Reisetagebuch Motorradherbst 2021 (3): PLF Florencia
Im Herbst 2021 bin ich unterwegs gen Süden. Heute mit mehrfachen Umwegen, Regen-aus-dem-Nichts, einer schönen Benzinaia und einem irritierenden Ausdruckstänzer. Ach ja, und vor mir geht ein Auto in Flammen auf.
Dienstag, 21. September 2021, San Biaggio di Callalta
Ein kurzes Frühstück im honigwarmen Frühstücksraum der Villa Maria Luigia, eine schnelle Verabschiedung von Sara und Francesco, und um kurz nach 8 Uhr rollt die Barocca durch den Ziergarten der Villa, zieht auf die Landstraße und pöttert durch das Veneto.
Der Himmel ist bedeckt und die Luft mit 15 Grad auch nicht besonders warm, aber immerhin: Es reicht für die Sommerhandschuhe und es regnet nicht. Man freut sich ja auch über Kleinigkeiten.
Dieser Landstrich ist so unsäglich langweilig, das mein Hirn fast sofort auf Autopilot schaltet. Gewerbegebiete reihen sich an Felder, auf denen vereinzelt Häuser rumstehen. Alles ist flächendeckend besiedelt, auch zerfranste Dörfer gehen ineinander über, und dazwischen stehen einzelne Wohnhäuser oder Mittelstandsunternehmen. Das Veneto und die im Westen angrenzende Lombardei sind das Mittelstands-Powerhouse Italiens. Hier sitzen viele der italienischen Weltmarken, die meist als Familienunternehmen angefangen haben oder es immer noch sind. Auch im Motorradbereich, Firmen wie Alpine Stars oder Nolan oder Dainese haben hier ihren Ursprung und meist noch ihre Firmenzentrale und, wenn auch nicht den Großteil der Fertigung (die wurde bei den Klamottenherstellern nach Vietnam ausgelagert, so doch mindestens ein Outlet, und auch viele Automobilzulieferer und so gut wie jede Outdoormarke hat hier ihre Verwaltung oder eine Verkaufsdependence.
Die dichte Besiedlung ist sogar aus dem Weltraum zu erkennen, diese Region leuchtet nachts heller als das Ruhrgebiet (Quelle: NASA).
Durch die Landschaft schneiden breite Straßen, die sich an unzähligen Kreiseln kreuzen. Anna hat ein Strecke Richtung Küste gerechnet, biegt aber kurz davor ab auf eine Staatsstraße. Nun geht es gen Westen, an der Lagune von Venedig entlang, deren Küste hier mit dem Flughafen Mestre und zahlreichen, ineinander verschmolzenen Industriegebieten zugebaut ist.
Mestre und Marghera, die beiden Petrochemie-Städte auf dem Festland, wo heute die meisten Venezianer leben, sind einfach nur Ausgeburten der Hässlichkeit. Geblendet von den Abscheulichkeiten am Wegesrand verfahre ich mich hier prompt – im Gewirr der Baustellen einmal falsch abgebogen, und schon bin ich plötzlich auf dem Weg über die Brücke, die in der Altstadt von Venedig, draußen in der Lagune, endet. Nein, das will ich heute nicht.
Die gleiche Nummer passiert mir auch noch einmal in der Stadt Chioggia, 25 Kilometer weiter südlich. Hier gibt es auf einer Halbinsel am Stadtrand so viele Betonrampen und Schnellstraßen und Kreisel, die über- und untereinander entlanglaufen, dass ich es irgendwann nicht mehr raffe, eine verkehrte Abfahrt nehme und plötzlich auf dem Weg in die Stadt bin. Verdammt, das ist mir vor einigen Jahren schon mal passiert, genau an derselben Stelle! Aufregen kann ich mich darüber nicht, ich habe es nicht eilig, aber viel zu sehen gibt es hier auch nicht. Anna spielt hier ihre Stärken aus und lotst mich mit präzisen und schnellen Anweisungen durch die Gassen und Straßen der Stadt, bis ich wieder auf die Schnellstraße Richtung Süden finde.
