Reisetagebuch (7): Killerkarnickel
Sommertour mit der V-Strom durch Frankreich, England, Wales und Schottland. Heute: Unbekannte Orte mit coolen Namen, Orte mit bekannten Namen, die niemand kennt, dem Killerkarnickel und Cops.
Freitag, 08. Juli 2022, Bower House Inn, Eskdale, England
“Darf ich mich zu ihnen setzen?”, fragt Martin, der Radfahrer mit dem schlechten Englisch von gestern Abend. Er steht direkt vor dem kleinen Frühstückstisch, an dem ich sitze.
“Nee”, sage ich, meine das auch so und schüttele zur Bekräftigung den Kopf. “Nehmen sie bitte am Nebentisch Platz, wenn es Ihnen nichts ausmacht.” – ich bin gnadenlos, ich weiß. Aber Covid kann ich echt nicht brauchen, und Martin macht die Abfuhr nichts aus.
Er setzt sich an einen anderen Tisch und beginnt zu reden und hört nicht mehr auf. Wirklich, er hat das Quasselwasser nicht nur getrunken, es fließt geradezu durch seine Adern. Er erzählt davon, das er ja gestern auch über den Hardknott gekommen ist. Hinauf ist er allerdings nicht gefahren, er hat geschoben. Da hätte ich es ja einfacher, mit dem Motorrad, haha. Ja und das Wetter, damit hätten wir ja Glück, sei ja gerade recht gut. Und generell müsse man sich ja freuen, Nordengland sei ja gerade recht hübsch, und er könne es kaum erwarten weiter in den Norden von England zu fahren, nach Glasgow und in die Highlands und so.
Interessant, er benutzt “Nordengland” wirklich als Synonym für Schottland. Hoffentlich macht er das nicht vor Ort, sonst wird er vermutlich verhauen.
Die Bedienung steckt kurz den Kopf zur Tür des plüschigen Frühstücksraums herein und schüttelt den Kopf – da unterhalten sich zwei Deutsche, sitzen sich gegenüber, aber an verschiedenen Tischen. Ts.
Was macht der nur beruflich?, rätsele ich, während Martin seinen Monolog weiterführt. Alles an ihm schreit “Manager”, aber das liegt vielleicht nur an der trainierten Anzugfigur und dem markanten Kinn, mit dem er aussieht wie Dr. Udo Brömme. Aber das gut formulierte, ausschweifende und umständliche Reden, das leicht Unfokussierte und das Nachdenken darüber, was man sagen möchte, während man schon redet, lässt einen Professor der Hist. Phil vermuten. Vielleicht Politiker? Das lässt mir keine Ruhe, und ich muss nachfragen. Martin gibt bereitwillig Auskunft. Tatsächlich ist er Ingenieur bei der Stadt Köln. OK, DAS hatte ich im Leben nicht gedacht.
“…Naja jedenfalls steht mein Auto jetzt in Rotterdam und ich radele hier so. Alleine. Von meinen Freunden wollte niemand hier nach Nordengland. Die haben gesagt: Nordengland, das ist schlechtes Essen, schlechtes Wetter…”
“…und schlechte Unterkünfte”, ergänze ich und er nickt und ruft “Ganz genau!”.
Genau das hatte ich im Vorfeld und nach einigen Recherchen auch gedacht. Wetter meist mies, Essen eine zerkochte und vitaminlose Zumutung, und über Netz buchbare Unterkünfte sind oft entweder schlecht oder sehr teuer, meist beides. Kein Witz. Ich habe im Februar eine geschlagene Woche gebraucht, um halbwegs bezahlbare Unterkünfte bei Booking.com und Google für diese Tour zu finden.
Dabei habe ich Dinge gesehen… also wirklich, ich wusste nicht, das Booking Bewertungen von 1.0 tatsächlich anzeigt, alles unter 8.0 ist eigentlich schon nicht empfehlenswert. Und die Preise… Sagen wir mal so: Was auf Booking.com in Großbritannien im Mittel als Übernachtungszimmer in einem B&B oder einem kleinen Hotel angeboten wird, ist ein Winzzimmer mit acht Quadratmetern, schimmeligen Fensterrahmen und kaputter Dusche zu einem Preis von 140-180 Euro pro Nacht, Frühstück kostet extra. Für das Geld übernachte ich in Italien vier Mal wie ein König!
Am Ende der Februarrecherche stand die Erkenntnis: Ich muss Tour verkürzen. Eigentlich hätte ich gerne drei Wochen durch England, Wales und Schottland fahren und auch mal ein paar Tage an einem Ort bleiben wollen. Aber das ist schlicht so teuer, das will ich mir nicht leisten. Deshalb bin ich jetzt nur 10 Tage hier unterwegs, und das ist auch der Grund, warum ich quer durchs Land hetze und nirgends länger als eine Nacht bleibe. Ich will möglichst viel sehen, in möglichst kurzer Zeit.
