Reisetagebuch Griechenland 2021 (6): Very Traditional!

Reisetagebuch Griechenland 2021 (6): Very Traditional!

Tagebuch einer Motorradtour durch Griechenland. Heute mit einem kleinen Ausflug in einen Nationalpark und in ein sehr besonderes Dorf. Außerdem wird etwas verbeult.

Freitag, 24. September 2021, Sidirochori
Um kurz nach 8 Uhr betrete ich den Gastraum. Ich bin froh den gefunden zu haben, denn die alte Taverna hat in ihrer bestimmt 150jährigen Geschichte so viele An- und Umbauten erfahren, dass ihr Inneres nun einem Labyrinth gleicht. Das aus Naturstein und Holz gebaute Gasthaus besteht aus einer Vielzahl kleiner Treppenhäuser, großer Vorräume und schmaler Gänge, die alle durch dicke Türen voneinander getrennt sind. Bei all den geschlossenen Türen und Abzweigungen verliert man dann schnell die Orientierung. Andererseits ist das natürlich gut so, dann hält sich die Wärme besser. Ist halt doch zu merken, dass das hier etwas höher in den Bergen liegt, auch letzte Nacht ist es einstellig kalt geworden.

Im Gastraum ist es heute morgen muckelig warm, hier läuft irgendwo ein Ofen. Das hier alles aus Holz und Naturstein gebaut ist, trägt zur inneren Wärme bei. Sonne filtert durch die Scheiben und taucht den Raum in warme Farben. Neben dem großen Bereich mit den Esstischen gibt es tatsächlich auch eine Leseecke rund um einen gemauerten Kamin, mit gemütlich wirkenden Sofas und Bücherregalen!

Das ich hier bin, geht übrigens auf Modnerd zurück. Der hat hier vor vielen Jahren mal Station gemacht, und ich hatte damals sdie Bilder dieses gemütlichen Natursteinhauses gesehen und gedacht: Da muss ich mal hin! Und jetzt bin ich hier, und es ist noch toller als ich es mir vorgestellt hatte.

Aus seiner Nische hinter der Bar lugt Dimitrios, der Gastwirt, hervor und ruft mit rauer und lauter Stimme “Ah my friend you are here, goode! goode!!”

Wegen seiner schlacksigen Statur hat Dimitrios mich gestern abend an James Cromwell erinnert, der u.a. den Farmer in „Schweinchen Babe“ gespielt hat. Aber nun fällt mir auf: Er spricht wie ein Russe, zumindest hört sich das abgehackte, harte Englisch für meine Ohren wie ein russischer Akzent an. In Kombination mit der rauen Reibeisenstimme, die wie “Dr. House” klingt, und der Lautstärke wirkt Dimitrios nun eher wie Lev, der polterige russische Kosmonaut aus dem Film „Armageddon“, der seine Raumstation mit mit Klebeband zusammengehalten hat.

Bild: “Armageddon” (1998). Lev Andropov wird gespielt von Peter Stormare.

Na danke, Hirn. Jetzt kriege ich das Bild nicht mehr aus dem Kopf, das Lev hier Gastwirt ist. Und da wir alle Mund-Nase-Masken tragen und ich von Dimitrios Gesicht nur die Augen sehe, hält sich diese Illusion auch standhaft.

Von hinter dem Tresen poltert es: “You want Coffee? I make Coffee. And I have Mushroom. White Mushroom. You like?” – “Äh, ja”, sage ich. “Goode. Goode. Take seat. I make Breakfast”.

Das macht er dann und man, ist das mächtig und gut.

Es gibt griechischen Kaffee, dazu Omelett mit Pilzen und Kräutern, gebratenen Toast mit geschmolzenem Käse und Schinken, frisches Brot und dazu Butter vom Bauern nebenan und verschiedene, handgemachte Konfitüren. Großartig!

Ich haue rein und lasse es mir schmecken, während Dimitrios hinter seinem Tresen steht und einen Kaffee unter lautem Schlürfen und in kleinen Schlucken trinkt. Ich mache das nach und merke schnell: Dadurch schmeckt griechischer Kaffee gleich nochmal besser, und man trinkt keinen Kaffeesatz mit. So schlürfen wir in angenehmer Stille, an entgegengesetzten Enden des Raumes.