Spaß macht auch das Fahren hier nicht, denn Straße ist hier die Aorta des Schwerlastverkehrs, die östliche Hauptverkehrsachse von Nord- nach Süditalien. LKW schiebt sich hier hinter LKW her. Man kann sich nur dahinterhängen und dann eingekeilt zwischen den Lastwagen mit Tempo 60 die meist strichgerade Straße runterdödeln. Überholen ist nur sinnvoll, damit man zwischendurch nicht einschläft, Zeit gewinnt man dadurch nicht, denn unmittelbar nach dem Überholvorgang hängt man sofort wieder zwischen LKW. Zu sehen gibt es auch nichts, das Land ist platt wie ein Bügelbrett und außer Wiesen und Gewerbegebieten gibt es hier nichts.
Immerhin bin ich jetzt definitiv auf dem richtigen Weg, denn das hier ist die E55, und die führt von Helsingborg in Schweden über Deutschland, Tschechien, Österreich, Slowenien, ganz den italienischen Stiefel hinab bis nach Kalamáta in Griechenland. Unterwegs mogelt die Straße natürlich ein wenig, zwischen Brindisi in Italien und Igoumenitsa in Griechenland muss man die Fähre nehmen, aber es ist Idee, die zählt: Europa ist so grenzenlos, dass man auf einer Straße von Schweden bis nach Griechenland kommt! Aber soweit sind wir gerade noch nicht, jetzt stecken wir erstmal zwischen LKW und schieben uns die Küste der Adria entlang.
Auch wenn es totlangweilig ist, bis Rimini fließt der Verkehr wenigstens. In Rimini selbst und dahinter wird´s eklig, denn hier staut sich der Verkehr bis sonstwohin.
Der Grund: Nun führt die Straße nicht mehr um Orte herum, sondern durch sie hindurch. Auch das praktisch endlos, denn die Städte und Dörfer sind hier zusammengewuchert. Rimini geht in Ronccione, wo Ronccione aufhört hat Cattolica schon begonnen, usw.
Statt Kreiseln gibt es nun Ampeln, und deren laaaange Umlaufzeiten sind ein konstanter Quell des Ärgers und sorgen für lange Staus. Ampeln bauen können Italiener so wenig wie Deutsche Kreisel, oder wie wir gerne sagen: “Rundverkehr”.
Bei Pesaro ballen sich rechts der Straße dunkle Wolken an einem Berg. Links der Straße liegt das Meer, und darüber ist strahlend blauer Himmel. Plötzlich passiert etwas sehr seltsames: Ohne Vorwarnung setzt prasselnder Regen ein. Von jetzt auf gleich kommt Starkregen runter, so heftig und schnell, als hätte jemand ohne Vorwarnung eine Urwalddusche eingeschaltet. Im Nu steht die Fahrbahn unter Wasser und sieht aus wie ein See. Keine Chance anzuhalten und die Regenkombi überzustreifen. Bevor ich auch nur daran denken kann, bin ich schon völlig durchnässt. Das Wasser sifft sogar durch die Ärmel und läuft mir die Achseln hinunter – sowas habe ich noch nie erlebt.
Ich beiße die Zähne zusammen und fahre weiter, denn weiter vorn ist auch blauer Himmel – vielleicht ist der Schauer gleich vorbei? Eine Alternative gibt es ohnehin nicht, weder eine sichere Stelle zum Anhalten noch ein Unterstand in Form einer Tankstelle oder zumindest einer Bushaltestelle finden sich jetzt. Natürlich nicht.
Dann passiert etwas NOCH seltsameres. Ich erreiche die Grenze zum blauen Himmel, und nun scheint die Sonne und vor mir liegt trockene Straße – aber der Regen prasselt unvermindert weiter. “JETZT HÖR SCHON AUF MIT DIESER SCHEIßE”, schreie ich das Wetter im allgemeinen und die dunkle Wolke im Speziellen an. Hilft natürlich nicht, aber ich kann wenigstens meinem Verdruss Ausdruck verleihen. Keine halbe Minute später ist der Spuk dann vorbei. Jetzt sind wieder Sonnenschein und 20 Grad. Aber nun sitze ich nass bis auf die Unterwäsche im Fahrtwind und bibbere vor Kälte.
