Reisetagebuch Motorradherbst (11): Unter Menschen ?
Tagebuch einer kleinen Moppedtour im Pandemieherbst 2020. Nur an Orte, die ich schon kenne und die möglichst weit weg von Menschen sind. Klappt nur heute nicht, was genauso Schnappatmung verursacht wie ein Ausflug in einen Steinbruch. Schon wieder.
Sonntag, 04. Oktober 2020, Villa Allegria, Carpineto, Siena
Eine Nacht und einen ganzen Tag und noch eine Nacht hat es geregnet. Ich habe im Pyjama im Sessel an den bodentiefen Fenstern im Wohnzimmer gesessen und gelesen und gefaulenzt, genau wie ich es mir vorgenommen habe.
Nun hat sich das Wetter offensichtlich genügend ausgekotzt, und der Himmel über der Villa Allegria ist strahlend blau. Ich habe Lust darauf einfach ein wenig herum zu fahren, und deshalb mache ich das auch.
Schnell ist die V-Strom gesattelt und pöttert aus Carpineto heraus und hinein in die Crete Senesi, das Hügelland südlich von Siena. Ich bin schon so tiefenentspannt, dass ich den GPS-Recorder vergessen habe, stelle ich fest. Ach, egal. Dafür fahre ich jetzt nicht nochmal zurück.
Anna hat noch eine schöne Rundtour über kleine Landstraßen gespeichert, und nach 40 Minuten fährt die Barocca über eine Bergkette und kommt im Dorf Murlo an.
Murlo ist eines dieser typischen Bergdörfchen. Der Ort liegt auf einer Anhöhe, ist kreisrund und geradezu winzig, gerade mal 95 Meter im Durchmesser.
Im Kreis ducken sich die Häuschen um eine Kirche herum. Die Gassen sind geradezu malerisch, auch wenn heute morgen Radrennfahrer darin herumfahren und ich teils lange für ein Foto warten muss, damit ich keinen von den quietschbunt gekleideten Altherren mit auf dem Bild habe. Radrennfahren, gefühlt der Norditaliener liebster Freizeitsport.
Vor einigen Jahren war Murlo in den Schlagzeilen, weil Wissenschaftler auf Florenz der Meinung waren, dass die Physignomie der Menschen hier genau der der alten Etrusker entspicht. Nunja.
Ich fahre weiter in die Südtoskana hinein. Das ist jetzt das Val d´Orcia, genau die Gegend, die das Klischee der Toskana geworden ist. Sanfte Hügel, Zypressengesäumte Auffahrten zu kleinen Bauernhäuser.
Kurz vor dem gleichnamigen Ort stehen die Cipressi di San Quirico d´Orcia, besonders fotogene Zypressen vor besonders sanften Hügeln. So oft fotografiert, dass es an der Strada Regionale einen Parkplatz für Besucher gibt. Eigentlich. Heute ist der gesperrt. Ich lasse die V-Strom am Rand der Strada Regionale stehen und hoffe, dass sie mir keiner umfährt. Die Kiste hat zwar eine Warnblinkanlage, aber die funktioniert nur, wenn die Zündung und das Licht an sind – wer denkt sich sowas denn aus?
Egal. Ich stapfe den Hügel zu den Zypressen hinauf und merke dabei, dass der Boden, der von der Straße aus fest aussah, eine Schlammfläche ist. Bis über die Sohlen sinken meine Stiefel ein. Bäh, das wird eine Arbeit, die wieder sauber zu bekommen.
Die Zypressen finde ich dann auch gar nicht so spektakulär.
Die umliegende Landschaft allerdings schon, selbst gepflügt und grau hat das hier noch was.
Unerwartet grün ist die Toskana beim Aussichtpunkt für die Kapelle San Vita. Auch so ein Klischeepostakartenmotiv, und man muss echt Glück haben um einen Moment abzupassen, wo sich nicht Influencer davor in Pose werfen. Heute ist nicht so ein Moment, aus der Ferne kann ich ein Dutzend Leute vor der Kapelle sehen.
Es ist immer noch knalle windig, Windböen reißen an den Zypressen herum.
Am Rande von Pienza lasse ich die Barocca stehen und spaziere ein wenig durch den Ort.
