Reisetagebuch Motorradherbst (14): Beim Moto GP

Tagebuch einer kleinen Motorradtour im Pandemieherbst 2020. Die Barocca liegt mit einem platten Reifen in Florenz. Fortsetzung von dieser Misere hier.

Immer noch Mittwoch, der 7. Oktober 2020, Reifenwerkstatt Pecchioli, Via Petraca, Florenz

Die Via Petrarca führt genau an der Stadtmauer des alten Florenz entlang. Ein Stück die Straße hoch liegen die Boboli-Gärten, und auch der Ponte Vecchio ist nur einen Steinwurf entfernt.

Das hier ist nicht das Touristen-Florenz, das hier ist das Florenz auf der anderen Seite des Arno, südwestlich der Sehenswürdigkeiten, das den Florentiner:innen gehört. Grafittibesprühte Läden, große Stadthäuser mit kleinen Wohnungen, dichter Stadtverkehr, Abgase.

In einem der Wohnhäuser an der Via Petrarca ist ein Tor, gerade mal groß genug für einen PKW. Dahinter öffnet sich eine weite und verschachtelte Reifenwerkstatt. Sie nimmt das ganze Erdgeschoss des Hauses ein und wirkt wie eine Höhle.

Auf dem Gehweg vor der Werkstatt steht die Barocca mit plattem Hinterreifen. Im Eingang zur Reifenhöhle stehe ich mit einem schlaksigen Werkstattmechaniker in einem schwarzen Overall und sage „Ich bin auf Reisen und habe eine Reifenpanne. Können Sie mit helfen?“. Der Mann guckt ernst durch seine randlose Brille und sagt dann „Das ist ein Motorrad“.

Den Satz habe ich heute schon zu oft gehört, jedes mal gefolgt von einem „Motorräder machen wir nicht“. Wenn das hier jetzt auch so ist, dann weiß ich nicht mehr weiter.

Ich atme tief ein und zähle innerlich bis drei. Immerhin, direkt neben der Werkstatt gibt es ein B&B mit freien Zimmern. Wenn die Werkstatt nicht helfen will oder kann oder der Reifen nicht reparabel ist, dann übernachte ich einfach hier und mache mir eine schöne Zeit in Florenz.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sage sehr ruhig: „Das ist korrekt.“

„Motorräder mache ich nicht“, sagt der Mann. Ich kann spüren, wie in diesem Moment mein Herz auf den Boden fällt.

„Die macht bei uns nur ein Kollege, aber der ist gerade nicht da. Wenn er kommt, sage ich Bescheid“, sagt der Mann, dreht sich auf dem Absatz um und marschiert davon. Okay, immerhin.

Ich gehe zurück nach draußen, lehne mich an die V-Strom und warte, innerlich auf weitere Stunden eingestellt. Zumindest hat der Mechaniker nicht einfach „Machen wir nicht“ gesagt. Aber trotzdem, an der schroffen Art sowohl von dem Typen hier, als auch von diesem Matteo von vorhin merkt man, dass das hier Großstadt ist.

Ein alter Mann tapst gebeugt den Gehweg entlang. Neugierig beäugt er die V-Strom, dann spricht er mich an.
„Du bist aber nicht von hier, oder?“, fragt er mit diesem florentinischen Akzent, den ich nur schwer verstehen kann.
„Hm“, murmele ich. Der Alte beugt sich vor und inspiziert das Kennzeichen der V-Strom.
„Aus Deutschland? Bist Du auf Reisen?“, fragt er neugierig, dann mustert er die Maschine rundrum.
„Gerade nicht so einfach, was? Dein Reifen ist ja ganz platt“, sagt das Männlein und keckert.

Ich besehe mir den Witzbold genauer. Er ist bestimmt fast 70, einen Kopf kleiner als ich klein und gebeugt. Die schütteren, weißen Haare sind zerzaust und so seltsam um seinem Kopf drapiert, als hätte ein Vogel versucht ein Nest zu bauen und nach kurzer Zeit aufgegeben. Er trägt eine OP-Maske schief im Gesicht, so das eine Hälfte von Mund und Nase bedeckt sind und aus der anderen eine selbstgedrehte Zigarette heraushängt. Irgendwie wirkt der Mann ein wenig wie Yoda.