In Fano halte ich an einer Q8, einer klassischen Automatentankstelle. Ich bevorzuge die Kette, weil deren Automaten nahezu immer funktionieren und auch Kreditkarten nehmen und nicht nur einheimische Girocards. Zum meinem Erstaunen tritt eine blonde Frau in Stöckelschuhen und einem schwarzen Hosenanzug neben das Motorrad und nimmt mir die Zapfpistole aus der Hand. Mit geübten Handgriffen betankt sie die Barocca. „Q8 hat doch nie Service“, wundere ich mich laut. „Hier schon“, sagt die vermutlich schönste Benzinaia Fanos, und ihre Augen über der Maske lachen.
Fano kenne ich, die Stadt ist ein Schachbrett aus Einbahnstraßen. Hier will ich nicht hindurchfahren, und so biege ich auf die A14 ab. Mautgebühren sind mir jetzt egal, es ist bereits früher Nachmittag, und jetzt will ich nur noch ans Ziel kommen. Netter Nebeneffekt: Durch die schnelle Fahrt auf der Bahn und die Sonne trockne ich relativ schnell wieder.
Eine kurze Pause erlaube ich mir an einer Autobahnraststätte und verzehre hier ein fertiges Reisgericht, das ich gestern Abend im Supermarkt in Treviso gekauft haben, dann steige ich wieder in den Sattel. Beim Start meldet sich Anna plötzlich im Helm. “Brennendes Fahrzeug in 8 Kilometern Entfernung gemeldet”, sagt sie.
„Was?!“, entfährt es mir. “Keine Verzögerungen. Sie fahren auf der schnellsten Route”, sagt die künstliche Stimme. Ich gucke auf´s Display des Navigationsgeräts. Tatsächlich, etwas weiter die Autobahn hoch blinkt ein Piktogramm eines Autos, das auf dem Dach liegt und aus dessen Boden Flammen schlagen. Okay, das habe ich auch noch nie gesehen.
Ich schaue in die Richtung, in der das sein muss. Eine dicke, tiefschwarze Rauchwolke steht über dem nächsten Berg. Egal was da passiert ist, das ist keine Kleinigkeit, und es ist anscheinend gerade erst geschehen. “Keine Verzögerung, Hm?”, sage ich zweifelnd und steuere die Ausfahrt Senigallia an. Das fehlt mir noch, dass ich jetzt trotz viel eingeplanter Zeit am Ende zu spät an meinem Ziel ankomme, weil ich den halben Tag im Stau auf der Autobahn stehe…
Bei Senigallia gibt es eine neue Straße, die parallel zur kostenpflichtigen Autobahn verläuft. Die ist aber auch gerade etwas verstopft. Autos eiern in Schlangenlinien oder halten unvermittelt an, weil die Fahrer versuchen die Rauchsäule über der Autobahn mit ihren Handys zu fotografieren. E-kel-haft.
Der nächste Ort ist Ancona, und der malt sich zauberhaft vor das blaue Meer. Die Sonne lässt die ockerfarbenen Häuser leuchten, und Anna führt uns durch ein Gewirr an Zu- und Abfahrten, Kreiseln, Rampen und Brücken bis zum Hafenbüro.
Das befindet sich in einem flachen Gebäude, in dem die Checkin-Schalter der Fährgesellschaften untergebracht sind.
Als ich das Gebäude betrete, trackt mich eine Kamera und nimmt meine Körpertemperatur. 35,5 steht auf dem Display, eine Ampel springt auf Grün und eine Stimme sagt “Attendere, prego”. Ich kann eintreten. Ein bewaffneter Sicherheitsmann, der ruhig in einer Ecke steht und den ich zuvor nicht gesehen habe, nickt zufrieden.
Drinnen sind moderne Checkin-Schalter, wie in einem Flughafen.
Zwei der Schalter sind geöffnet. Ich gehe au den ersten zu, aber der Angestellte winkt schon von Weitem ab und ruft auf italienisch “Du bist bestimmt kein Lastwagen! Geh mal zur Kollegin rüber!”
Nee, ich bin wirklich kein Lastwagen. Also zum zweiten Schalter. Davor steht ein älteres deutsches Ehepaar. Sie, Typ Erdkundelehrerin im Ruhestand, untersetzt, Blümchenkleid, graue Schnittlauchfrisur, murmelt “Hat das wohl was mit der Impfung zu tun?” und tippt so ungelenk auf einem Smartphone herum, als hielte sie das erste Mal so ein Gerät in der Hand und hätte Angst, das es gleich explodiert.