Der Kaffee vertreibt auch die Müdigkeit ein wenig. Die Nacht war unruhig, direkt unter meinem Zimmerfenster hat der Hund der Nachbarin die ganze Nacht gebellt. Dimitrios grinst. “You now, here we say: When the dogs are crying, wolves and bears are near. Many wolves in the woods. Big wolves.” Aha. Ich persönlich glaube eher, dass die Töle nebenan neurotisch ist und alle anderen Hunde im Dorf gleich mit irre macht, aber gut.

“I show you where you go today”, sagt Dimitrios resolut und nimmt mir mein Smartphone aus der Hand, öffnet Google Maps und zoomt bis auf Feldwege hinunter.
“You are afraid of mountains?”, fragt er und fährt, ohne eine Antwort abzuwarten, fort: “You go up there. Broken road. Very good for motorbike. Then go there – you are afraid of mountains?”
“Äh, nee”, sage ich. Wieso sollte ich Angst vor Bergen haben, wir SIND hier auf einem Berg.
“Goode, goode. Lots of mountain up there, but okay. Ah, Word is not mountain… I need word. Many stones. On Road.“

“Gravel?”, schlage ich vor, Schotter.
“Right, Gravel.” Aha. Jetzt ergibt das mehr Sinn.
„Is gravel. Or mud. Depends. Sometimes road is washed, maybe some trees have fallen. You will see. Then you go there…” er zoomt auf einen Wald, “and then there. Little village. Very beautiful! Very traditional! Many bears! You go there. Understood?”

„Viele Bären?”, frage ich.
„Yes! Yes! Many bears. Wild bears, circus bears, from all country. Life there.“ Ah, ein Bärenschutzreservat.
“Anyway, you go there! Very traditional!“, sagt Dimitrios. “Okay”, sage ich und ergänze in Gedanken meine skizzierte Tagestour.

Kurze Zeit später zirkelt die V-Strom auf einer schmalen Bergstraße um riesige Schlaglöcher herum. Dimitrios Anweisungen bin ich nicht gefolgt, sonst wäre ich jetzt schnell Richtung Osten unterwegs gewesen. Ich möchte aber erst einmal nach Norden.

Nicht weit entfernt sind die Grenzen zu Mazedonien und Albanien, und in diesem Dreiländereck liegt der Prespes Nationalpark. Zu dem gehören auch mehrere Seen, und einer davon, der kleine Prespes-See, weist eine Insel auf, die ich mir angucken möchte.

Die Sonne brezelt heiß vom Himmel, als ich die V-Strom auf einem kleinen Parkplatz zurücklasse. Die Insel ist über eine Schwimmbrücke mit dem Festland verbunden.

Die Brücke schwappt und schwankt, als ich über sie laufe. In regelmäßigen Abständen informieren Schilder am Geländer über die vielen Tierarten, die hier zu Hause sind.

Dank der Schilder weiß ich, dass es ein Wasserbüffel ist, der auf der anderen Seite der Brücke im Schilf weidet und dass das ganz kleine Tier, was mich genervt anmuht, ein Prespes-Rind ist.

Suchbild: In dieser Aufnahme ist ein Wasserbüffel versteckt.

Die Insel hat einen kleinen Berg mit einer Kirche darauf.

Ich klettere auf den Berg hinauf und gucke über die Landschaft. Dieser Ausblick. Diese Weite.

Die kleine Insel gilt wohl schon länger als besonderer Ort, über das ganze Eiland verteilt finden sich Ruinen von Kirchen aus dem achten, zehnten und sechzehnten Jahrhundert.

Die neueren Häuser geben sich alle Mühe, dem Look der Ruinen nachzueifern.

Ein Stück vom See entfernt gibt es ein Dorf Namens Agios Germanos. Ich denke erst, dass das vielleicht etwas mit Deutschland zu tun hat, aber „Agios“ bedeutet „heilig“ und Germanos war im 8. Jahrhundert der Gründer eines Klosters. Das Dorf ist hübsch, wenn man nur durchfährt.