Pienza, so die fixe Idee eines Papstes, sollte vom gewachsenen Ort zu einer Planstadt, zur “Idealstadt der Renaissance” umgebaut werden. Nachdem der Ortskern umgestaltet war, starb der Mann allerdings, und damit auch das Projekt. Aber immerhin, um die Kirche herum ist wirklich alles nett und harmonisch, aber auch alles sehr klein und eng. Bei Pienza dachte ich früher immer an eine große, prunkvolle Stadt, tatsächlich ist es aber nur ein besseres Minidorf.
Am schönsten an Pienza ist aber die Aussicht auf den Monte Amiata, den höchsten Berg der Toskana.
Wieder auf der Barocca steuere ich aus dem Val d´Orcia heraus und nach Osten bis zum Lago Trasimeno.
Der Trasimenische See ist mit 54 Quadratkilometern einer der größten Seen Italiens. Dabei ist er aber nur maximal sieben Meter tief, was in den vergangenen Jahren mit ihren sehr heißen Sommern zu so viel Verdunstung geführt hat, dass die seltenen Fischarten im See in Gefahr waren. Darum wurde er aus dem künstlichen Lago Montedoglio weiter nördlich künstlich am Leben gehalten.
Am Westufer liegt ein Festungsdorf mit dem einfallsreichen Namen Castiglione del Lago, Festung am See.
Hier kann man gut Dinge aus Olivenholz kaufen. Ich liebe das stark gemusterte Holz, das nur geerntet wird, wenn ein Baum keine Früchte mehr trägt – was in der Regel erst nach weit mehr als einhundert Jahren der Fall ist. Heute finde ich hier aber nicht was ich suche, und so schlendere ich nur ein wenig durch den Ort. Der ist nicht übermäßig besucht, gerade für einen Sonntag nicht, da ist Abstand halten kein Problem.
Lustig: Es gibt hier Parkplätze knallig pinke und mit einem Storch markierte Parkplätze. Parkplätze für Schwangere, sowas habe ich noch nie gesehen.
So langsam mache ich mich auf den Weg zurück nach Siena, was 80 Kilometer entfernt liegt. Aber bis dahin hat Anna noch ein besonderes Ziel gespeichert, dass ich mir ansehen will. Der Ort Rappolano sieht auf Satellitenbildern an einigen Stellen skurril kaputt aus, und ich will sehen, was da los ist.
Kurz bevor ich die programmierten Koordinaten erreiche, geht es von der Straße runter und über einen Sandweg, an dem links und rechts dichte Büsche stehen. Ich gebe der V-Strom die Sporen und habe einen irren Spaß daran, die Maschine über den feuchten Schotter zu jagen und immer mal wieder das Hinterrad ausbrechen zu lassen. Der Weg führt bis zu einer alten Werkhalle, die anscheinend schon lange außer Betrieb ist. Ich halte davor und sehe mich um.
Ah, deshalb sieht das hier von oben so merkwürdig aus! Das ist ein alter Travertinsteinbruch!
Öh.
Ich muss schlucken als ich sehe, dass der Weg, den ich gerade so launig entlanggeheizt bin, unmittelbar an der Abbruchkante entlangführt. Hinter den Büschen am Wegesrand geht sofort 15 Meter in die Tiefe.
Der ganze Steinbruch ist praktisch in die Erde gegraben worden und ist nur von einem erhöhten Aussichtspunkt überhaupt sichtbar. Von Westen aus könnte man direkt vor ihm stehen und würde ihn nicht sehen. Von Osten aus sieht man, wie der Stein hier aus dem Boden geschnitten wurde. In rechteckigen Abbaulöchern steht das Wasser.
Auf dem Rückweg muss ich noch ein paar Mal anhalten und Bilder von dieser grandiosen Landschaft machen. Auch wenn alles stürmisch und grau ist, allein das Wechselspiel von Lichttupfern und Wolkenschatten auf dieser Leinwand von Landschaft ist toll.
In Siena steuere ich zum Stadion. An der Via dei Mille gibt es einen hundert Meter langen Parkplatz nur für Motorräder, aber heute heute ist der fast komplett mit Autos zugeparkt. Ich sehe auf die Uhr. Kurz vor halb sechs. Genug Zeit um schnell noch eine Besorgung zu machen.