„Na, hast ja Glück, das Du vor einer Reifenwerkstatt liegen geblieben bist, was?“, sagt der Mann und keckert noch ein wenig lauter über seinen eigenen Witz. Normalerweise würde ich spätestens jetzt wütend werden, aber irgendwie ist das Kerlchen so skurril, dass ich gar nicht dazu komme.

„Na, allerdings musste da jetzt mal reinfahren, sonst wird das nix“, sagt der Mann jetzt ernst.
„Gehören sie zur Werkstatt?“, sage ich. Das Männlein nickt und schnippt die Kippe weg.
„Können Sie mir helfen? Also, machen Sie Motorräder?“, frage ich.
Yoda mustert mich und sagt dann „Junge, ich war beim Moto GP, NATÜRLICH mache ich Motorräder!“
„Heute noch?!“ frage ich aufgeregt.
„Bring die Kiste rein, in 20 Minuten habe ich Dich wieder auf der Straße“, sagt der Mann.

Ich greife nach dem Lenker des Motorrads und kicke den Seitenständer weg.
„Nein! So kannst Du die doch keinen Zentimeter bewegen! Warte!“, sagt das Männlein und schlufft davon. Als er wiederkommt, trägt er einen schwarz-gelben Mechanikeroverall und hat einen batteriebetriebenen Kompressor dabei. Mit dem pumpt er den Hinterreifen der V-Strom auf, dann sagt er zufrieden „Vai!“ – los.

Ich starte den Motor und fahre die Barocca in die Tiefe der Reifenhöhle, nehme das Gepäck ab und bocke sie auf den Hauptständer. Yoda kommt hinter mir her getappst. Er macht sich am Heck zu schaffen, macht gefühlt drei Handbewegungen und hat schon das Hinterrad der V-Strom in der Hand.

Er bemerkt meinen verblüfften Blick und sagt „Ja nun, ich war beim Moto GP. Mein Name ist Alessandro“.
„Piacere“, sage ich automatisch, angenehm. So ohne Hinterrad sieht die V-Strom ziemlich traurig aus.


Alessandro rollt das Hinterrad raus auf den Bürgersteig und ein Stück weiter in eine kleine Nebenwerkstatt, die zwischen „Pecchioli Auto“ und „Pecchioli Moto“ direkt am Bürgersteig liegt. Anscheinend zieht sich die Werkstatt unter dem ganzen Häuserblock hin.

Alessandro hebelt den Reifen von der Felge und schleppt ihn zurück in die Reifenhöhle, wo er zwischen Reifenstapeln verschwindet. Als ich ihn wiederfinde, steht er an einer kleinen Werkbank und schrubbelt im Reifen rum.

„Tsk“, macht er und runzelt die Stirn, und „Uh, nicht gut“.
„Können Sie den reparieren?“, frage ich.
Alessandro blickt auf und sagt „Junge, ich war beim Moto GP, das ist gar kein Problem. Was hat den denn so zugerichtet?“
Ich überlege, wie man „Knochensplitter“ auf italienisch ausdrückt, und mein Hirn kommt mit „Ein Stück Gebein“ um die Ecke.
„Echt?“, sagt Alessandro und murmelt „Man lernt nie aus“.

Er pinselt Vulkanisierlösung in den Reifen, dann legt er ihn beiseite, setzt sich auf einen Reifenstapel und dreht sich eine Zigarette.

Ich sehe mich ein wenig um. In der Werkstatt herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, und ein Plan an der Wand zeigt, wie groß sie wirklich ist – sie erstreckt sich nicht tatsächlich nur unter diesem Wohnhaus, sondern auch unter dem daneben. Ein wahres Reifenhöhlenlabyrinth.

Nach einer Zigarettenlänge rollt Alessandro den Reifen zurück in die Nebenwerkstatt und zieht ihn wieder auf die Felge auf, dann pumpt er ihn auf, wuchtet ihn aus und prüft die Dichtigkeit.

„So gut wie neu“, sagt er zufrieden und rollt ihn zurück in die Hauptwerkstatt.