Weiter westlich schließt sich ein großes Waldgebiet an. Die Strecke durch den herbstlichen Wald ist wirklich schön. Sonnenlicht filtert durch das grün-gelb des Laubdachs, und es gibt enge Kehren und Kurven, die zu fahren einfach Spaß macht. Weil mich niemand hetzt und ich bin hier allein, kann ich dabei vorsichtig fahren wie ich will, und das ist auch nötig.

Die Straße ist manchmal sehr schlecht – man denke in diesem Zusammenhang an quadratmetergroße Schlaglöcher, in die einfach jemand eine Schubkarre Wackersteine gekippt hat. Kein Witz. Und das IN Kehren.

Fast zwei Stunden bin ich in dem Wald unterwegs, und als aus ihm herauskomme, liegt der “very traditional and beautiful”-Ort Nymfaio vor mir, den Dimitrios beschrieben hat.

Als ich zu den Ort zufahre, tut es plötzlich einen brachialen Schlag und ich merke, wie das Vorderrad mit der Felge aufprallt. Eine Querrinne mit einem Regenabfluss ist so tief in die Straße eingelassen, dass ich sie nicht gesehen habe. Ich fluche und nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit die Felge zu kontrollieren. Das stellt sich aber als gar nicht einfach heraus, denn so schnell findet sich keine ebene Fläche. Nymfaio entpuppt sich als ein Albtraum aus M.C. Eschers Fieberphase.

Die Straßen sind allesamt schmale Gassen, links und rechts von Häusern und Mauern begrenzt. Alles ist aus dem gleichen, grauen Stein gebaut. Die Fahrbahn besteht aus uralten und teils groben Steinen und Steinplatten, die mal nach innen, mal nach außen gekippt sind, wohl um Wasser abfließen zu lassen. Heißt: Das Motorrad rumpelt von Steinplatte zu Steinplatte und hüpft von links nach rechts.

Am schlimmsten ist aber, dass die schmalen Gassen sich immer nur in Extreme zu verzweigen scheinen: Entweder sie führen in einer krassen, zehn bis fünfzehnprozentigen Steigung den Berg hinauf, oder in ebenso ordentlichem Gefälle hinab. Wobei einige der hinabführenden Gassen anscheinend in Treppen enden, zumindest weist ein Schild darauf hin. Es sagt nur nicht, welche Gasse genau der Zonk ist. Das macht die Navigation in diesem Labyrinth spannend, denn eines ist klar: Fahre ich einen Weg hinab, der in einer Treppe endet, dann kommt ich hier nicht mehr alleine raus. Die Gassen sind teils schmaler als die V-Strom lang ist, Wenden unmöglich.

Der Ort wirkt seltsam. Er besteht ausschließlich aus gepflegten, grauen Steinhäusern, von denen jedes einzelne die Ausmaße eines Herrenhauses hat.

Die Villen sind zwei oder dreigeschossig, wobei die einzelnen Stockwerke höher als normal sein müssen. Die Fenster sind vergittert, was die Bauwerke noch mehr wie Trutzburgen wirken lässt. Gekrönt werden die mächtigen Bauwerke von flachen, dunklem Metalldächern. Um einige Häuser herum sind gepflegte Grünflächen, allerdings ohne Blumen oder Büsche – die „Gärten“ bestehen einfach nur aus gepflegter Rasenfläche, die von steinernen Mauern umschlossen werden. Auffahrten oder Parkplätze für Autos sind nicht zu sehen, weder an den Häusern noch in den Straßen. Überhaupt wirkt alles sehr gepflegt, aber unbelebt. Als würde hier gerade niemand wohnen. Was IST das hier für ein Ort?

Ich wundere mich, habe aber keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen. Schon nach wenigen Abzweigungen habe ich die Orientierung im Gassengewirr verloren und taste mich nun vorsichtig voran, immer auf der Suche nach einem Ausgang aus diesem Labyrinth und an jeder Verzweigung abwägend, ob am Ende eine Treppe lauert. Ich möchte gar nicht anhalten und mich umgucken, wobei das eh´ schwierig wäre, weil es halt keine auch nur im Ansatz gerade oder gar ebene Stelle gibt. Nach einigen Minuten, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, entdecke ich eine etwas breitere Gasse, den Berg hinab.

