Reisetagebuch Motorradherbst (12): Città morte
Tagebuch einer kleinen Moppedtour im Pandemieherbst 2020. Heute in tote Städte.
Montag, 05. Oktober 2020, Carpineto, Siena
Das Wetter ist nicht der Hammer, aber immerhin regnet es nicht. Ich schwinge mich auf die V-Strom und fahre los – etwas anderes als das ist in der Pandemie ohnehin kaum möglich. Alle Dinge, die ich sonst auf Reisen gerne mache – Burgen besichtigen, Museen angucken, an irgendwelchen Kursen teilnehmen – fallen jetzt flach, einfach weil Kontakte mit anderen Menschen zu gefährlich ist. Abgesehen davon: Zu etwas anderem als Motorradfahren habe ich auch gerade keine Lust. Nur die V-Strom und ich, und gemeinsam möglichst viel Straßen unter die Reifen nehmen, das ist es, wonach mich heute gelüstet.
Aus der Peripherie von Siena geht es gen Süden, durch das malerische Val d´Orcia, vorbei an Bagno Vignoni und durch die fast unbewohnte Crete Senesi.
Hier ein Häuschen besitzen, das wär´s. Tatsächlich stehen hier und da unbewohnte, pittoreske Steinhäuschen auf den Hügeln herum. Wobei “pittoresk” in diesem Zusammenhang synonym ist für “fällt zusammen wenn man es scharf anguckt”.
Ich folge der Strada Regionale 2 durch einen Tunnel unter einer Bergkette am südlichen Ende der Crete, und dann weiter nach Süden, von der Toskana bis ins Latium, das ist die Region um Rom herum.
Neunzig Kilometer nördlich der italienischen Hauptstadt liegt der Bolsena See, aber den lasse ich links liegen und fahre nach Osten, auf die Berge des Apennin zu. Das Motorrad rollt durch die Gassen des Örtchens Bagnoregio und kommt kurz darauf auf einem Parkplatz zu stehen.
So schlechte Motorradparkplätze sieht man auch selten. Parkt man vorwärts ein, wie eigentlich gedacht, muss man das Motorrad beim Ausparken rückwärts gegen eine Steigung schieben. Aber egal wie rum ich hier parke, für die Barocca sind die aufgemalten Boxen zu klein. Vermutlich sind die nur für Vespas gedacht. Egal. Heute ist hier nichts los, außer der V-Strom steht hier nur ein anderes Mopped rum.
Ich schließe den Helm ein und gehe in Richtung Belvedere, der “Schönen Aussicht”. Wenn ich nicht schon wüsste was mich hier erwartet, beim Anblick der Aussicht würde mir der Mund offen stehen bleiben. Aus zwei Gründen: Zum einen ist die Landschaft hier selbst schon ein Hingucker. Jahrhundertlange Erosion haben den harten Ton unter dem Mutterboden von Hügelketten und Berghängen freigelegt. Zurückgeblieben sind Strukturen, die woanders “Erdpyramiden” genannt werden.
Der zweite Hingucker ist aber Bagnoregio, und zwar der alte Ort. Da wo ich vorhin durchgefahren bin, das war Bagnoregion in der neuen Version 2.0.
Das Original, Civita di Bagnoregio, scheint vor mir über der bizarren Landschaft zu schweben.
Die Altstadt befindet sich nämlich auf einem hohen Felsen, mitten in einer Schlucht. Der Ort ist schwer zu erreichen – so schwer, dass da heute niemand mehr wohnen möchte. Civita di Bagnoregio nennt sich selbst cittá morta, die tote Stadt. Ein Fußgängerbrücke verbindet das alte Bagnoregio mit dem Rand der Schlucht.
Für fünf Euro Eintritt darf man als Tourist über die Brücke spazieren und sich den Ort angucken, in dem es neben der Kirche und nicht zugänglichen Wohnhäusern nur noch einige Kunsthandwerksgeschäfte, ein halbes Dutzend Andenkenläden und ein paar Restaurants gibt.
Ich flaniere eine halbe Stunde durch die Gassen, dann kehre ich zurück zum Motorrad und fahre raus aus Bagnoregio und nach Süden.
Die V-Strom braucht Benzin, und bei Viterbo hat Anna eine Q8-Tankstelle gefunden, die auch meine Kreditkarte akzeptiert. Frisch aufgetankt geht es wieder gen Norden, dieses Mal an der anderen Seite des Bolsena Sees vorbei und bei Acquapendente wieder auf die SR2 Richtung Siena.
Die dunklen Wolken über der Crete sind schon von weitem zu sehen, und tatsächlich entladen sie sich ohne Hemmungen. Der Regen platscht auf die Straße. Selten so eni Schietwetter hier erlebt.
Unter dem Vordach einer Tankstelle ziehe ich die Regenklamotten über und fahre weiter, bis ich irgendwann wieder die heimelige Wärme der Villa Allegria erreiche. Trotz des Regens war das ein netter Ausflug, immerhin 313 Kilometer stehen am Ende auf der Uhr.
Während die Regensachen im Kaminzimmer trocknen, brutzele ich mir in meiner Küche etwas nettes zu Abend und schlafe danach vor dem Fernseher ein.