Wenige Minuten später ist der Reifen wieder montiert und die Barocca startbereit. Ich kriege mich gar nicht ein vor Freude uns sage das auch. Alessandro freut sich darüber das ich mich freue und ruft „Warte“, dabei grinst er unter seiner OP-Maske. „Servicezeit!“ Ich protestiere, aber er lässt es sich nicht nehmen den Vorderreifen zu checken. „Ich war beim Moto GP, das geht in Nullkommnix“, sagt er, und obwohl ich weiß, dass der Vorderreifen genau den richtigen Druck hat, pumpt er ihn ein wenig auf. Na, egal.

Ich gehe in der Zwischenzeit bezahlen. Notfallservice, mitten in Florenz, eine halbe Stunde Arbeitszeit… was wird das kosten?

„15 Euro“, sagt der Mann an der Kasse. Was? Echt? Ich bedanke mich überschwänglich.

„Ja sicher. Eigentlich müssten wir dir danken, immerhin hatte unser Alessandro so mal wieder was zu tun. So viele echte Motorräder kommen dieser Tage nicht, meist muss er Reifen von Schubkarren und Rollern machen, das mag er nicht. Hat er Dir erzählt, das er mal beim Moto GP war?“
„Ich glaube, er hat es am Rande erwähnt“, sage ich.

Wenige Minuten später ist das Motorrad einmal gewendet (wobei es wieder erbärmlich quietscht) und steht mit der Nase zum Eingang. Das Gepäck ist wieder befestigt, Anna steckt im Cockpit und ich sitze im Sattel. Alessandro gibt das Daumen hoch Zeichen, und ich lasse den Motor an und sehe, wie das Garmin bootet. Bloß weg hier! Ich will endlich wieder auf die Straße und Kilometer machen!

In dem Moment meldet sich Anna in meinem Ohr. „Warnung. Luftdruck am Vorderreifen zu niedrig“.

WAS?! Am VORDERREIFEN? Ich checke das Display. Der Hinterreifen ist OK und hat sogar zu viel Druck, aber der Vorderreifen zeigt nur 1,6 Bar, schnell fallend. Was ist denn da los? Gleich fange ich an irre zu kichern. Ich habe eine Reifenpanne in einer Reifenwerkstatt!

Killschalter, Motor aus. „Alessandro, hier stimmt was nicht“, sage ich und klappe den Helm wieder auf.

„Das verstehe ich nicht“, sagt der alte Mann und fummelt am Ventil des Vorderreifens rum. Ratlos dreht er die schwere Ventilkappe in den Fingern, in der auch der Bluetoothsensor steckt, dann beginnt er sie auseinanderzudrehen.

„Nein, warte“, rufe ich. Ich habe einen Verdacht und gehe zu der Stelle, wo die Barocca repariert wurde.

Alessandro betrachtet mich dabei, wie ich ganz genau den Boden absuche. Fast sofort finde ich, was ich suche: Einen kleinen Gummiring, den ich zurück zu Alessandro trage.

„Ah, Dichtung“, murmelt er und drückt sie zurück in den Sensor, wo sie hingehört.

Die Dichtungen ziehen sich gerne mal unbemerkt aus den Sensoren, ist mir auch schon passiert, und genauso Alessandro bei seiner „Servicezeit“.

Er pumpt den Vorderreifen noch einmal auf, verschraubt die Ventilkappe wieder und guckt mich an. Ich checke den Reifendruck in Annas Display. Beide Reifen grün und stabil. Ich hebe den Daumen, starte erneut den Motor und dieses Mal rollt die V-Strom wirklich aus der Garage, über den Bürgersteig und hinein in den Stadtverkehr von Florenz.

Anna möchte links rum, ich fahre rechts und weigere mich zu wenden, und als Konsequenz kann ich drei Sekunden lang von der Piazzale Michelangelo den Blick über Florenz erhaschen, und dann stecke ich 30 Minuten in irgendwelchen Gassen fest.

Herrschaften, ich habe da keine Zeit für! Ich muss noch 300 Kilometer fahren und will endlich Strecke machen! Ich nehme Annas Beschränkungen auf mautfreie Straßen und die Vermeidung von Autobahnen raus, und sie führt uns auf die A1, die erst einen großen Bogen um Florenz macht und dann nach Norden führt. Ich bin eine riesige Schleife gefahren, die ich hätte vermeiden können, wenn ich nur am Anfang nach links abgebogen wäre. Nunja. Jetzt bin ich endlich wieder on the Road.