Die V-Strom hoppelt den Berg hinunter, und nach einer leichten Kurve sehe ich zwei Dinge: Eine ebene und anscheinend breitere Straße – und einen Lastwagen, der vor der Ausfahrt aus der Gasse steht und genau dort, wo ich lang will. Na gut, an dem komme ich vielleicht vorbei. Als ich kurz vor dem Hindernis bin, marschiert unvermittelt ein Senior mit Sonnenhut und Wanderstecken in den Weg. Ich greife in die Bremse. Die V-Strom kommt abrupt zum stehen, gleichzeitig bringe ich beide Füße auf den Boden. Der linke tritt ins Leere, weil unter ihm eine weggekippte Steinplatte ist, aber mit dem rechten kann ich die Maschine halten. Das fehlt noch, dass ich hier umfalle.

Vorsichtig manövriere ich am LKW vorbei. An jeder Seite sind nur noch wenige Zentimeter Luft, aber es passt gerade so.

Ich atme auf, auch, weil ich anscheinend die Hauptstraße gefunden habe. Hier gibt es einige Lädchen für Souvenirs und Schmuck (geschlossen) und ein Café (leer). Außer dem Senior gerade ist keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig fahre ich weiter.

Laut Anzeige des Navigationsgeräts dauert es noch zwei Gassen, dann sind wir hier raus…. Gut so, ich merke schon, wie sich erste Plomben in meinen Backenzähnen lockeren, so hoppelt und schüttelt das hier. „Very traditional“ am Arsch, hier zerschüttelt es gerade mich UND mein Mopped. Die Hauptstraße muss ja irgendwann aus dem Ort rausführen. Oder?

In der Theorie ja, in der Praxis ist da eine Baustelle vor.
ARGH! Ich traue meinen Augen kaum. Die Ausfahrtstraße ist… gesperrt!
“Scheiße!”, brülle ich laut und trete auf die Bremse. So, und nun?

Meine Finger fliegen über Bildschirm des Garmin, auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Labyrinth. Dummerweise kennt das Navi nicht jede Gasse, sondern tatsächlich nur drei Straßen hier im Ort.

“Bringen sie uns hier weg, Anna!”, sage ich und setze als Ziel einen Punkte außerhalb des Ortes. Diesen Wunsch nach einer anderen Route quittiert das Navigationsgerät mit einer Draufsicht des Dorfes und dem Hinweis, ich möge bitte auf die nächste gelegene Straße fahren. DAS IST ARBEITSVERWEIGERUNG! MEUTEREI! Kielholen, die Matrosin!

Egal, fahre ich halt den Weg zurück, den ich gekommen bin . Hauptsache raus hier. Als ich realisiere, dass ich dafür zurück in das Gassenlabyrinth muss, stöhne ich gequält auf.

Noch einmal mogele ich mich an dem Lieferwagen vorbei und fahre grob in eine Richtung, von der ich hoffe, dass sie mich wieder zum Ortsausgang bringt.

Das klappt nur so mittel, irgendwann stehe ich an einer Abzweigung. Eine Gasse scheint noch tiefer in den Ort hinein zu führen. (NEIN! NEIN! NEIN! Schreit meine innere Stimme), die andere den Berg hinauf. Die Strecke bergauf ist aber mit Gras bewachsen, was auf wenig Nutzung hindeutet. Und sie ist steil.

In diesem Moment ist Anna aus ihrem Streik zurück. “Links abbiegen”, sagt sie. Also den Berg hoch. Das ist fast eine hundertprozentige Empfehlung rechts herum zu fahren. Trotzdem wage ich es. Im ersten Gang und mit schleifender Kupplung rumpelt und hoppelt die V-Strom den Berg hoch und plötzlich WEISS ICH warum bei echten Adventurefahrern öfter mal die Kupplung durchbrennt, weil man so eine Scheiße nämlich nur mit schleifender Kupplung fahren kann. Aber scheiß auf die Kupplung jetzt, anhalten ist nicht, schneller fahren auch nicht. Und wenn die Kupplung verschmurgelt – in Griechenland ist das Modell meiner V-Strom so verbreitet, Kupplung und Kette dafür hat jeder Dorfschmied im Regal.

Ich beiße die Zähne zusammen und zwinge die Maschine den Berg hoch, nicht wissend, was hinter dem letzten Absatz ist. Mit einem Satz ist die Barocca darüber hinweg und kommt auf einer ebenen(!!!) Straße zum Stehen.