Im Vorfeld hatten mir mehrere Leute gesagt: Mach Dir doch nicht so einen Kopf! Also WIR sind damals ganz spontan losgefahren und haben dann abends einfach in irgendeinem Ort im Pub nach einer Übernachtungsmöglichkeit gefragt und immer irgendwie ein Zimmerchen bei einer netten alten Dame oder so gekriegt!.
Hmja. Stellte sich auf Nachfrage aber raus: “Damals”, das war, je nach Person, in den 90ern oder sogar den 70ern. “Damals” ist mit heute nicht mehr zu vergleichen, denn seit “damals” hat der Tourismus stark zugenommen, hat das flächendeckende Pubsterben begonnen und die netten alten Damen mit den kleinen Pensionen sind zu einem guten Teil ebenfalls den Weg alles irdischen gegangen.
Gastfreundliche alte Damen sind kein unbegrenzt nachwachsender Rohstoff, zumal wenn ihre Cottages auf dem Land von den Erben an Fondfinanzierte Investitionsunternehmen verkauft werden, die die Häuschen dann luxussanieren und als Ferienhaus an Stadtleute auf Selbstfindungstrip vermieten. Bei verbliebenen Pubs und Inns ist das ähnlich, wenn sie keinen Nachpächter finden – und das wird immer schwerer – machen sie dicht oder werden an einen Investor verkauft und damit Teil einer Kette. Der erste Inn, in dem ich übernachtet habe, der George Inn in Middle Wallop, das ist auch so einer. Buchbar über die Website eines Londoner Unternehmens, hinter dem eine Holding steckt.
Kurze Rede, langer Sinn: Ohne Reservierung kann es also jetzt, im Juli, schwierig werden eine spontane Übernachtungsmöglichkeit zu finden – die vielen “No Vacancies”-Schilder an den kleinen Hotels in den Orten, durch die ich bislang gefahren bin, sprechen da eine deutliche Sprache.
Perlen wie den Bowers House Inn, in dem ich gerade bin, gibt es aber immer noch, und man findet sie auch über das Netz, wenn man tief genug gräbt. Das hier und auch meine anderen Unterkünfte zu finden und dann alle mit einer Rundtour zu verbinden war aber nicht einfach. Ich habe echt eine ganze Urlaubswoche von morgens bis Abends an Recherche und Routenplanung gesessen, so lange wie noch nie zuvor.
Nach dem Frühstück packe ich zusammen. Draußen hängen Wolken an den Bergen und es regnet Niesel, aber das wird nicht lange so bleiben, zeigt Annas Regenradar.
Trotzdem steige ich in die Regenkombi. So etwas hat Martin nicht, der mit einem Spandexleibchen ins Nasse startet. Er will bis an die Nordküste von Schottland. Bin gespannt ob er das durchzieht. Vielleicht erfahre ich es, wir haben festgestellt, dass wir beide die selbe Fähre zurück nach Europa nehmen werden. Ich winke, als ich vom Hof fahre.
Ich lenke die V-Strom wieder auf die kleine Dorfstraße, auf der wir gestern vom Hardknott Pass gekommen sind, und fahre die weiter in Richtung Küste, weg von den Bergen.
An der Küste liegt ein Ort, dessen Namen ich schon faszinierend finde: Ravenglass. Wie cool ist das bitte? Das klingt ja wie aus einem Fantasyroman! Wer würde nicht gern in Ravenglass wohnen statt in 37547 Mumpfelhausen?
Den Ort will ich aber nicht besuchen, kurz vor Ravenglass (hach!) fahre ich parallel zur Küste nach Norden, um dann nach 20 Kilometern einen kleinen Schlenker zu machen.
Direkt an der Küste liegt etwas, das ich mir ansehen möchte. Zunächst geht es durch den kleinen Ort Calder Bridge, der nur aus zwei Häusern, einem Pub und einer Holzhandlung zu bestehen scheint.
Neben der Holzhandlung führt ein einspuriges, kaputtes Sträßlein durch einen Wald. Das alles macht den Eindruck, dass hier nichts mehr kommt – aber das täuscht.
Nach einigen hundert Metern endet der Wald, und kurz darauf wird die Straße breiter, der Asphalt ist neu, links und rechts beginnen gepflegte Rasenflächen. Dann liegt rechterhand plötzlich ein riesiger Parkplatz, daneben ein Hubschrauberlandeplatz. Das sieht nicht nach nichts aus.
