Reisetagebuch Griechenland 2021 (9): Ausgesperrt (Das Haus am Meer)

Reisetagebuch Griechenland 2021 (9): Ausgesperrt (Das Haus am Meer)

Tagebuch einer Motorradtour durch Griechenland. Heute mache ich dumme Dinge, und das gleich mehrfach.

27. September 2021, Meteora
Vor dem Gasthaus parkt mein Motorrad, gegenüber stehen zwei Wohnmobile. In der offenen Tür des einen steht der schwäbische Mathelehrer. Das dürre Männlein schüttelt aufgeregt die Fäustchen und trägt einer Frau, die im anderen Wohnmobil gerade Bettdecken ausklopft, lautstark seine Abenteuer vom gestrigen Abend vor.

“Un´ dann hat der uns von unsere Plätze vertriebe! Des müssen´se sich einmal vorstelle! Einfach umgesetzt, obwohl mir Spit-zen-plätze hadde!”, greint er.

Ich hänge die Koffer in die Maschine ein, ziehe die Sicherungsgurte fest und starte Anna. “Route steht”, meldet sich meine Copilotin im Helm und ich denke nur Bloß weg hier, damit ich dieses Elend nicht noch länger mit anhören muss.

Schnell ist die V-Strom auf der Straße, kurvt durch den noch verschlafenen Ort Kalambaka und am örtlichen LIDL vorbei auf die Landstraße. Wenig später verschwinden die Metéorafelsen im Rückspiegel.

Östlich von Kalambaka sieht die Landschaft so aus, wie ich mir manche Gegenden in den USA vorstelle. Dünn besiedelt, karges Land, endlose Straßen. Diese Gedanken drängen bei diesen Bildern geradezu auf:

Fehlen nur noch Kakteen am Straßenrand. Oh, wie ich das genieße.

Allein.
Keine anderen Menschen.
Keine Autos
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Na gut, Viecher gibt es. Aber Viecher sind okay. Viecher nerven mich nicht, auch nicht, wenn sie sowas machen:


Entlang der Strecke liegen nur wenige, kleine Orte. Als ich durch einen davon hindurchfahre und an einer Baustellenampel halten muss, trifft mich schlagartig eine Erkennntis. Zu etwas, was ich die ganze Zeit aus der Peripherie, aber nicht bewusst wahrgenommen hatte: Ich kann über die Auto drüber gucken!

Das war ja DAMALSTM mal der Normalzustand, aber heute und in Deutschland sind die Autos so groß geworden, das man als Motorradfahrer im schlimmsten Fall das Nummernschild des vorausfahrenden SUV auf Augenhöhe hat.

Ich wusste zwar, dass die Autos größer und vor allem auch höher geworden sind, aber WIE krass die Änderung ist, das wird mir jetzt erst klar, wo ich den direkten Vergleich vor Augen habe. Es ist nämlich, als sei ich durch ein Zeitloch gefallen und in den 90ern wieder rausgekommen. Hier, im ländlichen Griechenland, sind nahezu alle Autos 20 bis 25 Jahre alt. Auf den Straßen findet sich eine Unzahl an Nissan Almeras, Opel Astras und Seat Leons, das gleiche Modell wie mein kleines gelbes Auto. Als wären alle Wagen, die während der Abwrackprämienzeit in Deutschland ausgemustert wurden, nach Griechenland gewandert.

Diese Autos wirken im Vergleich zu heutigen SUVs teeny-tiny-winzig. Selbst die, die damals als Dickschiffe galten, wie die großen Passat Kombis oder Opel Vectras, wirken heute wie kleine Kompaktwagen. Diese Autos hier passen noch auf Parkplätze, über diese Autos kann ich noch hinübersehen. Wahnsinn, wie falsch die Entwicklung der Automobilindustrie in den letzten 20 Jahren gelaufen ist.

Quelle: Twitter @physicyclist
Quelle: Internet.

Weiter geht es über kleine Straßen, über Berge und durch Täler. Das macht einfach einen Heidenspaß zu fahren, die Barocca gleitet geradezu über die gewundenen Strecken und schießt druckvoll durch die kurvigen Passagen entlang der Berge. Rechts von mir sehe ich in der Ferne ein Gebirgsmassiv, halb verborgen in Wolken. Das ist der Olymp, informiert Anna. An dem fahre ich heute aber nur vorbei, weiter nach Nordosten und bei der Stadt Katerini aus den Bergen heraus und parallel zur Küste nach Norden.