Als auch der letzte Speckgürtel von Florenz endlich hinter mir liegt, halte ich an einer Tankstelle um einen Schluck Wasser zu trinken und den Gehörschutz einzusetzen, den ich vorhin vergessen habe.

Das Telefon klingelt. Der ADAC ist dran, dieses Mal ein Mann. „Meine Kollegin hat Feierabend gemacht, aber ich sollte unbedingt noch fragen, ob ihnen denn jetzt geholfen wurde“, sagt er. „Bin wieder mobil“, sage ich. „Ticket kann geschlossen werden“. Aber schon cool, dass die von sich aus so ein Follow-Up machen.

Die Reifen, stelle ich fest, sind in Ordnung, aber jetzt habe ich ein anderes Problem. Auf der Autobahn sind mir Tropfen um die Ohren geflogen, die aus dem Cockpit der V-Strom zu kommen schienen. Jetzt suche ich nach der Quelle und merke, dass unter dem rechten Handgriff eine leicht ölige Pfütze in der Verkleidung steht. Oh nein, das ist doch nicht – doch, ist es. Bremsflüssigkeit.

Als ich die Barocca vorhin beim Versuch den Reifen zu flicken umgeworfen habe, ist sie anscheinend so unglücklich gefallen, dass die Halterung des Handprotektors gegen die Befestigung des Bremsschlauch am Ausgleichbehälter geschlagen ist, und die ist nun undicht geworden ist. Der Behälter hat keinen Riss, also muss es aus der Dichtung zur Bremsleitung raussuppen.

Schöne Scheiße. Ich versuche die Mutter am Schlauch etwas stärker anzuziehen, aber die sitzt schon bombenfest. Egal, weiter.

Ich fahre in die Berge des Appenin und gebe der V-Strom die Sporen. Die Strada Provinziale, die parallel zur Autobahn verläuft, ist hier wirklich schön und kurvenreich, aber ich bleibe auf der mautpflichtigen Schnellstraße. Ich muss Strecke machen – Strecke machen – Strecke machen. Durch die doofe Reifengeschichte habe ich fast 5 Stunden verloren, deshalb muss ich nun die Abkürzung nehmen und kann mich nicht mit der romantisch schöneren Strecke aufhalten.

Ein letztes Mal auf dieser Tour geht es durch den Apennin und auf Bologna zu. Kunststück, in Norditalien führen ALLE Autobahnen nach Bologna. Einmal um die Stadt rum, dann an Ferrara vorbei und über die Po-Ebene. Die Sonne geht langsam unter und es wird kühl, und als ich zum Tanken anhalte, wechsele ich auf die dicken Handschuhe.

Weiter geht´s, an Rovigo vorbei und um Padua rum, dann in Richtung Venedig. Die Schatten, die die V-Strom auf die Mittelleitplanke wirft, werden länger und undeutlicher und verschmelzen dann mit der Dämmerung.

Tour des Tages: Von Siena eine Schleife um Florenz, dann bis nach Treviso. 391 Kilometer.

Bei Dolo, zehn Kilometer vor Venedig, fahre ich von der A57 auf die A4 bis Treviso. Jetzt bin ich schon vor der Haustür meines heutigen Ziels, mache aber noch einen kleinen Schlenker und fahre in den Nachbarort Olmi.

Im dortigen Einkaufszentrum laufe ich in den Supermarkt und kaufe schnell ein Kinderbuch und ein Feuerwehrauto, dann steuere ich die V-Strom im Dunkel zurück nach San Biaggio di Callalta.

Als ich von der Provinzstraße abbiege, liegt die hell erleuchtete Offiziersvilla wie eine Oase des Lichts inmitten von dunklen Feldern. Ich steuere über den Gehweg und parke die Barocca unter einem Pavillon auf einer Terrasse neben dem geschotterten Parkplatz.