Er, weiße Socken, kurze Hose, lehnt sich genervt an den Schalter und sagt laut “Und, haben sie nicht vor uns zu helfen?”.
Die Italienerin hinter der Glasscheibe, eine rothaarige Mitvierzigerin, wirft ihm einen flüchtigen Blick über ihre FFP2-Maske zu und sagt dann auf deutsch: “Nein. Ich habe wichtigeres zu tun”. In Amerika würde sie für sowas sofort gefeuert, hier ist sie meine Heldin.
Sie winkt mich ran und nimmt den Ausdruck meiner Reservierung entgegen, dann sagt sie streng “PLF”. Ich ziehe das geforderte Dokument aus der Beintasche meiner Motorradkombi. Das ich das dabei habe, quittiert die Schnittlauchfrisur, die einen Meter weiter immer noch auf ihrem Smartphone rumfuhrwerkt, mit einem “Pffh”. Anscheinend haben sie und ihr Mann das nicht, und müssen dieses neue Einreisedokument gerade Online ausfüllen. Tja, Pech. Über sowas informiert man sich vorher.
Das PLF, oder “Passenger Location Form” wird von etlichen Staaten gewünscht. Italien gehört auch dazu, aber bei der Einreise auf dem Landweg wird es nicht geprüft. Hier, an einem Fährhafen, aber schon. Im PLF muss man angeben ob und wann man geimpft wurde, falls ja womit, wie man einreist und wo man wenigstens die ersten 24 Stunden, besser die nächsten 14 Tage, erreichbar ist. Für letzteres muss man die Adresse angeben, wo man zuerst übernachtet. “Wie soll ich denn das ausfüllen”, jammert sich die Zwiebelköpfige, “wir haben keine Übernachtungsadresse, wir sind ein Wohnmobil!”.
Die Italienerin hinter der Glasscheibe und ich sehen uns in die Augen, dann zucken wir gleichzeitig mit den Schultern. Darüber müssen wir beide lachen, was bei der Schnittlauchtante einen schrillen „Wohnmobil!!“-Kiekser auslöst.
Die Rothaarige reicht Tickets für mich und das Motorrad sowie einen 20 Zentimeter langen und unsäglich hässlichen “Grimaldi”-Aufkleber durch die Scheibe ihres Counters und sagt “Imbarca 18:00, Facilita 15”. Etwas ratlos betrachte ich den monströsen Aufkleber. “Davvero? Devo applicare l’adesivo?” frage ich. “Ach Quatsch, der ist nur für… Wohnmobile”, sagt die Rothaarige mit einem Seitenblick, und ich grinse und rufe “Grazie e buona Serrata” und schlendere zum Ausgang.
Den Weg zum Fährterminal kenne ich auswendig, als wäre ich ihn schon Dutzende Male gefahren. Bin ich im Prinzip auch, aber nur virtuell, auf Google Maps. Häfen mit ihren vielen Toren und Zufahrten und Schleusen sind mit unheimlich, ein wenig Aufklärung im Vorfeld trägt da zur Beruhigung bei.
Noch ist im Hafen sehr wenig los. Kein Wunder, es ist erst 15:30 Uhr, die nächste Fähre legt hier erst in 4 Stunden ab. Wer jetzt schon hier her kommt hat nichts besseres zu tun oder ist supervorsichtig in der Zeitplanung. So wie ich. Ich hätte auf dem Weg hierher eine Reifenpanne haben können und wäre mit etwas Glück immer noch rechtzeitig. Dafür muss ich jetzt damit leben, dass ich Zeit am Hafen totschlagen muss.
Am Eingang stehen Sicherheitsleute, und denen ist anscheinend auch langweilig. Das merkt man daran, dass sie anfangen selbst Motorräder zu kontrollieren. “Können´se den Koffer mal aufmachen?”, sagt einer der Sicherheitsleute auf italienisch, als er mich an einer Schranke anhält. “Welchen?“, sage ich und zeige auf das Heck des Motorrads, an dem drei identische Givis befestigt sind.