Rechts der Olymp.

Hier ist das Land platt und voller Felder, und an den Straßenrändern liegt Schnee.

Hä? Was? Nein, kein Schnee. Die weißen Flocken, die hier stellenweise durch die Luft segeln und sich am Straßenrand sammeln, stammen aus den offenen Wagen der Traktoren und Lastwagen, die über die Landstraße zockeln.

Es handelt sich um Baumwolle, die hier links und rechts auf kleinen Feldern wächst. Ich halte an und betrachte und befühle eine der kniehohen Pflanzen. Genau wie Watte fühlt sich das an, vielleicht ein wenig klebriger. Aber ansonsten genau wie die Wattebäuschchen, die man im Geschäft kaufen kann.

Die Straßen werden breiter und der Verkehr dichter, ein sicheres Zeichen, das es auf eine Stadt zugeht. Tatsächlich erreiche ich am frühen Nachmittag Thessaloniki. Durch die zweitgrößte Stadt Griechenlands will ich einfach nur hindurchfahren, aber auch das gestaltet sich als gar nicht so einfach.

Stau, wohin man blickt – an Ampeln, in Baustellen, oder weil in zweiter Reihe geparkt wird. Es ist heiß, mir läuft der Schweiß im Anzug runter und der Lüfter der V-Strom dreht vernehmlich. Zwischen den Autos durchmogeln geht nicht, dazu ist der Hintern der Barocca zu, nunja, barock.

Anna und ich geraten kurz in Streit darüber, ob die „Ring Road“, also vermutlich eine Umgehungsstraße, als zu vermeidenden Autobahn zählt, oder ob die akzeptabel ist, weil wir uns so das Stop and Go in der Stadt sparen. Ich bemerke Annas Einschätzung, das wir die auf keinen Fall nehmen dürfen, leider erst, als wir schon im Stadtgebiet sind. Ich gebe die Straße manuell frei, und wir drehen eine ziemliche Schleife, um auf die Umgehung zu kommen.

Die Ring Road erweist sich als Segen für meine Nerven. Auf der vier- bis sechsspurigen Stadtautobahn ist der Verkehr zwar stellenweise auch recht dicht, aber er fließt wenigstens.

Die meiste Zeit führt die Straße auf Brücken über die Stadt hinweg, und was ich sehe bestätigt alles, was ich über sie gehört, gelesen und erzählt bekommen habe: Thessaloniki hat in der Vergangenheit viel und oft unter Bränden, Erdbeben und Kriegen gelitten. So oft, das man sich anscheinend irgendwann einfach keine Mühe mehr beim Wiederaufbau gegeben hat. Die Stadt besteht fast nur noch aus billigen Plattenbauten, die dicht an dicht stehen und zwischen denen sich Autos entlang wälzen. Keine Ästhetik, nirgends, und die wenige historische Bausubstanz ist gut verborgen und so spärlich, dass man diese Stadt vielleicht nicht unbedingt besuchen muss.

Die Stadtautobahn führt an der Nordkante des Siedlungsgebiets durch die Berge, dann nochmal mitten hinein in Gewerbegebiete, und dann wieder hinauf auf´s Land. Es wird wieder ruhiger, ländlicher, und staubiger.

Jetzt habe ich wieder Zeit für Vorfreude.

Die ganze Zeit schon, ach, eigentlich seit Wochen, freue ich mich auf die nächste Unterkunft. Ein Appartement. „Appartement Anna“, benannt nach der angeblich sehr netten Vermieterin. Das wird bestimmt total super, zumal ich jetzt fünf Tage dort bleiben werde. Pause vom Fahren, mal an einem Ort die Leute etwas besser kennenlernen. Und das Appartement ist bestimmt voll schön, Anna hat es als “helles, freundliches Appartement direkt am Strand” angepriesen. Die Spannung steigt, je öfter die englischsprachigen Schilder „To Chalkidiki“ auftauchen.

Die Chalkididi… Chalkikidi… Chaldikidi… ach, warum kann ich mir bloß diesen Namen nicht merken?! Vermutlich zu viele Vokale… Also, die Chalkidiki ist eine Halbinsel südöstlich von Thessaloniki und hängst im Nordosten Griechenlands ins Mittelmeer. Weiter östlich gibt´s praktisch nur noch Wald, und dann kommt schon die türkische Grenze und kurz dahinter Istanbul.