Kurz darauf marschiere ich in den Empfangsraum, müde, schmutzig und abgerissen. Sara blickt vom Bartresen auf und lächelt. „Na guck an wer endlich da ist. Hast Du den Weg nach Hause gefunden?“

Ich beziehe mein übliches Zimmer, die 101, nehme eine lange Dusche und gehe dann wieder in den Gastraum. Der Restaurantneubau ist mehr als nobel und auf große Familienfeiern ausgelegt – die im Pandemiejahr 1 aber nicht stattfinden konnten. Das hat Sara und ihrem Mann Francesco sehr zugesetzt, und ich hoffe, die beiden können die Villa Maria Luigia irgendwie halten. Aber noch scheint Sara ganz gute Laune zu haben, als ich an den Tresen trete und sage „Hätten Sie wohl einen Tisch für eine Person, Madame?“ Sie lacht und sagt „Natürlich, wenn der Herr mir bitte folgen möchte?“

Außer mir sind nur zwei weitere Gäste da, die heute Nacht auch im Gasthaus übernachten werden. Alle halten Abstand, und Sara trägt eine schwarze Maske. Francesco sehe ich gar nicht, aber er muss da sein, woher sonst sollte das hier kommen:

Leckere Spaghetti saltati all´Astice su crema di Porcini (Spaghetti mit Hummer auf Steinpilzcreme)

Und Guancetta di Vitello brasata con Pure´ di Patate (geschmorte Kalbsbacke mit Kartoffelpürree, das in Blätterteig eingeschlagen ist).

Nach dem Festmahl setzt sich Sara zu mir an den Tisch. Die anderen Gäste sind schon gegangen. „Bleibst Du noch ein wenig?“, fragt sie. „Wollte ich eigentlich, aber ich hatte heute eine Reifenpanne und jetzt leckt die Bremse. Ich möchte eigentlich lieber nach Hause, bevor die kaputt geht“, sage ich.
„Vielleicht brauchst Du einfach mal ein neues Motorrad? Also, ein modernes?“, versucht sich Sara an einem hilfreich gemeinten Vorschlag und fügt, als sie meinen bösen Blick bemerkt, schnell hinzu „also, ich habe ja keine Ahnung von sowas, ich höre immer nur von Problemen, wenn Du hier bist“.

Naja, das stimmt so auch nicht. Das war nur 2012, als bei der ZZR der Tacho kaputt war. Und 2016, als bei der Kawasaki die Lichtmaschine defekt und der Gepäckträger zerbrochen war, aber die V-Strom macht keinerlei Probleme. Und eine Reifenpanne kann man mit jedem Mopped haben. Aber klar, bei Sara komme ich immer am Ende einer Reise an, und nach x-Tausend Kilometern ist schon mal was nicht ganz optimal.

In der Nacht bin ich so von einer inneren Unruhe erfüllt, dass ich kaum einschlafen kann. Zu verlockend ist der Gedanke, bereits morgen zu Hause und im eigenen Bett zu sein. Deshalb stehe ich ganz früh auf, als gerade erst die Sonne aufgeht, mache die V-Strom abreisefertig und schiebe sie auf den Gartenweg vor der Villa.

Knapp zehn Grad zeigt das Thermometer, aber durch die Nähe zum Meer ist die Luft feucht und fühlt sich dadurch noch kälter und klamm an. Die Scheibe der Barocca ist beschlagen.

Ich frühstücke in Formel-1-Tempo und plaudere nur kurz mit Sara, dann mache ich mich auf den Weg.

Zum Abschied stelle ich das Feuerwehrauto auf den Tresen. „Für Ihren Herrn Sohn, Madame“
„Oooh, da wird er sich freuen!“, sagt Sara.

Im Garten mache ich mich abreisefertig. „Und Anna, wie sieht´s aus. Wollen wir heute ein paar Kilometer machen?“, frage ich. Die „paar“ sind 1.057 Kilometer, für die Anna etwas mehr als 11,5 Stunden Fahrzeit vermutet. Zu optimistisch, unter 13 wird es nicht werden. Ich starte den Motor und steuere die Maschine über den Gartenweg, dann hinaus auf die Straße.

Ich fahre die Strecke über Udine und dann durch die Alpen mindestens zum dritten Mal auf der Autobahn, aber trotzdem finde ich die Strecke wieder schön. Die Sonne schiebt sich über die Berge, und in der dunstigen Luft sieht man die Lichstrahlen, die in die schattigen Täler schneiden. Es ist nur recht kalt, zwischen 1 und 5 Grad.

Den Stop in Malborghetto, kurz vor der italienisch-österreichischen Grenze, nutze ich nicht nur um die Mautvignette zu erstehen, sondern auch um die Regenjacke überzustreifen, als Windschutz.

Dann geht es um Villach herum und über die Tauernautobahn durch die Berge, an Salzburg vorbei und nach Westen bis München und von dort stracks nach Norden. Es ist kühl, aber in der Sonne aushaltbar.