Der Mann überlegt kurz, deutet dann auf den rechten und sagt dann “Den da”. Sofort meldet sich in meinem popkulturverseuchten Hirn Jörg Dräger zu Wort. „Herr Zollbeamter, sie haben Koffer Nummer drei gewählt. Ich gebe ihnen 20 Mark, wenn sie stattdessen Koffer Nummer eins nehmen. Nein? 50 Mark! OK, 100 Mark und Tor 1, mein letztes Angebot“.
Der Beamte weiß nicht, was in meinem Kopf abläuft, während ich den rechten Koffer abnehme und auf den Boden lege. Er wühlt unmotiviert und oberflächlich darin herum.
Dann darf ich alles wieder zusammenbauen und weiterfahren. Tja Pech, ich schmuggele nur Cevapcici, und das ist in der EU nicht verboten. Glaube ich.
Am Pier stehen schon ein Dutzend LKW und bestimmt 20 Autos. Ein gelangweilter Einweiser lässt mich das Motorrad direkt vor die Lastwagen fahren.
OK, vermutlich werden die kleinen Fahrzeuge als erstes verladen. Ich werde ja sicherlich nicht der einzige Motorradfahrer sein.
Ich stelle den Motor ab und hänge den Helm an den Lenker, dann packe ich ein wenig um. Ein kleines Stoffpäckchen aus dem Topcase verwnadelt sich im Handumdrehen zu einem Tagesrucksack, und in den wandern Ladegeräte, das Netbook, eine Notfall-Decke, der eReader, die Cevapcici und eine große Faltflasche mit zwei Litern Wasser. Nur zur Vorsicht. Auf meiner letzten Fährfahrt hatte ich nicht genug zu trinken und keine passende Währung dabei, und irgendwann war ich so durstig, dass ich in meiner Verzweiflung einige wenige Schlucke aus einem Wasserhahn auf dem Schiff getrunken habe. Mit verheerenden Folgen für Magen und Darm. Das wird mir nicht noch mal passieren.
Dann heißt es warten. Die Sonne brezelt jetzt heftig. Das nahegelegene Terminal ist wegen Bauarbeiten gesperrt. Ich suche Schatten, finde den aber nur außerhalb der Sichtweite des Motorrads in Form einer Bank mit einem kleinen Vordach darüber. Immerhin, direkt daneben ist ein kleines Toilettenhäuschen. Der Blick geht auf´s Hafenbecken hinaus. Nicht schlecht.
Ach, ich bin froh hier zu sein, es bis hierher geschafft zu haben. Auf dem Weg hierhin hätte mal wieder alles mögliche passieren können, aber so ein Schiff interessiert sich nicht für persönliche Probleme, das fährt trotzdem.
Nach einer Stunde sehe ich mal nach dem Motorrad. Die Barocca wird gerade von älteren Herren inspiziert. Die drei rätseln lautstark, was sie wohl für ein Modell ist. Hehe, einfach zu erkennen ist das tatsächlich nicht. Bis auf das Suzuki-S auf dem Tank trägt die Barocca überhaupt keine Marken- oder Modellbezeichnungen oder Zieraufkleber, an dem man Modell oder Hubraum erkennen könnte. Sie ist einfach völlig schwarz. Ich habe sie so debrandet und gebraucht gekauft, aber wer mich kennt, weiß: So mag ich das. Nur das Beste, aber nicht erkennbar was es ist.
Gegen 17:30 Uhr wird das Warten interessanter. Ein Schiff taucht in der Hafeneinfahrt auf. Es ist die “Florencia”, also das Schiff, dass ich nehmen soll.
Es legt mit präzisen Manövern rückwärts an, und dann klappt die große Rampe am Heck herunter.
Die Florencia macht die Clownsnummer. Ähnlich wie bei diesem Clownauto, bei der viel mehr Personen aussteigen als da eigentlich reinpassen dürften, spuckt das Schiff eine absurde Menge an LKW aus. Einer nach dem anderen rollte über die Rampe, und immer wenn der Strom der Lastwagen versiegt und ich denke “das muss es ja jetzt gewesen sein”, dann kommt das nächste Dutzend aus dem Bauch des Schiffes. Die Florencia ist 186 Meter lang und 26 Meter breit, da passt auf mindestens zwei Autodecks so einiges rein.