Auf Landkarten kann man die Chalkidiki leicht erkennen, denn sie hat nach Süden raus drei weitere Halbinseln, Babyhalbinseln quasi, die ein wenig aussehen wie drei Finger.

Der östliche Finger ist bergig und kaum zugänglich, denn hier steht der Berg Athos, der von Männern mit hohen Hüten und langen Bärten als heilig verehrt wird.

Diese Männer haben das gemacht, wovon unsere einheimischen Reichsbürger nur träumen: Sie haben haben die Halbinsel besetzt und eine „Mönchsrepublik“ ausgerufen. Wer die “Republik” besuchen möchte, muss sich vorher anmelden und einen Nachweis von genug Glauben und einem Penis erbringen und dann noch das Glück haben, als einer von maximal zwölf Besuchern pro Tag ausgewählt zu werden.

Der mittlere und westliche Finger der Chalkidiki sind zum Glück weltoffen und, dank feiner Strände, auch bei Touristen sehr beliebt.

Mein Ziel liegt auf dem mittleren Finger, und dorthin führt eine immer kleiner werdende Straße, vorbei an rötlichen Felsen und durch Nadelwälder.

Gegen 15:30 Uhr rollt die Barocca in den kleinen Ort Vourvourou – mit schwierig zu merkenden Namen und scheinbar willkürlich ausgewürfelten Vokalen haben die es hier. Vourvourou ist ein Ferienort und besteht aus einer ganzen Reihe von Bootsverleihen, Ferienhäusern und Bauruinen. Wirklich, am Wegesrand stehen teils echt schöne Steinhäuser, die einen tollen Blick über die Bucht haben, aber ihnen fehlen Fenster und Dächer.

Hausnummern fehlen ebenfalls an den meisten Häusern, aber dank genauem Studium von Satellitenbildern im Vorfeld finde ich mein Ziel sehr schnell. Hinter einem offenen Eingangstor liegt ein großer Sandplatz mit einigen Olivenbäumen, und daran ein kleines, zweigeschossiges Häuschen.

Hier muss das helle und freundliche Appartement von Anna liegen. Da wehen bestimmt im sonnendurchfluteten Wohnzimmer die cremefarbenen Organzavorhänge in einer leichten Meeresbrise und Anna steht in einem weißen Sommerkleid im Türrahmen, empfängt mich mit einem Lächeln und freut sich, dass ich da bin.

Ich parke die V-Strom auf dem Sandplatz und hänge den Helm an den Lenker, dann gehe ich zu dem Häuschen.

Im Erdgeschoß ist alles dunkel. Auf einer Außenterrasse stehen schmuddelige Monoblock-Stühle. Baumaterial liegt offen herum. Ich klopfe an die Tür, dann an einen geschlossenen Fensterladen. Keine Reaktion.

Vorsichtig gehe ich um das Haus herum. Schuhe liegen im Garten, als hätte sie jemand durch ein Fenster aus dem Haus hinausgpfeffert.

In einem kleinen Schuppen wird Putzmaterial gelagert und gleichzeitig sieht es so aus, als würde hier jemand wohnen. Ein ungemachtes Bett steht neben einem Gasgrill und einer Küchenzeile, auf der Wiese davor eine Waschschüssel.

Das wirkt alles sehr… runtergekommen. Außer mir ist anscheinend niemand hier, was natürlich auch voll super ist. Ich werde so langsam aber sicher sauer. Ich gebe mir echt Mühe in der Kommunikation und spreche im Vorfeld genau ab wann ich ankomme und erinnere sogar noch einmal kurz vorher per Mail an meinen Besuch. Mir ist nämlich durchaus bewusst, dass manche Leute nur nebenbei ihre Unterkünfte vermieten und für die Schlüsselübergabe planen müssen, aber wenn ich mit von meiner Seite schon Mühe gebe, dann erwarte ich ehrlich gesagt auch, dass jemand da ist, wenn ich zur verabredeten Zeit ankomme.

Ich probiere noch einmal die Fronttür und rüttele an der Klinke. Die Tür schwingt auf. Im Inneren ist es dunkel. Ich ziehe die Fenix heraus und klippe die Taschenlampe an die Schulter der Motorradjacke. Der Lichtkegel der starken Lampe wandert über schiefe, dreckige Möbel und Haufen von Unrat.