Durch die Via della Sapienza, eine enge Gasse, geht es erst einen Hügel hinab, dann zur Altstadt wieder steil hinauf. Brunos Bar 900, schlechteste Spaghetteria der Stadt, in der ich immer gerne gegessen habe weil außer mir niemand da hin wollte, ist immer noch geschlossen. Wohl dauerhaft.
Beim Palazzo Salimbeni geht in die Bianchi die Sopra, eine zentrale, von hohen Häusern gesäumte Gasse, die die Piazza Giacomo Matteotti mit einem großen Parkplatz und die Innenstadt mit Campo und Dom verbindet. Die Gasse ist für Sieneser Verhältnisse recht breit, bestimmt fünf, sechs Meter. Dadurch ist sie auch ideal für den Giro, den abendlichen Spaziergang der Italiener. Das ist in nahezu ganz Italien ein festes, abendliches Ritual: Man brezelt sich auf und flaniert von links nach rechts und wieder zurück über Promenaden und Plätze, um sich dabei zu unterhalten und gleichzeitig von möglichst vielen Leuten beim bella figura machen gesehen zu werden.
Dooferweise ist genau JETZT die Zeit für das Spaziergangritual, und unversehens finde ich mich mit Hunderten von Menschen in dieser Gasse wieder. Nach mittlerweile sieben Monaten nahezu ohne Kontakt zu anderen Menschen ist das eine Situation, dass mich unvermittelt schockt. Für einen Moment bin ich wie erstarrt, während mein Hirn versucht die Situation zu verarbeiten.
Weitergehen oder sofort weg hier? Mein erster Reflex ist Flucht. Das hier sind so viele Leute, da kann man keinen ausreichenden Abstand einhalten. Immerhin ist es draußen – aber die Gasse ist hoch und gerade geht kein Wind. Was tun? Ich trage nur eine FFP2 Maske und bin kurz davor umzudrehen und die FFP3 aus dem Motorrad zu holen, aber dann reiße ich mich zusammen und gehe weiter.
Immerhin tragen auch alle anderen Maske. Diese Lektion hat man in Italien im Frühjahr auf die ganze harte Tour gelernt, nach den hohen Todeszahlen in Norditalien und dem anschließenden harten Lockdown inklusive Hausarrest trägt hier jeder eine Maske, vom kleinen Kind bis zum Greis, in Geschäften und auf der Straße. Da wird einfach nicht diskutiert.
Ich gehe weiter und nehme möglichst bald einen Abzweig in eine andere Straße. Hier ist ein Bißchen weniger los, und zu meinem großen Glück ist gerade kein anderer Besucher in Christinas Haushaltswarenlädchen. Hier finde ich, was ich gesucht habe: Zwei Mühlen aus Olivenholz, eine für Salz, eine für Pfeffer.
Wirklich schöne Stücke. Ich mache das ja seit ein paar Jahren, dass ich mir statt unnützer Souvenirs einfach Haushaltswaren mit nach Hause bringe, am Liebsten handgemacht. Auf diese Weise habe ich bei alltäglichen Tätigkeiten immer die Erinnerung an Reisen vor Augen.
Dann laufe ich zum Campo hinüber, dem legendären zentralen Platz. Hier ist auch nicht gerade wenig los, aber zumindest lässt sich Abstand halten.
Als ich den Platz quere, sehe ich eine Klasse französischer Schulmädchen. Die plappern aufgeregt durcheinander und machen gerade eine Art Mutprobe. Dabei stellen sich zwei Mädchen gegeneinander auf, und eines hustet oder spukt in den geöffneten Mund der anderen. Schwachköpfe.
Ich hole mir ein Eis, setze mich auf den Campo und denke “Auf Dich, Moppedzwerch”.
Aber irgendwie ist es nicht das gleiche wie sonst. Das hier ist nicht die entspannte Sommeratmosphäre. Ich bin angespannt und will hier schnellstens weg, und das mache ich dann auch.
Zurück am Motorradparkplatz stelle ich fest, dass die V-Strom links so dicht von einem zugeparkt ist, das kaum Platz zum Aufsteigen ist. Als ich umständlich in den Sattel klettere, verpasse ich dem Fiat einen ordentlichen Tritt gegen die Stoßstange. Also, aus Versehen. Sowas passiert, Arschlöcher.
Die Sonne steht schon tief, als ich wieder in Carpineto ankomme.