Ich setze mich auf´s Motorrad und warte. Polizei steht am Dock und nimmt einen älteren Herren in Empfang, der von der Bordcrew der Florencia übergeben wird. Hat der sich während der Fahrt danebenbenommen? Am Ende ein Maskenverweiger? Nette Vorstellung.
Zwischendurch stolpert eine Frau mit einem Wasserkocher in der Hand die Rampe hinab und blickt sich suchend um. Eine Notfall-Teeköchin? Muss wohl eine Britin sein.
Als der Strom der Fahrzeuge aus dem Inneren der Fähre weniger wird, beginnen die weiß-uniformierten Decksoffiziere der Florencia die ersten LKW in das Innere des Schiffs zu winken. Es sind kleine Versorgungs-LKW, die das Schiff betanken, Waren liefern und Abwasser abpumpen. Oberste Autorität der Offiziere ist eine große, blonde Frau, die mit zielgerichteten Handzeichen Ihre Kollegen dirigiert.
Die LKW hinter mir werden ungeduldig, starten ihre Motoren und fahren langsam und Zentimeterweise an das Heck des Motorrads heran. Was soll das denn? Denken die, durch drängeln geht das hier schneller?
Ich bin übrigens tatsächlich der einzige Motorradfahrer. Selten kam ich mir so fehl am Platz vor, aber das Personal von der Bodencrew gibt mir kein Signal an Bord zu fahren, währen der erste LKW schon anfängt, sich an mir vorbei zu mogeln. Ich tue besser mal cool. Das kann ich gut.
Dann endlich signalisiert mir einer Schiffsoffiziere etwas, aber nur, dass ich Platz machen soll, ich stehe den LKW im Weg. Ich rolle die Suzuki zur Seite, und die Lastwagen rumpeln vorbei. Das Verladesystem erschließt sich mir nicht, scheinbar willkürlich sucht sich die Crew mal diesen, mal jenen LKW aus und schickt ihn auf eine der beiden Rampen, die ins „Erdgeschoss“ und in den „ersten Stock“ des Schiffs führen.
Warten, warten, warten. Endlich zeigt einer der Decksoffiziere auf mich und dann auf das Schiff. Ich starte den Motor und und ziehe das Motorrad in einem weiten Bogen so, dass es in gerader Linie auf die Metallrampe zufährt. Zum Glück ist es heute trocken, bei Regen werden die Rampen total glitschig. Aber auch so sind die ersten Meter eine Herausforderung, denn die ist die Rampe segmentiert, also längs unterteilt, wie eine Baggerschaufel. Zwischen den rund 30 cm breiten Segmenten ist locker genug Platz für einen Fahrradreifen, da will man nicht hinein geraten. Souverän steuere ich die Barocca genau mittig eines der schmalen Segmente hinauf, dann den Rest der Rampe.
Okay, wohin jetzt? Ah, da ist ein Deckmitarbeiter. Ein schmales Hemd, durch die Maske ist nicht erkennbar ob der überhaupt schon 18 ist. Er winkt mich heran, und ich steuere die V-Strom mit der Flanke an die Bordwand. Das ist aber wohl nicht richtig. Der Decksmann hält beide Hände parallel und wedelt an seinen Ohren vorbei. Ungehalten. Okay, ich setze zurück. Der Typ schüttelt wütend den Kopf, wedelt schneller, bewegt beide Hände abwechselnd an seinem Kopf vorbei und dreht sich dabei um sich selbst, dann spreizt er die Arme nach links und rechts ab und schlackert mit den Handgelenken. Ist das noch Parkeinweisung oder schon Ausdruckstanz? Was will der von mir? Oh, was werde ich eine Freude dabei haben, diesen Quatsch der Nachwelt zur zeigen!, denke ich, muss aber leider später feststellen, dass die Helmkamera gerade nicht läuft.
Endlich kapiere ich es. Ich soll im rechten Winkel zur Bordwand parken. Hä? So kenne ich das nicht. Aber okay, er ist der Chef. Ich parke im Rechten Winkel zur Bordwand und frage „Okay so?“. Eine Radfahrerin, die ihr Bike auf Geheiß des Ausdruckstänzers an die Bordwand hinter eine Metallkiste gestellt hat und die ich nun praktisch mit Motorrad zuparke, guckt den Typen groß an. Er zuckt mit den Schultern und geht weg.
