparkplätzen direkt am oberen Stadttor zum Stehen zu kommen.

Urbino ist eines dieser typischen Bergnester, aber es hatte eine Besonderheit, und die hörte auf den Namen Federico da Montefeltro. Der Ritter war Mitte des 15. Jahrhunderts Herzog von Urbino und ein ziemlich wilder Haudegen. Als unehelicher Sohn des vorherigen Herzogs geboren, verdingte er sich als Söldner für Mailand, wo ihm wohl auch in einer Schlacht ein Stück aus der Nasenwurzel gehauen wurden.

Später war sein Leben bestimmt von Intrigen und Mordkomplotten an den Höfen der Adeligen, bekannten Familien wie den Sforza oder den Malatesta. Federica lavierte zwischen Mächten wie Venedig, Florenz, Mailand und Neapel herum und schaffte es nicht nur am Leben zu bleiben, sondern auch von allen Seiten als Vermittler akzeptiert zu werden, obwohl er vermutlich der Drahtzieher der Pazzi-Verschwörung oder zumindest tief in sie verstrickt war.

Durch diese Tätigkeiten und seinen Hauptberuf als Söldner hatte Federico ein hohes Einkommen, und das investierte der Haudegen in Dinge, die er mochte – Architektur und Kunst. Er, der selbst keine Bildung genossen hatte, hatte erkannt wie wichtig diese ist. Er gab gewaltige Geldmengen für Bücher aus, förderte Künstler wie Raffael, der in Urbino geboren wurde, und ließ den Ort nach den Idealvorstellungen der Renaissance umbauen. Nach seinem Tod wurde dort eine Universität gegründet, und die gibt es bis heute.

Fünfhundert Jahre war sie eine Privatuni, seit 2006 ist sie staatlich. Studierende aus der ganzen Welt kommen nach Urbino, um hier vor Sozialwissenschaften, Jura und Sprachen zu studieren. Die Uni hat 22.000 Studierende, von denen aber ein großer Teil auch in Außenstellen der Uni in den Küstenstädten Pesaro und Fano studiert. Der Ort Urbino hat selbst nur 14.000 Einwohner:innen, und die Studis hier lernen hauptsächlich Sprachen und da vor allem italienisch im Rahmen des internationalen Austauschprogramms ERASMUS. Geringe Einwohnerzahl, sagenhaft hoher Studierendenanteil – man kann sich vorstellen, wie jung dieser Ort ist. Hinter jeder offenstehenden Haustür, in die ich einen Blick werfe, ist eine Studierenden-WG.

Urbino ist ein Bergort, und die Straße, an deren Ende ich geparkt habe, führt steil einen Berg hinab. Also WIRKLICH steil. Wie steil, kann man auf Fotos nur erahnen, wenn man sich den Verlauf der Straße im Verhältnis zu den Häusern ansieht.

Eigentlich wäre hier eine Treppe angemessen, so steil ist die Straße. Sie führt an Raffaels Geburtshaus vorbei und an einem Laden, der bei den Studis gerade total angesagt zu sein scheint. Er verkauft allen möglichen Retro-Kram und trägt den deutschen Namen “Das Andere”.

Ich laufe bis zu einem kleinen Marktplatz und esse ein Eis, auf meine Freundin Nerys. Die Waliserin hat hier studiert, bevor sie in Mailand gearbeitet hat. Vor Beginn des Brexits ist sie zurückgegangenen nach Camarthen, und versauert dort jetzt in einem britischen Kleinstadtleben, das so gar nicht mehr zu ihr passen will.

Ich laufe noch ein wenig die Straße hoch und runter, gucke mal in eine Kirche und beschließe dann, jetzt keine Lust mehr zu haben.

Ich kehre zurück zum Motorrad, pöttere wieder vom Berg runter und zur nächstgelegenen Tankstelle, wo die Barocca von einer netten Benzinaia sorgfältig aufgetankt wird. Dann fahre ich zurück nach Mondaino, wo La Fenice liegt.

Rundfahrt am Nachmittag, rund 70 Kilometer.

Der Ort ist auch so ein Bergnest. Die Altstadt ist um eine Burg auf einem Bergrücken gebaut und besteht nur aus einem Dutzend Häuser, die von hohen Mauern geschützt werden, deren Zugbrückenanlage man sogar noch sieht.

Im Innenhof, der ein großer, halbrunder Platz ist, weißt ein Schild freundlich darauf hin das Mondaino weltoffen und sehr freundlich sei.

Im Park neben der Burgmauer wachsen gerade… Krokusse?!