„Oi!“, höre ich plötzlich eine Stimme hinter mir und zucke zusammen. Auf dem Sandplatz steht ein kleiner Mann mit Glatze, Haarkranz und dem zweitgrößten Walrossbart, den ich je gesehen habe. Er trägt eine kurze Hose, und über einem beachtlichen Bierbauch spannt ein Feinrippunterhemd, das in einem früheren Leben wohl mal weiß gewesen sein muss.

Er ist anscheinend aus dem Nachbarhaus gekommen. Nun guckt er mich wütend an, stemmt die Hände in die Hüften und ruft „Γεια σου Τι θα έπρεπε αυτό; Τι κάνεις εδώ?“

Ich verstehe natürlich kein Wort, mein griechisch-Anfängerkurs an der VHS vor zwei Jahren hat praktisch nichts gebracht. Also hebe ich erstmal die Hände, setze die FFP2-Maske auf und mache die Taschenlampe aus, dann frage ich „Speak english?“

„No!“, ruft der Mann und stößt dann hervor „What do you want?“

„I booked the apartment“, sage ich, ziehe einen Ausdruck der Reservierung aus der Beintasche und wedele damit. Ich drucke Reservierungen immer aus. Schon weil sich damit in Situationen wie dieser viel besser wedeln lässt als mit einem Handy. Aber auch, weil die sich in Landessprache drucken lassen.

Dieser Ausdruck hier ist auf griechisch, das versteht der Walrossmann und studiert ihn sorgfältig.
„Today? No!“, murmelt er zwischendurch.
„Doch, doch“, sage ich auf englisch. „Hier steht´s“.
„Ω καταραμένη ανοησία. Οχι ξανά“, oder so ähnlich grummelt es unter dem Walrossbart, dann zieht der Feinrippträger ein Telefon aus der Tasche.

Er tippt darauf herum, horcht hinein, sagt sowas wie „κάνε τη δουλειά σου μόνος σου, διάβολε κάτι ακόμα“, was ich wieder nicht verstehe, dann reicht er mir das Gerät.

„Hello“, tönt es daraus entgegen. Die Stimme eines jungen Mannes. Definitiv keine Anna. „Sorry. I hear you met my uncle. Apartment is open. Key is on the inside. No Problem. You need something, you phone“.

„Ja fein“, sage ich ungehalten. „Und wie stellst Du Dir die Übergabe bei der Abreise vor?“
„Keine Übergabe. Lass den Schlüssel in der Tür. No Problem.“

Ich lege auf, gebe dem Walrossonkel das Telefon zurück und bedanke mich bei ihm. Ich bin immer noch sauer. Unprofessionell. Keine Anna. Und statt einem “hellen, freundlichen Appartment” muss ich mich hier mit einem Loch voller Unrat herumschlagen. Was für ein Spaß.

Ich klippe einen Koffer von der V-Strom und trage ihn zur Tür des Hauses, als ich hinter mir ein lautes „OI!“ höre. Der Walrossmann fuchtelt.
„No no no!“, ruft er.
„Aber ich hab´ die Hütte hier gemietet!“ rufe ich zurück.
„Nein Nein”, wiederholt der Walrossbart und ruft „Nicht die Tür! DIE TÜR DA!“
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Er zeigt auf eine Treppe an der Seite des Hauses, die direkt in den ersten Stock führt. Neugierig steige ich hinauf. Noch eine Haustür, und dahinter ist… ein Appartement. Ohne Unrat.

Ich stelle den Koffer ab und sehe mich um. Nein, definitiv kein Unrat, im Gegenteil Alles spartanisch eingerichtet, aber groß und hell: Ein Wohnzimmer, von dem mit einem Tresen eine Küche abgeteilt ist. Zwei Schlafzimmer.

Kein Fernseher, keine Mikrowelle, vom Vormieter steht noch das Geschirr da, und die Möbel sind alle ein wenig abgestoßen und definitiv seit den 90ern schon durch mehr als einen Haushalt gegangen, aber dafür gibt es zwei Balkons! So gefällt mir das! Mein Herz hüpft ein wenig, als ich weiter erkunde.

Direkt hinter dem Haus ist Rasen und ein großer, knorriger Baum mit einem großen Tisch. Billige Strandliegen stehen verteilt auf der Wiese herum. Kein Vergleich zu den Luxusmöbeln auf dem Nachbargrundstück, aber das ist echt völlig wurscht.