Und nun? Muss ich jetzt das Motorrad abspannen? Macht das noch wer? Ein älterer Crewman trottet vorbei. “Spannt ihr die Kiste ab?” frage ich auf englisch. “Yesyesyes”, sagt der Mann, zuckt die Schultern und trottet davon. Den Tonfall kenne ich, das ist das italienische Äquivalent zu “Ist mir egal was Du willst, ich sage jetzt irgendwas damit Du mich in Ruhe lässt” Alter! Was geht denn hier?
Ich steige ab und öffne die Soziustasche. Darin sind Spanngurte, die ich von Zuhause mitgenommen habe. Ich entrolle einen. Hm. In die Absperrpunkte auf dem Deck passt der natürlich nicht. Aber direkt neben dem Motorrad steht eine schwere Metallkiste, da könnte ich doch… Kurzentschlossen schlinge ich den Gurt um den Sturzbügel und um die Kiste und ziehe ihn fest. Dann ziehe ich ein Stück Klettband hervor und wickele das um die Handbremse. Du gehst nirgendwo hin, Madame. Eingelegter Gang, Vorderradbremse blockiert, das ist schon die halbe Miete. Und meine Abspannerei ist besser als nichts. Oder?
Als ich mein Kunstwerk betrachte, finde ich es ganz großen Mist. Zudem fällt mir auf, dass die Kiste auf den Gabeln eines Staplers steht. Und wenn der nun benutzt wird? Dann schleift er das Motorrad durch die Gegend. Nee, das taugt so nicht.
Zwei jüngere Crewman zockeln in dem Moment das Deck hinauf. “Hey”, rufe ich über den Lärm der bullernden Schiffdiesel und der rangierenden LKW hinweg und dann auf italienisch “Muss ich das hier abspannen oder macht ihr das?” – “Wir machen das. Haben die Kollegen sich schon wieder verpisst?”, fragt einer der beiden, dann greift er sich Spanngurte von der Bordwand und ruft seinem Kollegen zu “Mach durch Sturzbügel”. Macht der aber nicht, der macht durch Kofferträger, aber immerhin: So ist die Maschine wenigstens ein wenig gesichert.
Ich werde Fähren vermutlich nie mögen. Kontrollverlust und Fahrzeug allein lassen, nicht wissend, in welchem Zustand man es am Ende der Fahrt vorfindet… das fühlt sich ungut an. Ich sage leise “pass auf Dich auf” zur Barocca, dann schnappe mir meinen Rucksack mit Dingen für die Nacht und steige die Treppen zur Rezeption hinauf.
Was ich seit der letzten Fahrt mit einer Fähre auch weiß: Die vollmundigen Versprechungen der Reederei muss man nicht glauben. Laut den Webseiten sind die Fähren schwimmende Luxusherbergen voller Casinos, Restaurants, Kinderabenteuerparks und Shoppingmeilen. Die Florencia setzt diese Versprechen um mit einem Selbstbedienungstresen (an dem wegen Corona keine Selbstbedienung ist), fünf Spielautomaten, von denen drei defekt sind, und einer winzigen Verkaufsecke für rosa Flamingos und was Fernfahrer sonst so ihren Töchtern und Frauen mitbringen.
Vielleicht fand es jemand witzig, vielleicht war es als Service gemeint: Der einzige Motorradfahrer an Bord hat die Behindertenkabine bekommen.
Einerseits viel Platz, andererseits direkt neben der Rezeption. Der Raum ist aber wirklich großzügig, und da ich die Vierbettkabine alleine belege, ist das hier purer Luxus. Ist eine Innenkabine, ohne Fenster. Zum einen günstiger, zum anderen mag ich es nicht, wenn die Sonne reinscheint oder Leute durchs Kajütenfenster glotzen.
Es gibt nur eine Steckdose im ganzen Raum und keinen Becher. Dafür ist, genau wie bei meiner letzten Fahrt mit Grimaldi, die Lüftung kaputt und sorgt für Eiseskälte im Raum.
Beim letzten Mal musste ich das Ding zukleben, dieses Mal lässt sich die Halterung mit dem Schweizer Taschenmesser reparieren.