Schilder zeigen zum “Sellapark”, andere tragen Namen, die völlig unverdächtig ist. Wer hier langfährt, kommt nicht auf die Idee, dass hinter den malerischen Natursteinmauern ein ziemlich großes Gelände inkl. Schulungsgebäuden liegt, auf der die CNC ausgebildet wird – die Civil Nuclear Constabulary, eine sehr spezielle Polizeitruppe.
Es gibt sogar Trainingsplätze für für Hunde, tatsächlich ist hier auch die Training Facility der CNC Operational Dog Unit. Alles zum Schutz einer SEHR speziellen Nuklearanlage.
Das hier ist Sellafield.
Sellafield kennt man bei uns hauptsächlich als Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstäbe. Diese ganzen Castorbehälter, deren Transport immer ein Politikum ist, gehen und kommen entweder aus und nach dem französischen La Hague, oder eben Sellafield. Aber das hier ist weit mehr als nur eine Aufbereitungsanlage.
Den Nuklearkomplex gibt es schon seit dem zweiten Weltkrieg. Damals hieß das hier aber noch Windscale, und diente in erster Linie dem Bau einer Atombombe, um mit den USA gleich zu ziehen. Der Standort wurde deshalb hier gewählt, weil man strahlenden Atomabfall einfach in die irische See verklappen konnte.
1957 kam es in einem von zwei Atomreaktoren zu einem Brand, und es wurde in erheblichem Umfang Radioaktivität freigesetzt, vermutlich kam es zu einer Kernschmelze.
“Vermutlich” deshalb, weil die britische Regierung niemanden in die Anlage lässt. Damit verstößt man bis heute gegen die EURATOM-Verträge, nach denen Atomkraftwerke in Europa von der Europäischen Gemeinschaft kontrolliert und deren Betrieb, Sicherheit und die “Buchführung” über radioaktives Material überwacht werden sollen.
Die EU verklagte Großbritannien deswegen und gewann auch 2004 vor dem EUGH, gebracht hat das aber wenig. Hier könnte die Aufbereitung auch bis heute so aussehen, dass die Hälfte des angelieferten Atommülls einfach ins Meer geschmissen wird – man weiß es einfach nicht.
Weil Windscale nach dem großen Brand 1957 und einigen anderen Bränden und Unfällen einen schlechten Ruf hatte, und in UK als Synonym für Katastrophe stand, beschloss die britische Regierung Gegenmaßnahmen: 1981 benannte die Anlage um in Sellafield und startet eine Imagekampagne, die bis heute läuft. Die Webseite der CNC wirbt bspw. damit, wie malerisch die Landschaft und wie niedrig doch die Grundstückspreise hier seien.
Was nicht so gerne erwähnt wird ist, das Reaktorgebäude 1 immer noch so verstrahlt ist, das selbst Aufräum-Roboter dort kaputt gehen. Oder das 2005 bemerkt wurde, das monatelang 83.000 Liter hochradioaktive Brühe aus Salpetersäure, Uran und Plutonium ausgelaufen war. Oder das 2014 alle Mitarbeiter aufgefordert wurden zu Hause zu bleiben, wegen, äh, eines winzigkleinen Störfalls, der aber keinen Grund zur Beunruhigung böte.
Tatsächlich ist die Umgebung hier stellenweise so verstrahlt wie in Tschernobyl, und die noch laufenden Teile der Wiederaufbereitungsganlagen leiten weiterhin radioaktive Brühe in die See.
Dazu kommen absurde Skurrilitäten, die ich im Bereich Atomenergie nicht für Möglich gehalten hätte.
Nur mal als Beispiel: Die Abklingbecken für Brennelemente sind nicht überdacht. Was passiert mit stehendem Wasser ohne Ökosystem? Es bilden sich Algen, VIELE Algen.
Die Abklingbecken sind zu algigen Tümpeln geworden, in deren Brackwasser der gefährliche Inhalt nicht mal zu sehen ist. Für Wasservögel sieht das aus wie ein Tümpel, in dem bestimmt Schmackhaftes zu finden ist. Also landen sie an den Becken, staksen und picken im Wasser rum und werden dabei krass verstrahlt. Das ist eine der Hauptaufgaben der CNC: Diese Vögel abknallen. Die Kadaver werden dann auf dem Gelände als Sondermüll eingelagert. Das ist einfacher (und macht der CNC vermutlich mehr Spaß) als ein Dach über die Abklingbecken für Nuklearmüll zu bauen. Kein Witz.
Sellafield, das ist die dunkelste Seite der Atomenergie.