Mit einem Ichnusa non Filtrata mache ich es mir auf der Terrasse bequem. Allerdings nicht lange, irgendwie habe ich null Lust auf Tagebuchschreiben, und außerdem wird es schnell sehr kühl. Man merkt halt doch, dass schon Oktober ist.
Tour des Tages: Von Siena über Murlo nach Pienza, dann an Montepulciano vorbei bis Castiglione del Lago, dann über Rappolano zurück nach Siena. Rund 200 Kilometer.
0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradherbst (11): Unter Menschen ?“
Danke!
In diesen Platz habe ich mich verliebt, seit ich das erste Mal in deine Reiseberichte abgetaucht bin.
Für mich drückt er ein besonderes Lebensgefühl aus und irgendwann in diesem Leben werde ich auf diesem Platz ein Eis geniessen 😀
Hei zwerch,
dann pass bloß auf daß Dich kein Gaul anrempelt. Hahahahaha!
LIEBEn Gruß
rudi rüpel
Ich zeige Dir dann auch wo die Eisdiele ist, die gute 🙂
Da werden so viele Erinnerungen wach… U.a. die privat organisierte Reise meines Leistungskurses Italienisch nach Paciano, ganz in der Nähe des Lago Trasimeno ? Wieder einmal tausend Dank, mitgenommen worden zu sein ? Habe große Sehnsucht, diese Straßen mit dem Motorrad zu erfahren.
Hei Ellie,
Sie fahren jetzt aber keine Guzzi? Dann werden nämlich bei mit Erinnerungen wach.
LIEBEn Gruß
Hehe, nee. Noch nicht zumindest.
Bezüglich der Warnblinker hat japanische Ingenieurskunst auf germanischen Forscherdrang gehofft, der eines Tages den Zündschlüssel aus “Versehen” nicht nur auf Zündungsaus- sondern sogar noch ein Stück weiter rückwärts drehte.
Und siehe da…….das Ausdenken war schon vorher.?
wooooohooo.. DIE WOLKEN!!! und dann noch dieses NON FILTRATA… und das ICEICE… eine Frechheit! das hat mich jetzt echt das Wochenende beschäftigt… wie soll ich in der momentanen Situation damit eigentlich zurecht kommen? immerhin passt dieses Avatar diesmal wie die FaustaufsAuge… sprichwörtlich… ohmenno
…das mit dem Warnblinker muss ich direkt mal testen… ob das auch bei Bosch-Kunst tut?
Ellie: Es wird die Zeit kommen, da wir wieder diese Straßen unter den Reifen haben werden!
Ali: Echt jetzt? Nicht auf aus sondern auf “Lock”? Wäre ich nicht drauf gekommen – zumal es ja situtaitonen geben kann, wo man seie nicht mehr in die Lock-Position bekommt
Suse: Angeblich berechnet sich der Avatar ja nach der Mailadresse, aber manchmal passt der so gut, dass ich auch schon vermutet habe ob die Stimmung mit reingerechnet wird. 🙂
@silencer, Schalterei bezieht sich jetzt
auf Parklicht, lass mal Lock außen vor.
Hatte mich auch anfangs gestört, weil ich bei Stau auf Touren gerne den Warnblinker betätige um nicht vom Heck überholt zu werden.
Ok, Parklicht ist klar, das wusste ich. Aber ein Warnlicht, das nicht im Stand funktioniert, ist irgendwie schon skurril.
Genau da auf dem Campo in Siena hab ich vor ein paar Jahren genau ein Pistazieneis gegessen während nicht Schulmädchen spuckten sondern ein Chor (unplugged) für eine Fernsehaufnahme “Va pensiero” sang. Wiederholt. Tempi passati.
Nur 60 km oberhalb von Castiglione del Lago liegt Castiglion Fibocchi.
Dort findet man die Fattoria La Vialla, eine Biohof-Gemeinschaft.
Wir bestellen da hin und wieder Lebensmittel, die sind echt klasse. Und die haben auch ganz tolle Geschenkpakete für Mitarbeiter, Freunde, Familie 🙂
Kann ich sehr empfehlen: https://www.lavialla.it/de/
Ich war leider noch nie da.
Die abgeernteten Felder so grau zu sehen, ist schon seltsam 🙂