Wieder bin ich erstaunt, wie lange ich doch im Sattel der V-Strom sitzen kann, ohne Probleme mit schmerzendem Hintern oder steifen Gelenken zu bekommen. Selbst mit der neuen und überarbeiteten Sitzbank, die seit Anfang des Jahres von Meister Bernhard etwas abgepolstert und verschlankt. Bei der ersten Probefahrt hatte ich befürchtet, dass das Gelkissen an der verkehrten Stelle sitzt, aber tatsächlich ist alles prima. Weder der reduzierte Schaumkern noch der etwas andere Kniewinkel machen Probleme.

Die Sonne geht unter, und mit der Dunkelheit kommt die Kälte. Ich fahre stoisch weiter, das hier ist nichts gegen den eisigen Regen vor einigen Tagen. Außerdem weiß ich einfach, dass ich die Strecke bewältigen kann. Ist immerhin schon das dritte Mal, dass ich in einem Rutsch von Venedig nach Göttingen fahre. Das Bißchen Kälte oder die Tatsache, dass es jetzt auch noch beginnt zu regnen, ist nicht so wild.

Nein, mein Problem ist ein anderes.

Die Autobahn leert sich, und das bedeutet, das nun die Stunden der Raser angebrochen sind. Als Dienstwagen für wichtige Leute sind gerade tonnenschwere SUVs mit mehreren Hundert PS in Mode, und die Dinger nerven wie Sau, wenn damit gerast wird.

Ich nähere mich mit meinen 130 km/h einem LKW, möchte den überholen, blicke in den Rückspiegel und sehe Kilometerweit hinter mir nichts. Ich setze den Blinker und ziehe raus – ZACK, hängt mir eines dieser Monster-SUVs auf der Rückbank. Es sind tatsächlich auch immer die gleichen Modelle – BMW X6 und X7 und Audi Q6 und Q8, die mit weit mehr als 200 Kilometern pro Stunde im Dunkeln und bei Regen über die Autobahn rauschen. DAS ist es, was mir Furcht bereitet.

Außerdem zeigt Anna, dass sich von Nordwesten her eine Unwetterfront mit viel Regen heranschiebt. Die wird fast zeitgleich mit mir in Götham eintreffen, es ist eine Frage von vielleicht 30 Minuten, ob ich in starken Regen gerate oder nicht. Ich spare mir jegliche Pinkelpause und gebe mehr Gas, und tatsächlich komme ich in Göttingen an, als gerade die ersten Vorläufer des heftigen Regens einsetzen.

Als die Barocca um 20 Uhr und 2 Minuten in die Garage rollt und das Motorengeräusch verklingt, bin ich froh es geschafft zu haben. Und das in neuer Rekordzeit, nur 12,5 Stunden habe ich dieses Mal gebraucht. Das ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Bayern auf die Folklore ihrer „Grenzkontrollen“ verzichtet haben und es deshalb keinen Stau an der Grenze gab.

Ist auch geil: Da machen die jahrelang „Grenzkontrollen“, die sich darauf beschränken einen künstlichen Stau zu produzieren und die im Schritttempo vorbeirollenden Autos böse anzugucken, und in Coronazeiten werden sämtliche Kontrollen ausgesetzt. Ich habe an der Grenze ein Zelt gesehen, auf dem „Coronatest“ stand, aber da passierte nichts.

Egal. Wir haben den Regen ganz knapp geschlagen, sagt Anna.

Die kleine Herbsttour ist vorbei. Insgesamt achtzehn Tage, 5.575 Kilometer:

Die Tour war unspektakulär, weil sie fast nur an Orte führte, die ich ohnehin schon kannte. Das war tatsächlich Absicht, weil nur so das COVID-Risiko für mich einschätzbar war. Ich wusste bei den besuchten Orten einfach, dass ich da allein bin und Kontakte weitgehend vermeiden konnte.

In weiten Teilen war die Tour eine Reprise der Fahrten von 2013 und 2017, an so menschenleere und abgelegene Orte wie der Trout Lodge in Collagna oder La Vecchia Fontana in den Abruzzen. Jede Unterkunft bei ganz lieben und herzlichen Menschen, die mich in Ruhe gelassen haben, aber jederzeit für mich dagewesen wären.