06. Oktober 2020, Siena
Hinter Carpineto, wo die Villa Allegria liegt, geht es in die Hügelliege Region von Sovicille. Alles sehr ländlich geprägt, und es gibt hübsche Kurvenstrecken.
Über die scheuche ich heute morgen die V-Strom, bis wir in Colle di Val d´Elsa ankommen.
Der kleine Ort 30 Kilometer nordwestlich von Siena ist für zwei Dinge bekannt: Erstens Glasbläserei und zweitens, das die Altstadt auf einem Bergrücken hoch über der Neustadt liegt und über Aufzüge vom neuen Ort erreichbar ist.
Dooferweise habe ich mir einen Parkplatz in der Neustadt ausgesucht und laufe mißmutig durch den gar nicht mal so schönen Ort. Ich sehe die Altstadt nicht einmal, weil der Bergrücken mit seiner schmalen Seite zur Neustadt zeigt und aus meiner Perspektive gerade nur wie ein Berg mit Wald aussieht.
Zum Vergleich: Das hier ist die glorreiche Altstadt von Colle di Val d´Elsa in all ihrer Pracht:
Und maximal so, nur mit Häusern davor, sehe ich den Berg und komme nicht mal auf die Idee, dass sich hinter dem Gewurschtel ein ganzer Ort verbergen könnte.
Egal, ich habe keine Lust hier verlorene Altstädte zu suchen. Dafür ist das Wetter auch schon wieder zu schlecht, es ist windig und immer wieder gibt es Regenschauer. Mißmutig tappe ich durch eine unbelebte Fußgängerzone in der Neustadt. Hier ist echt gar nichts los. Colle di Val d´Elsa ist auch eine citta morta.
dann fahre ich weiter nach Monteriggioni. Das kleine Wehrdorf mit seinen 64 Einwohnern hat eine lange und bewegte Geschichte. In der Renaissance, als die Stadtstaaten miteinandern im Clinch lagen, gehörte das Dorf mal zu Siena, mal zu Florenz.
Ein paar Kilometer hinter Monteriggioni ändert sich die Landschaft ganz plötzlich. Ganz unvermittelt gehen die sanften Hügeln und Felder um Siena über in grün bewaldete Berge, Ausläufer des Apennin. Das ist das Chianti, und auf kleinen und kleinsten Sträßchen kurve ich über Berggrate.
Kurz vor Greve, dem wichtigsten Ort der Region, sind alle Hänge mit Wein bewachsen. Nur Wein, der von hier kommt, darf sich Chianti nennen und den schwarzen Hahn, das Symbol der Region, im Siegel tragen.
Ich kaufe heute lediglich einen Korkenzieher, denn so welche wie hier gibt es sonst nirgendwo zu kaufen. Sehen nach nichts aus, halt wie ein Kellnermesser aus Plastik, haben aber eine einzigartige Schnappmechanik.
Den Rückweg fahre ich unnötig kompliziert, natürlich auch wieder um Kurven mitzunehmen und möglichst viel von der Landschaft zu sehen.
Zurück in Siena wird die V-Strom noch einmal voll betankt. Heute waren es nur 160 Kilometer, aber morgen haben wir einen weiten Weg vor uns. Ich bin ein wenig traurig, dass die vier Tage in Siena schon wieder vorbei sind. Aber nun, ich habe allein in Italien mehr Lieblingsorte als Jahresurlaub, da kann ich nicht an jedem eine Woche bleiben.
Und weil es morgen losgeht, muss ich die Wohnung abreisefertig machen. Zu meinem Erstaunen wird in der Straße der Villa Allegria jetzt streng auf Mülltrennung geachtet.
Am Abend unternehme ich noch einen kleinen Spaziergang über die umliegenden Hügel.
Als ich zurück komme, wir es bereits dunkel und die Straße sieht bizarr aus. In der Ferne bellt ein Hund. Würde ich jetzt schon wissen, was mir morgen bevor steht, ich würde den ruhigen Moment mehr genießen.
0 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradherbst (12): Città morte“
Hihi, du warst schon einmal in der Altstadt in Colle di Val d´Elsa. 2010 sind wir mit dem Aufzug zusammen hochgefahren. Auch damals war da allerdings nix los.
Funfact: Das wichtigste was in dem Ort gemacht haben, war damals auch, einen Korkenzieher zu kaufen, wie du an diesem Tag.
Lässt sich daraus jetzt schließen das dieser Wunderkorkenzieher eine Lebensdauer von 10 Jahren hat?
Modnerd: Wie könnte ich das nach alten Socken riechende “Sporthotel Kristall” vergessen, wo ab sieben Uhr Morgens die Leute Tennis vor dem Fenster gespielt haben. Oder wie die Leute trotz bester und soundeffektuntermalter Pantomime so taten, als würden sie nicht verstehen was wir wollten, bis es nach langem Drama doch klappte und wir dann das Wort “Cavatappi” lernten. Damals waren wir ja hauptsächlich in der Oberstadt unterwegs, jetzt wollte ich mal die Unterstadt sehen.
Zimt: Der kaputtgegangene war nicht der Korkenzieher von damals. Der musst vor dem Rückflug wieder entsorgt werden.