Ich gucke mir noch einmal die Karte an und fahre dann in einem weiten Bogen um das Dorf herum. Bloß nicht wieder in dieses Gassengewirr!


Die Geschichte von Nymfaio
Später werde ich übrigens lesen, warum Nymfaio so seltsam auf mich wirkte. Im 17. Jahrhundert lebten in dem Dorf rund einhundert Familien, und nahezu jede ging dem Silber- und Goldschmiedehandwerk nach. In den langen, strengen Wintern hier oben schmiedeten die Schmuck, und im Frühjahr zogen sie in die großen Handelsstädte, von Konstantinopel bis Bukarest, und verkauften ihn. Dadurch wurden die Familien reich. Sie bauten sich große Häuser, die wegen der integrierten Schmieden komplett aus Stein waren und hohe Räume hatten.

Im Laufe der Zeit wussten manche Familien nicht mehr wohin mit der Kohle, und begannen den Handel mit anderen Waren, meist mit Tabak, wodurch sie NOCH reicher wurden und es irgendwann nicht mehr nötig hatte, in Hintergriechenland auf einem Berg zu hocken und im Winter Gold zu schmieden.

Die Familien zogen dorthin, wo sie Handel betrieben: Istanbul, Hamburg, Stockholm. Nymfaio erlebte einen Exodus, in den 1950er Jahren stand der Ort nahezu leer, die steinernen Häuser verfielen. Doch in den 1980ern entdeckten die Enkel den Ort und die Familienbesitztümer wieder und richteten viele Häuser als Ferienanwesen und klotzigen Villen wieder her, in die man sich in den heißen, griechischen Sommern oder, in der kalten Jahreszeit, zum Wintersport zurückziehen konnte.

Das erklärt, warum alles gleichzeitig so prunkvoll wie ausgestorben wirkt – im Herbst lebt anscheinend hauptsächlich Personal hier oben und putzt Staub und mäht den Rasen. Die Webseite „visitmynymfaio“ behauptet, das hier sei der Ort, in dem “noble Handelsfamilien” (billige Eigenwerbung) leben, und wenn man Nymfaio auf Instagram sucht, findet man haufenweise Bilder von jungen Menschen, die hauptberuflich Erben sind und die zum Relaxen hier herkommen.


Als ich endlich aus Nymfaio herauskomme, werde ich für die ganze Tortour mit einem der tollsten Ausblicke bislang belohnt.

Weit kann ich über das Land sehen. Felder, dicht bewaldete Bergrücken, sogar große Seen gibt es hier. In der Ferne kann ich ein Kraftwerk ausmachen – und das ist tatsächlich für diesen Landstrich typischer als die schöne Aussicht.

Was ich nämlich gerade nicht sehe und auch nicht weiß: Diese Gegend ist so spärlich besiedelt, dass hier ein Großteil von Griechenlands Energie erzeugt wird. Zu einem erheblichen Anteil kommt die aus Braunkohlekraftwerken, und die wiederum werden gespeist von großen Tagebaugrabungen – die ganze Ebene unter mir ist voller Braunkohle.

Luftaufnahme. Deutlich zu sehen: Der Tagebau. Links oben Nymfaio.

Aber auch hier gibt es Hoffnung. Im April kündigte die griechische Regierung den Ausstieg aus der Braunkohle an. Dazu gehört als erster Schritt für 2022 die Schließung von vier Kraftwerken bei Amyndeo, die ich hier in der Ferne sehe.

Am Fuß des Berges, auf einem Ebenen Parkplatz, stoppe ich die V-Strom. Jetzt wollen wir uns erst einmal die Felge angucken, mit der ich vorhin volle Kanne in diese Wasserrinne gekracht bin. Außerdem will ich kontrollieren, ob sich auf der Rüttelplattenstrecke gerade irgend woanders am Motorrad etwas gelöst hat.

Bei laufenden Motor steige ich aus dem Sattel, stelle die Maschine auf den Seitenständer und inspiziere die sichtbaren zwei Drittel des Gussrades. Sieht gut aus. Ich schiebe die Maschine ein wenig weiter, um das letzte Drittel, das gerade unter dem Schutzblech war, in Augenschein zu nehmen. Als ich die Suzuki wieder zurück auf den Seitenständer sinken lassen will, kommt da allerdings kein Widerstand. Stattdessen spüre ich, wie sich die volle Masse des Motorrads schwer gegen mich lehnt und mich zur Seite drückt. Der Seitenständer muss sich eingeklappt haben!