Hinter dem Rasen liegt direkt ein Stückchen Strand, darauf eine fleckige Plastikliege und einer kleiner Sonnenschirm voller Löcher. Noch in voller Motorradmontur stehe ich am Wasser und kann es gar nicht glauben. Das hier ist das Paradies! Ein Appartement, ganz für mich allein UND ein Privatstrand! Ja, SO hatte ich mir das vorgestellt.

In der Ferne ist der Berg Athos zu sehen.

Als alle Koffer im Haus sind, ziehe ich mich schnell um. Zwei große Glasflügeltüren im Wohnzimmer lassen sich öffnen, so das man direkt auf´s Meer hinausschaut. Davor ist ein schmaler Balkon mit einem Tisch. Ich öffne eine der Glastüren, trete hindurch und merke, dass in der Wand eine Schiebetür mit Fliegengitter eingelassen ist. Wie praktisch! So kann man die Türen aufhaben und dem Meer lauschen ohne das die ganze Butze voller Mücken ist!

Ich ziehe die Moskitotür hinter mir zu und genieße die Aussicht über die Bucht von Vourvourou.

Ich muss mich fast mit Gewalt vom Meerblick losreißen. Aber die Sonne geht bald unter, und ich muss noch einkaufen.

Ich drehe mich um und will die Moskitotür öffnen, aber das ist gar nicht so einfach. Ich ziehe am Griff, aber die bewegt sich keinen Millimeter. Ich ziehe und zerre und rüttele und drücke am Rahmen herum in der Hoffnung, dass es irgendwo eine Stelle gibt, die den Schnapper aufdrückt, aber ohne Erfolg. Auf der Innenseite ist ein kleiner Riegel eingerastet, und den kann man auch wirklich nur von Innen bedienen. WER BAUT DENN BITTESCHÖN SOWAS?!

Ich habe mich ausgesperrt, begreife ich. Keine halbe Stunde hier und schon habe ich mich ausgesperrt! Leicht irritiert sehe ich mich auf dem Balkon um. Er ist gut fünf Meter über dem Boden, eine Feuerleiter oder sowas gibt´s nicht. Habe ich beim Rundgang vielleicht das Fenster zum Schlafzimmer offen gelassen? Dann könnte ich da hindurch wieder…. nein.

Hm. Anscheinend bin ich aber nicht der erste, dem es so geht. Oben links ist das Fliegengitter kaputt, als hätte das jemand aufgetrennt und dann durchgefasst.

Ich ziehe einen der Balkonstühle heran, klettere darauf und versuche durch das Loch an den Riegel zu kommen. Aber meine Arme sind zu kurz, an den Riegel reiche ich nicht ran. Alles was ich erreiche ist, dass das Loch im Fliegengitter noch größer wird.

Ich klettere vom Stuhl runter und reiße mit aller Kraft an der Tür herum. „Geh… auf… Du… Scheißvieh…“ presse ich durch zusammengebissene Zähne und ziehe mit meinem ganzen Gewicht. Die Metallleiste schneidet mir in die Finger und die Tür leistet heftigen Widerstand, aber irgendwann reisst der Riegel mit einem „Plonk“ ab, fliegt in hohem Bogen davon und ich kann die Tür aufziehen. Was für ein Scheiß, denke ich und ertappe mich dabei, wie ich laut lache.

In Vourvourou gibt es außerhalb der Saison keinen Supermarkt, aber neun Kilometer vom Appartement entfernt ist ein LIDL. Yay!

Ich halte LIDL ja für den besten Freund von Reisenden. Hier bekommt man schnell und ohne Hassle frische Dinge wie Obst und fertig abgepackte Salate in Singleportionen und die Backtheken haben landestypische Spezialitäten im Angebot.

Sogar ein Feierabendbier gibt es hier. Das, und den Blick auf´s Meer, habe ich mir verdient.

In der Nacht zieht ein kleines Fischerboot im Schein des Mondes über das ruhige Wasser.

Tour des Tages: Von Kalambaka über Thessaloniki nach Vourvourou, gut 389 Kilometer, rund 7,5 Stunden Fahrzeit.

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28. September 2021
Ausschlafen, das erste Mal seit Wochen. Dann frühstücken, auf dem Balkon mit dem Meeresblick. Es ist immer noch windig, der Himmel bedeckt, und mit knapp über 20 Grad nicht wirklich warm.

Schade, nicht das richtige Wetter um Baden zu gehen. Was mache ich denn heute mal? Ich könnte einmal um die Halbinsel herumfahren. Ja, das könnte ich machen. Oder auch nicht. Ich habe keinen Plan, ich muss nichts machen.