Nachdem einem Abendessen aus Cevapcici (ja, das war kein Witz!)…
… gehe ich nochmal nach draußen und vor die Tür. Die Florencia läuft aus dem Hafen von Ancona aus, über dem ein voller Mond steht. Schön sieht das aus und fühlt sich an wie ein Aufbruch ins Abenteuer. Bis hierhin war ich auf vertrautem Boden, jetzt geht es ins Unbekannte!
Dann rolle ich mich in die Koje. Um mich herum klappert und knarzt das Schiff im Takt der Diesel und der Wellen.
Tour des Tages: Von Treviso an Venedig vorbei, durch Ravenna, Rimini, Pesaro, Fano und Senigallia nach Ancona. Sterbenslangweilige 339 Kilometer.
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Wenn der plötzliche Sturzregen kein Wink mit dem Zaunspfahl war, sich eine Kombi mit Membran zu kaufen, dann weiß ich auch nicht. 😉 Die Fummelei mit der Regenpelle wäre mir zu umständlich.
In der nächsten Folge geht´s endlich ins Land der Götter – supi!
Hehe. Meine Jacke hat sogar ein Membran-Inlet, aber das habe ich meist nicht drin. Zum einen ist mir das im Süden zu warm, zum anderen mag ich das Konzept nicht. Denn die Außenschicht wird halt trotzdem naß, und wenn mehr runterkommt als nur ein Schaier, dann gibt irgendwann die beste Membran auf. Deshalb: Geht nix über Regenkombi 🙂
Hm, ne Regenklamotte für drunter?! Wie man sowas entwickeln und offerieren kann, erschließt sich mir nicht so richtig. Ich dachte eher daran:
https://www.gs-forum.eu/threads/erfahrungsbericht-klim-carlsbad-2020.168709/
Derartiges wird meine für wärmere Gefilde ungeeignete finnische Sturmrüstung ersetzen, wenn ich den Batzen Geld zusammen habe. 🙂
Ist nunmal die Funktionsweise bei den Textilkombis. Ob nun die Membran einlaminiert oder raustrennbar ist – die äußere Schicht aus Cordura wird immer nass. Und damit auch schwerer und irgendwann kalt. Ich finde die echt super für den kleinen Schauer, denn du hast recht – da ist jedesmal Regenzeug überziehen doof. Und meine nächste Jacke wird auch wieder eine laminierte Membran haben, aber die Regenklamotten nicht ersetzen ?
Auf so Laminatzeugs muß ich bei meinem Sommeranzug bei Tour verzichten. Der war einmal bei Neukauf wasserabweisend.
Nässe würde ich abends in’s Zelt reintragen und nicht wieder herausbekommen. Sonst fange ich an zu verschimmeln.
Klar ist der Leichtanzug nicht der Wohlfühlbrüller bei Kälte. Angora, Shirt, Fleece, Jacke, Warnweste und darüber die Regenjacke hatte ich schon allesamt gebraucht bei nächtlicher Alpenquerung.
Ali: Jo, das kommt dazu. So lange ich die TechAir-Jacke habe, taugt die Kombination mit Wollunterwäsche, bei Bedarf Fleecejacke und ggf. noch Regenkombi drüber eine für eine Temperaturspannweite von 0 bis 40 Grad.
Für mich ist dieser Baukasten ideal, ich mochte aber auch meine Mohawk-Jacke mit der laminierten Membran. Da hat mich der kurze Schauer dann halt nicht interessiert – aber bei so einem Sturzregen wie oben geschildert wäre die äußere Schicht auch durch gewesen…
Die Sicherheitsweste hatte ich noch nie an, meine ist so ein dünnes Leibchen, die hält nichts ab.
Oh, ich finde Fähren so spannend! Furchterregend und Respekt einflößend irgendwie, und ja genau, man erlebt einen Kontrollverlust über sein Fahrzeug und in gewissem Sinne auch über sich.
Aber immer interessant und großes Schiff auf viel Wasser mag ich auch ganz gern 🙂
Die Fahrt von Stockholm nach Helsinki war übrigens sehr empfehlenswert, sollte es dich mal nach Norden verschlagen. (War aber nur eine Passagierfähre. Strecke durch die vielen Inselchen ist aber wohl dieselbe.)
Danke fürs Mitnehmen!