NEIN! presse ich hervor, aber es ist zu spät. Die 240 Kilo halte ich nicht, und alles was ich tun kann, ist die Maschine kontrolliert auf den Boden zu legen und schnell auf den Kill-Schalter zu schlagen. Der Motor geht aus, aber die Maschine kippt noch ein wenig weiter, rollt über den Sturzbügel bis der Lenker tiefer liegt als die Räder.

Ich greife reflexhaft an den Lenker und hebe das Motorrad etwas an, dann erinnere ich mich an das korrekte Prozedere zum Aufheben ohne sich dabei den Rücken zu ruinieren und stelle mich rückwärts zur Maschine. Ohne Koffer liegt das Motorrad aber so am Boden, das ich nicht ohne Verrenkungen an den hinteren Haltepunkt kommen. Außerdem riecht es nach auslaufendem Benzin. Verdammte Kacke!

In dem Moment fährt ein Kleinwagen vorbei, wird langsamer, hält an, setzt zurück. Ein älteres griechisches Ehepaar guckt mich Eulenhaft an, die Frau beginnt mit Panik in der Stimme zu rufen. Klar, die sehen mich hier mehr oder weniger neben dem Motorrad auf dem Boden liegen, die denken es sei was Schlimmeres passiert. “I am OK, can you help?”, rufe ich.

Der Mann steigt aus, kommt herüber und fragt “Where do you want me to lift?”
Ich deute auf das Heck und klopfe auf den Gepäckträger. “Here, please”.
Er packt mit an, aber selbst zu zweit ist es ein ganz schönes Gestemme und Gestöhne, bis die große Suzuki wieder in der Senkrechten steht.

“Are you OK?”, fragt der Mann. Meine Güte, spricht hier JEDER perfekt englisch?
“Yeah”, keuche ich, “thanks so much, my friend.”
“Need anything else? Bike is ok? There is Gasoline leaking!”

Ja, aber das kann eigentlich nur dem Tanküberlauf kommen, da dürfte nichts kaputt sein. Ich klicke den Killswitch zurück und drücke auf den Starter. Sofort erwacht die Maschine zum Leben und der Motor öddelt vor sich hin, so ruhig bzw. schepperig, wie ein V2 das nunmal macht. “Everything Ok”, sage ich, und der Mann winkt und geht zu seinem Auto zurück.

Man, wie bescheuert war das denn jetzt! Ärgere ich mich über mich selbst. Völlig unnötig! Ich inspiziere die Maschine. Ein Kratzer am Handprorektor, einer am Distanzblock es Sturzbügels. Genau dafür sind die Dinger da.

Ansonsten… oh nein! Ein tiefer Kratzer im Bezug der Sitzbank, bis runter aufs Trägergewebe. Keine Ahnung wie das passiert ist, ob ich bei meinem Aufhebeversuch mit einem Reißverschluss der Kombi darüber geschrappt bin oder ob der freundliche Grieche da seine Fingernägel reingehauen hat. Egal, ist nicht zu ändern. Gut, das nichts schlimmeres passiert ist. Am meisten beschädigt ist mein Ego, das hat eine ordentliche Delle bekommen. Wem jemals das MOtorrad im Stand umgefallen ist, weiß, wovon ich rede. Scheiß unnötige Aktion.

Die Straße ist breit, perfekt ausgebaut und schwingt sich in wunderbar sanften Kurven durch die Landschaft. Perfekt für Kurven-Zen, aber ich ärgere mich noch so über mich selbst, dass ich von diesem transzendenten Zustand des “eins werden mit der Straße und dem Motorrad” weit entfernt bin.

Zwei Stunden später rollt die Barocca durch die herbstliche Allee an der Halbinsel von Kastoria.