Ach doch, Wäsche waschen, das muss jetzt mal sein. “Hey Siri, spiel Podcast”, sage ich, weil ich bei Hausarbeiten immer gerne Podcasts höre, dann stecke ich das sabbelnde Telefon in die Hosentasche.

Geht nichts über Rei in der Tube. Das runde Ding rechts ist ein Universalstöpsel aus Silikon. Der passt in jedes Waschbecken und jede Badewanne.

Schnell ist die lange Merinounterwäsche ausgespült und die Motorradsocken im Waschbecken durchgewaschen. Nach einer Woche auf Tour haben die Sachen doch recht viel Schweiß aufgenommen, riechen aber erstaunlicherweise immer noch nicht. Die Socken haben so Silbergesprengsel drin, der Merinokram ist das von Natur aus antibakteriell und fängt deshalb nicht an zu riechen, und die Unterhosen sind tatsächlich aus Bambus, was auch fast keine Gerüche annimmt. So, wohin mit den nassen Klamotten?

Ich habe eine Reisewäscheleine dabei, die ich quer über den Balkon zum Meer spannen kann, aber dann fällt mir etwas ein. Es gibt auf der anderen Hausseite, die dem Meer abgewandt ist, noch einen zweiten Balkon. Schmaler als der andere, dafür aber auf der Sonnenseite und: Mit einer Wäscheleine.

Der Zugang zu diesem vorderen Balkon führt durch eine Holztür in der Küche. Ah, die ist nicht mal abgeschlossen, fein.

Ich betrete den Balkon und hänge meine Sachen auf die Wäscheleine, als es hinter mir plötzlich laut RUMMS macht. Ich zucke zusammen, weiß aber natürlich was das ist: Die Küchentür ist zugefallen. Kein Drama. Nichts passiert.

So, fertig aufgehängt. Jetzt nur noch… Ich greife nach der Klinke der Balkontür.

Der Griff geht ins Leere. Es gibt keine Klinke.
Entgeistert starre ich die Tür an.
Tatsächlich, keine Klinke.
Nur ein Knauf und ein Türschloss.

Ich starre noch etwas länger und etwas entsetzter, aber dadurch materialisiert sich auch keine Türklinke.

WAS ZUM GEIER? Selbst die Haustür hat auf der Außenseite eine verdammte Klinke, warum diese beschissene Balkontür nicht?

Okay, Ruhe bewahren. Denk nach. Wie kommst Du hier wieder runter. Ich bin zwar unfit, aber sehr beweglich. Und ich bin Meister im improvisieren. Irgendwie komme ich hier weg.
Erstmal Umfeldanalyse.

Der Balkon ist rund vier Meter über dem Boden. Unten sind entweder Treppen, die Markisen vom Erdgeschoss oder Gartenmöbel. Einfach runterklettern oder springen geht also nicht, zumal: Was sollte ich dann machen? Die Appartementtür ist von Innen abgeschlossen. Selbst wenn ich hier runterkomme, ich komme nicht wieder rein.

Ich sehe mich auf dem Balkon um, suche die Seiten ab und schaue, was sich ansonsten so findet. Die Antwort ist ernüchternd und lautet: Nüscht.

Hier gibt es nichts außer den Wäscheleinen, und die sind uralt und in der Sonne brüchig geworden. Hier wäre selbst MacGyver aufgeschmissen. An einer Hausseite gibt es einen mit Ziegeln gedeckten Vorsprung, aber selbst wenn der mein Gewicht aushielte, er führt um einen gemauerten Kamin herum, über den ich drüberklettern müsste. Keine Chance.

Soll ich um Hilfe rufen? Das nächste Haus ist nur 50 Meter weit weg. Da wohnt ja der Onkel des Besitzers, der Walrossmann. Aber der ist gerade in sein Auto gestiegen und weggefahren.

Und nun? Ich stehe hier barfuss auf diesem Balkon rum und komme hier nicht mehr weg, das gibt es doch nicht!

Ich habe auch gar nichts dabei. Immerhin habe ich eine Hose an, ist ja auch keine Selbstverständlichkeit. Oh man. Und nun? In der Sonne verdorren bis der Walrossonkel wiederkommt?