Ich nehme wieder in der Pizzeria von gestern Platz und beobachte einen bestimmt 100jährigen Opa, der schon gestern hier an der Straße saß. Er beobacht Autos und Menschen und brüllt ihnen manchmal was hinterher, während er die knochigen Fäuste schüttelte. Von manchen Passantinnen wird er laut gegrüßt, dann freut er sich.

Ich konzentriere mich auf meine Pizza, und als ich kurz nicht hin gucke, ist der Alte plötzlich verschwunden. Schade, der hat für Unterhaltung gesorgt.

Später am Abend, als es schon dunkel wird, parke ich die V-Strom vor La Fenice neben Marco Merlis Varadero .

Als ich aus dem Sattel steige, kommt Marco um die Ecke geschlendert. Wie schon gestern kommen wir sofort ins Gespräch und verstehen und ausgezeichnet. Wir mögen beide keine SUVs (“Die meisten Fahrer wissen nicht mal, was die Abkürzung bedeutet! Das musst Du dir mal geben!”), wundern uns über Probleme von BMW-Fahrern (“und dann hat er nach einem Imbusschlüssel gefragt um seinen Tank aufzuschrauben, weil die Elektronik den nicht mehr geöffnet hat”) und halten nichts von zu viel Elektronik in Motorrädern.

Außer, sie ist richtig eingesetzt – Marco stellt sofort und mit Kennerblick fest, dass in die Barocca ein Kettenölsystem von der schwäbischen Firma CLS eingebaut ist. Die Varadero hat auch ein CLS-Display am Lenker, besitzt aber zusätzlich Heizgriffe. Die Firma CLS besteht praktisch nur aus Heiko Höbelt, einem findigen Tüftler. Alles was der macht ist super, da sind Marco und ich uns einig.

“Ich habe mal versucht den Vertrieb für CLS in Italien zu machen. Aber die Italiener geben lieber Geld für unnütze Carbonimitate aus als für richtig wertige Sachen”, sagt Merli. “Aber der Heiko, der kommt mich bald besuchen” – “Dann richte ihm schöne Grüße von einem begeisterten Anwender aus!”, sage ich.

In Marcos Schuppen stehen gleich mehrere Motorräder (“Aber meine eigentliche Garage ist woanders”) und eine voll eingerichtete Werkstatt. Hier werden Motorräder für Weltreisen fit gemacht, oder für den Einsatz in arktischen Regionen. Einem Motorrad hat Merli sogar herunterklappbare Skier an den Seiten verpasst und dem in den Helm des Fahrers eine Heizung eingebaut. So viel zu “ich interessiere mich ein Bißchen” in Bezug auf Moppeds – der Mann ist Profi!

Im Frühstücksraum steht sogar ein Regal mit Büchern von Motorradreisenden, die meisten sind handsigniert und mit Danksagungen versehen, weil Marco den Leuten mit speziellen Umbauten geholfen hat.

Marco erzählt gerne und mit dieser typisch schweizerischen Gelassen- und Bescheidenheit von dem, was er in seinem Leben so gemacht hat – und das ist eine Menge! Ich könnte ihm stundenlang zuhören und tue das mit großer Begeisterung, bis Grazia ans Fenster klopft und ihn zum Abendessen holt.

Interessant, dass es auch mich hier her verschlagen hat, das ich “La Fenice” entdeckt habe war purer Zufall. Eigentlich wäre ich hier in ein kleines Hotel nahe Urbino eingekehrt und hatte nur wegen der Pandemie nach etwas abgelegeneren und kleinerem gesucht.

Manchmal führt einen das Leben zu Menschen, die man kennenlernen soll.

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0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradherbst (9): Markig

  1. Hei Silencer,

    einfach so verschwunden? Der Hundertjährige? Nein, nein! Der hat sich in seinen Fiat Panda gesetzt und ist nach Urbino gezuckelt, dafür braucht er ungefähr zweieinhalb Tage und das alles nur um mal kurz das Durchschnittsalter der Einwohnerschaft in die Höhe zu treiben. Es gibt kein erkennbares Muster und keine Regelmäßigkeit wann er diese Ausflüge macht, es scheint so als erfolgen sie planlos, Silencer, Du hättest die eingeborenen Signore fragen sollen, die wissen nämlich daß der Alte, der übrigens Federico heißt, denkt er sei die Widergeburt des Herzogs und jedes mal wenn er einen Stich in seiner Nase verspürt dann muß er mal kurz nach Urbino rüber, um nach dem Rechten zu sehen.

    LIEBEn Gruß
    rudi rüpel

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