Ahornblätter regnen herab, als ich die Maschine zurücklasse um die Drachenhöhle anzusehen. Die liegt im Berg im Südosten der Halbinsel. Das Besondere ist, dass man die ohne Führer besuchen kann. Man sagt vorab, welche Sprache man bevorzugt, dann lösen Bewegungsmelder beim eigenen Rundgang Bandansagen aus. Gut, dass ich hier allein bin, und die deutsche Übersetzung ist nichtmal schlecht. Die Höhle ist nicht besonders groß oder spektakulär, aber schön anzusehen. An mehreren Stellen sieht man vom Rundweg hinab in angestrahltes Wasser, in dem schwarze Stalagmiten zu sehen sind – das sieht tatsächlich aus wie der Leib eines Drachen.

Eine schöne Tankwartin betankt die Barocca, dann reicht es mir für heute. 300 Kilometer, Schüttelhölle und Ego-Delle…. ich juckele über die schmale Schlaglochstrecke zurück zum Gasthof.

In der Gaststube steht Dimitrios hinter seinem Tresen. „Have you been to Nymfaio?“, ruft er.
„Hmja“, knurre ich.
„Very traditional, yes?“
„Yeah, ´specially the streets“, grummele ich.
“Yey, yes! Road ist very traditional!!”, ruft Dimitrios und ich wette, er grinst breit unter seiner Maske.

Dann wandere ich durch die vielen Gänge und Treppen des verwinkelten Hauses auf mein Zimmer, falle dort auf´s Bett und schlafe augenblicklich ein.

Eine Stunde später wache ich wieder auf, setze mich auf den kleinen Balkon meines Zimmers und genieße den Ausblick. Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Lichtstimmung ändert. Binnen Minuten wechselt das Licht von “der Nachmittag der langen Schatten” zu einer goldenen Sonnenuntergangsstimmung.

Als die Sonne weg ist, wird es schnell wieder kalt. Ich ziehe mich in das gemütliche Zimmer zurück, setze mich an den kleinen Schreibtisch und schreibe Reisetagebuch.

Tour des Tages: 226 Kilometer von Sidirochori nach Norden, in den Prespes-Nationalpark im Dreiländereck Griechenland – Albanien – Mazedonien, dann durch Berge und Wälder über den Ort Florin nach Nymfaio und von dort zurück nach Kastoria.

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0 Gedanken zu „Reisetagebuch Griechenland 2021 (6): Very Traditional!

  1. Gut, dass du die Tipps von Dimitrios mal gecheckt hast … Wir haben damals wohl auch einen bekommen, waren aber dann dich zu doof, tatsächlich dorthin zu finden. Gut möglich, dass es auch Nymfaio und es der Gag ist, dass da jeder einmal durch muss, aus seiner Sicht …

    Hinter Agios Germanos (im letzten Ort des Tales) haben wir damals übernachtet, da war es ziemlich toll.

  2. Was mich schon vorher (z.B. auf der Fähre) gewundert hat: hast du auf Reisen keine Ohrenstöpsel dabei? Ich mache mich damit in fremden Gefilden fast immer taub um Nachts in Ruhe schlafen zu können. Egal ob Camping oder Hotel …

  3. Modnerd: Hehe, nettes Bild. Und jedes Mal reibt er sich die Hände und denkt: Wieder einen Touri rangekriegt 🙂 Hinter Agios Germanos übernachtet? Ihr habt aber kurze Etappen gemacht! Das ist ja mal nicht weit weg von Kastoria.

    Marcus: Doch, natürlich. Ohne Ohrenstöpsel gehe ich keinen Meter aus dem Haus. Bei der Fähre war es allerdings wirklich so laut, dass es durch die Stöpsel kam, und bei dem Hund war die Frequenz so schrill und hoch, dass das ebenfalls durch ging.

  4. Danke, bin wieder sehr beeindruckt! Ich lese Ihre Berichte ja nicht, weil ich es mit Motorrädern hätte, sondern wegen Ihrer einzigartigen Reiseperspektive (ich = Flieger und dann Bus/Bahn/Schiff/Füsse), die ich nur auf Ihrem Blog finde und nachvollziehen kann.
    In diese Gegend Griechenlands habe ich es nie geschafft (aber viel darüber gelesen) und das wird sich in diesem Leben leider nicht mehr ändern, umso besser, dass Sie so schräge Touren planen.