Man, “Lage der Nation” höre ich ja wirklich gern, aber gerade nervt der Podcast, der lenkt mich ab. Moment – Podcast! Ich habe das Telefon dabei! Glückes Geschick!

Schnell die Booking-App aufgemacht und auf “Unterkunft anrufen” geklickt. Es klingelt. Endlos. Dann bricht der Anruf ab. Mist.

Ich nutze die Chatfunktion der App und schreibe dem Besitzer. “Got a Problem here. Went on the balcony, door fell Shut. I am locked out. Can you sent someone to free me?”

Keine Antwort. Ich laufe auf dem Balkon auf und ab. Die Sonne kommt raus und brezelt. Es ist heiß. In Gedanken sehe ich mich schon auf dem Balkon rösten. Wie sieht man wohl aus, wenn man einem Tag ohne Wasser in der prallen Sonne auf so einem Balkon verbringt?

Da klappt am Nachbarhaus eine Tür und eine Frau in mittleren Jahren mit hochtoupierten Haaren kommt schnellen Schrittes herangeeilt. “Kommen sie um zu helfen?” rufe ich vom Balkon herab.

Sie lächelt und nickt und eilt die Treppen zur Appartementtür hinauf. “Ist abgeschlossen”, rufe ich, aber das hat sie schon selbst gemerkt. Sie zieht ein Telefon aus der Hosentasche und beginnt zu telefonieren, vermutlich mit dem Besitzer des Hauses. Sie eilt die Treppe wieder herunter, dann höre ich, wie sie in einer mit Kies gefüllten Schale herumwühlt. Ah, Zweitschlüssel draußen versteckt. Gut.

Schnell hat sie gefunden was sie gesucht hat und kommt, immer noch telefonierend, mit einem dreckigen Schlüsselbund in der Hand wieder die Treppe herauf. Gott sei dank. Sie betritt den kleinen Vorbau und ist außer Sichtweite. Ich kann einen Schlüssel im Schloss hören und ein “óchi” – nein. Dann klimpern des Schlüsselbundes. “Ochi”. Noch ein Klimpern. “Ochi” – oh Bitte, lass den richtigen Schlüssel dabei sein!

Dann hat sie alle Schlüssel durch und schüttelt den Kopf.
“Steckt der Schlüssel von Innen?” ruft sie herauf.
“Nein”, rufe ich zurück. Da bin ich hundertprozentig sicher. Er steckte da in der Nacht, aber heute morgen habe ich ihn abgezogen und an den Platz gelegt, den ich als Schlüsselplatz auserkoren habe. Ich lege gerne Plätze für Dinge fest und dann die Dinge an diese Plätze, damit ich nicht dauernd irgend etwas suchen muss.

Sie versucht es nochmal mit den Schlüsseln am Bund. Plötzlich taucht ihr Kopf um die Ecke des Vorbaus auf. Sie grinst. “Open!” ruft sie. Mir fällt ein Steinbruch vom Herzen.

Sekunden später öffnet sie die Balkontür von Innen und steckt auch gleich den passenden Schlüssel ins Schloss. Von Außen, damit so ein Mist nicht nochmal passiert. Ich könnte die Frau umarmen, aber Covid und so, wissen schon.

“Thank you- Thank You – Thank you! Efachristó!!!” rufe ich und verneige mich. Sie lacht und eilt von dannen, als wäre das alles gerade nichts gewesen. Ich bedanke mich über den Booking-Chat bei dem unbekannten Gastwirt für die schnelle Hilfe und entschuldige mich für meine Dummheit.

Dann atme ich tief durch. Genug Aufregung für heute morgen. Ich mag ja Abenteuerurlaub, aber dann bitte nicht mit so lächerlichen Abenteuern. Das war ja gerade so wie Abenteuerurlaub auf Wish bestellt. Man man man.

Ich schwinge mich auf´s Motorrad und drehe eine Runde um die Halbinsel. Das ist aber auch keine tagesfüllende Beschäftigung, für die 114 Kilometer über die Küstenstraße braucht die V-Strom nur rund zwei Stunden.

Schön zu fahren, auch wenn unterwegs erhöhte Luftfeuchtigkeit lt. Oldenburger Wörterbuch einsetzt. Der Nieselregen ist aber nur auf der westlichen Seite der Halbinsel.

Wieder zu Hause probiere ich doch den Privatstrand aus und springe ins Meer. Das Wasser ist noch herrlich warm, aber die Luft ist halt wirklich kalt und es ist sehr windig.