Während der Fahrt stellte sich ein Gefühl von gesunder Einsamkeit ein, aber auch von Traurigkeit. Trauer um eine Welt, die durch die Pandemie verändert und kleiner wird.

Schön war, dass ich in den Marken einen sehr besonderen Ort mit sehr besonderen Menschen gefunden habe. Mit Marco bin ich mittlerweile über Facebook in Kontakt, und das war bestimmt nicht der letzte Besuch in den Marken.

Unschön war natürlich das Wetter. Eisregen, Sturm… das war zum guten Teil nicht toll. Schockierend war die Entdeckung der Schäden durch die Erdbeben. Das von Castelluccion und von Norcia und den anderen Orten in der Region der Sibyllinischen Berge kaum noch etwas steht, das hat mich echt mitgenommen.

Völlig überflüssig waren natürlich auch die Reifenpanne und die beiden Umfaller. Die Kratzer, die sich die V-Strom dabei zugezogen hat, sind mir egal, aber tatsächlich hat dabei die Dichtung am Bremsflüssigkeitbehälter gelitten, weil der Handprotektor beim Sturz gegen den Schlauch gedrückt hat, und die Halterung des ABS-Sensors vorne hat sich verbogen, was das erbärmliche Quietschen beim Wenden erklärt. Das ist alles schon wieder repariert.

In der Summe war die Reise also un- und entspannend, aber immerhin bin ich mal rausgekommen. Das brauchte ich nicht nur wegen der sieben Monate Pandemie, sondern weil ich den Rest des Jahres wirklich am Limit laufe und meine geistige Gesundheit nur behalte, weil ich mich so viel mit dem Thema Motorradtour beschäftigen kann und dann auch tatsächlich eine mache.

Dennoch gilt immer noch, was ich 2019 schon meinte: Italien habe ich echt durchgespielt. Falls und wenn wir die Pandemie endlich in den Griff bekommen, muss es jetzt endlich woanders hingehen. Pläne für Schottland, Rumänien, Polen und Griechenland liegen schon in der Schublade, und ich hungere nach neuen Eindrücken und Begegnungen.

Aber das wird wohl nichts vor dem Herbst 2021, und deshalb war das hier jetzt die letzte Folge des Reisetagebuchs für sehr lange Zeit.
Vielen Dank für´s Mitreisen!

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Kategorien: Motorrad, Reisen | 8 Kommentare

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8 Gedanken zu „Reisetagebuch Motorradherbst (14): Beim Moto GP

  1. Sehr schöne Geschichte! Bei mir würde viele schon daran scheitern, dass ich kein Italienisch spreche. Gruss Lupo

    Gefällt 1 Person

  2. ruediger

    danke fürs mitnehmen… wie immer.

    Gefällt 1 Person

  3. zwerch

    Vielen Dank 🙂

    Gefällt 1 Person

  4. Danke für die Story!
    So wie Du Italien, so habe ich in den 80er bis 90ern Spanien und Frankreich „durchgespielt“. Meine Frau wundert sich heutzutage bei Fahrten dorthin, wo ich mich denn immer so auskenne… 😉
    Hoffentlich geht es bald wieder. Bleib gesund!

    Gefällt 2 Personen

  5. Anonymous

    Was für eine gewaltige Tour!
    Gelesen hat sich das jetzt nicht entspannend, aber schön wenn es das für dich war!
    Danke fürs Mitnehmen!

    Ich brenne schon darauf zumindest kleine Ausflüge und Touren mit dem Campingbus und dem Kind zu machen, aber noch sehe ich da keine Optionen… Bus wird dennoch bald aus dem Winterschlaf geweckt und dann mal ausprobiert.

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  6. Ich drücke die Daumen! Angeblich harmonieren Bus und sehr kleine Kinder ja gut – ein Mitarbeiter von mir ist mit seinem T4 und 2 Babys
    an Bord drei Monate durch Europa getourt weil er meinte: „So lange sie noch in eine Tasche passen, bietet der Bus noch genug Platz“.

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  7. Zauberer

    Vielen Dank für diese Reise mit dir. Immer wenn mir mal danach ist, komme ich hier vorbei zum Stöbern.

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  8. Bist immer herzlich willkommen. Und jetzt viel Spaß auf dem Harztreffen!

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