    Die Seite von Nymfaio war eine schöne Heiterkeit noch vor dem Frühstück, “Noble Patricians”, hahaha, ein Beispiel für entschlossenes Webmarketing und das altbekannte “Geschichte ist, was man draus macht”.
    Das ist eines der Aromunendörfer, die erst als Ergebnis der Balkankriege 1912/13 griechisch wurden, aber auch davor schon bilingual waren. (Noch vor 200 Jahren gab es ja weder Griechenland noch Griech*innen, sondern das osmanische Reich, dessen Bevölkerung keinerlei “National”bewusstein hatte. Es gab die Kriterien christlich/moslemisch/jüdisch und dann als “Heimat” die Siedlungsgebiete von griechisch, slawisch, wlachisch, türkisch, albanisch etc. sprechenden Gruppen. (Mehrheitlich wurde z. B. in Thessaloniki sephardisch gesprochen, noch bis zur Shoa bildeten sephardischstämmige Jud*innen die Hälfte der Bevölkerung.)
    Jahrhundertelang hatten Hirtenvölker auf dem Balkan bis in den Süden Kleinasiens nomadisiert, halbnomadisiert und sich niedergelassen und ihre analfabetischen Sprachen mitgebracht, wie z. B. aromunisch (eine romanische Sprache ähnlich rumänisch), tsakonisch (ein dorischer Dialekt, heute nur noch auf der Ostpeloponnes, Ecke Leonidion, erhalten) oder arvanitisch (ein albanischer Dialekt, der z. B.auf den Reederinseln Hydra und Spetse gesprochen wurde, und das noch nicht mal bilingual mit griechisch).
    Noch heute anerkannte Minderheiten in GR sind https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Ethnische_Minderheit_in_Griechenland
    aber es gab viel viel mehr Volks- und Sprachgruppen, die sich quasi bis zur eigenen Auflösung in die griechische Dominanz integriert haben. So verlöschen täglich Sprachen und kulturelle Traditionen.

    Das sind (aus meiner Sicht) alles sehr spannende Sachen, aber ich will Ihnen kein Ohr abkauen damit.
    Hier nur 2 Links, falls Sie mögen:
    Gesellschaft für bedrohte Völker https://www.gfbv.de/de/news/aromunen-vlachen-in-griechenland-273/
    und eine TV-Doku zu den Aromunen https://www.br.de/mediathek/video/laender-menschen-abenteuer-reise-reportage-die-aromunen-stolze-griechen-mit-eigener-sprache-av:5f1866010d446e001b4cec57

    Die “Archontenhäuser” in Nymfaio sind übrigens auch keine Häuser wirklicher Archonten, sondern, wie Sie schreiben, Neureichenprotz des beginnenden 20.JH, der wegen der Übernahme des alten Baustil mit Förderung durch einen europäischen Denkmanlschutztopf und wissenschaftlicher Begleitung der Uni Thessaloniki restauriert wwurde. Ich kenne auf der Peloponnes diverse solcher EU-finanziert restaurierter und denkmalgeschützter Dörfer.
    Ich stelle mir vor, dass die neue “Roma-Architektur” in Rumänien eine Nachfolgerin dieser Aromunenpalazzi sind. Hier noch ein Link, denn Rumänien haben Sie ja noch in der Planung:https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/land-leute/rumaenien-architektur-roma-100.html

    Freu mich auf die nächsten Einträge!

  5. Ich bin beeindruckt, liebe Frau Eckert. Das man sich für Architektur in Venedig interessieren kann, das ist für mich völlig verständlich. Aber woher kommt Ihr Interesse und Wissen in Bezug auf diese Vielfalt an Sprachen und deren Historie? Vielen Dank auf jeden Fall für die Informationen, die sind für mich hochinteressant!

  6. Moin Silencer,
    vielen Dank für deine aktuellen Berichte 🙂 Tröstet mich etwas über das eigene Gerade-Nicht-Reisen hinweg.

    Ich bin jetzt nicht so IT-affin, aber wäre es möglich, dass du deine jüngsten Berichte wieder mit deinem Register/Rubrik “Reisen” verlinkst? Wenn man auf “Reisen” geht, enden die verlinkten Einträge bei 2020 September: Motorradherbst.
    Würde mich freuen, weil dann besser zu finden.
    LG, Jay

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