Dann findet das schlechte Wetter einen Weg über die Bergkette in der Mitte der Halbinsel. Ich ziehe mich auf die Couch des Appartements zurück und schaue „A long way up“ auf dem Netbook. Draußen steht die V-Strom im strömenden Regen.


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29. September 2021
Die ganze Nacht über hat es geregnet. Der Seitenständer der V-Strom sinkt auf dem Sandplatz ein, trotz der Seitenständerverbreiterung. Ich klopfe die Bierdose von neulich flach und verwende sie als Unterlage.

Fehlt noch, dass die Kiste hier umfällt, zumal es böig und windig ist.
Kein Wetter um rauszugehen. Ich probiere Halvas, eine Süßigkeit, die ich bei LIDL gefunden habe. Das ist eine sehr schwere, bröcklige Masse, die ein wenig nach Sesam und sehr süß schmeckt. Eine Spezialität aus dem arabischen Raum aus, welch Wunder, Sesamöl mit Zucker. Sehr lecker. Aber… 600 Kalorien in hundert Gramm, was von der Größe her ungefähr vier Zuckerwürfeln entspricht? Nee, danke. Das kann ich nicht aufessen.
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30. September und 01. Oktober 2021
Es stürmt, es regnet.

Ich bin zwangsweise zum Nichtstun verurteilt. Das ist auch mal ganz nett, aber ich würde lieber am Strand liegend nichts tun und ab und an ins Meer hüpfen. Schade. Ich hatte mich so auf das Schwimmen im Meer gefreut. Aber das geht bei dem Wetter nicht, und so liege ich abwechselnd auf der Couch und im Bett rum und lese oder schaue auf dem Netbook Filme.

Ich könnte jetzt zwar die Regenkombi anlegen und Moppedtouren in die Umgebung unternehmen. Ich könnte nach Thessaloniki fahren. Heck, von hier aus liegt sogar Istanbul in Reichweite. Aber ich habe auf all das keine Lust. Wenn ich ehrlich bin, will ich im Bett liegen bleiben und schlafen und zwischendurch was essen und dann weiterschlafen. Und das tue ich auch.

Die einzigen Geräusche über Tage hinweg sind das Rauschen des Windes in den Bäumen im Garten und die Wellen, die an den Strand schlagen.

Ich habe die Welt ausgesperrt, aus diesem kleinen Haus am Meer, und schlafe mir einen Teil der Erschöpfung aus den Knochen, die mich schon so lange begleitet.

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0 Gedanken zu „Reisetagebuch Griechenland 2021 (9): Ausgesperrt (Das Haus am Meer)

  1. Ha, um 3 Wochen und paar hundert Meter verpasst! Wir waren Anfang September da. Scheint ne stürmische Ecke zu sein, deshalb sind wir nach 3 Tagen Richtung Osten geflüchtet.
    Mitten im “praktisch nur noch Wald” tauchte Kavala auf. 🙂 Mit römischem Viadukt echt sehenswert.

  2. Ach das ist wieder eine tolle Geschichte! Ich habe sie genossen. Bei einer Griechenlandreise dieser Art muss einem mindestens 1 x pro Tag das Herz stehen bleiben, das Gefühl von Kontrollverlust im Gegensatz zum notwendig wohlorgansierten Alltag ist das Salz in der Suppe, die Sahne im Windbeutel. Der Beweis, dass man zur Not genügend Geduld, Mut, Entscheidungsfreude, Angst, Besonnenheit, Stress, Ruhe, Hochgefühl und Fitness drauf hat, die man ja in unserem Alltag kaum mehr anwendet.

    Athos: https://www.skylinewebcams.com/de/webcam/ellada/mount-athos/karyes/mount-athos.html
    Das Psallen findet, wie man hört, in einer Kirche im Hintergrund statt. Das Mikro ist irgendwo im Vordergrund. Wenn man Glück hat, kann man die Mönchen beim Palavern direkt neben dem Mikro einwandfrei belauschen. Macht man nicht, ist aber zu verführerisch.

    🙂 Lob fürs griechisch: μπράβος!

  3. rufus: Nee, alles gut.

    Lukra: Na sowas! Der Wald soll ja schön sein für Wanderungen. Das mit der stürmischen Ecke erklärt die Vielzahl an Surf- und Segelschulen 🙂

    Frau Eckert: Da haben Sie recht, Reisen soll einen fordern. Aber doch bitte nicht so 🙂

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