Und Sellafield ist so groß wie eine Kleinstadt:
Woah, Mist. Aus dem Nichts taucht hinter der Kurve eine Ampel auf, und direkt hinter der öffnet sich das Gelände und gibt den Blick frei auf flache Gebäude, Flutlicht- und Strommasten und Drahtzäune. Vor denen stehen mehrere Sprinter und Männer mit Bauhelmen.
Krass, ich hatte gedacht der Übergang sei irgendwie besser zu sehen, aber hier ist es wirklich so, dass man eben noch an einem verlassenen Steinhaus vorbeifährt, und hinter der nächsten Kurve ist man praktisch schon auf dem Gelände der Wiederaufbereitungsanlage. Ich halte an der Ampel. Nee, näher ran geht wirklich nicht. Noch ein Stück und ich bin wirklich auf dem Gelände der Anlage. Vorsichtig drehe ich die V-Strom und fahre ein Stück zurück, dann gen Nordosten.
Ärger mit Sicherheitsleuten will ich jetzt nicht.
Fun Fact: Heute ist der 08. Juli 2022. Etwas mehr als eine Woche nach meinem Besuch schließt die letzte Wiederaufbereitungsstraße von Windscale/Sellafield. Seit dem 17.07.2022 ist die Wiederaufarbeitungsanlage offiziell außer Betrieb und dient nur noch der Endlagerung. Erst Boris Johnson, dann Sellafield. Eine gute Woche für Großbritannien.
Ich gebe der Barocca die Sporen. Der V-Twin brummelt gemütlich vor sich hin, die Maschine scheint ähnlich zufriden zu sein wie ich selbst.
Durch ländliches und dünn besiedeltes Gebiet geht es bis zur Stadt Carlisle, dann weiter gen Norden auf einer Schnellstraße. Mittlerweile brauche ich Annas Hilfe nicht mehr, um zu wissen, wie schnell ich fahren darf. Ich kenne die echten Geschwindigkeiten zu den britischen Fantasieeinheiten jetzt auswendig:
20 mph sind in echter Geschwindigkeit ca. 30 km/h
30 mph sind ca. 50 km/h
40 mph sind ca. 65 km/h
50 mph sind ca. 80 km/h
60 mph sind knapp unter 100 km/h
80 mph sind ungefähr 130 km/h
Ich quere die Grenze zu Schottland, merke das aber gar nicht. Anna hat schon das nächste Ziel im Blick, und nachdem ich an weitren Orten mit echt tollen Namen (Castlemilk! Heck! Thundergarth!) vorbeigefahren bin, lenkt sie mich von der Schnellstraße herunter und in ein Wohngebiet.
Die V-Strom rollt vorbei an bescheidenen Wohnhäusern, bis Anna schließlich verkündet, das wir unser Ziel erreicht haben. Ich lenke die Maschine an den Straßenrand und stelle den Motor aus, steige aus dem Sattel und hänge den Helm an den Spiegel.
Rechts der Straße sind Wohnhäuser, links Rasen und ein Gebüsch. Wenn ich nicht wüsste, dass ich hier richtig bin, ich würde spätestens jetzt an den Fähigkeiten meiner Co-Pilotin zweifeln.
Ich habe fast Hemmungen, mit den Stiefeln über den Rasen zu laufen, aber anders geht es nicht. Anscheinend hat man sich hier bewusst gegen einen Weg entschieden. Neben dem Gebüsch ist ein kleiner Durchgang, der ebenfalls mit Rasen bewachsen ist.
Ich folge der Grasfläche, die sich hinter einer Biegung etwas weitet. Dort steht eine Trauerweide, und davor ein Stein mit einer Gedenktafel.
Das hier ist Lockerbie.
Ich kenne den Namen Lockerbie, aber was damals hier passiert ist, dass wusste ich lange Zeit nicht. Kein Wunder, ich war erst 13 Jahre alt, als kurz vor Weihnachten 1988 eine Maschine der PanAm über Lockerbie explodierte. Libysche Terroristen hatten eine Bombe an Bord geschmuggelt, die das Flugzeug eigentlich über dem offenen Meer zerreißen sollte. Weil es beim Start aber 25 Minuten Verspätung gab, explodierte die Maschine bereits, als sie noch über Land war.
Die Boing 747-121 stürzte brennend auf die Häuser und Weiden des 4.000-Seelen-Dorfes Lockerbie.
243 Passagiere, 16 Crewmitglieder, 11 Einwohner:innen von Lockerbie und eine unbekannte Anzahl an Kühen starben in dieser Nacht im Dezember 1988.
An dem Ort, an dem ich gerade stehe, befanden sich früher die Häuser Sherwood Crescent 13 und 15. Genau hier schlug der Hauptteil des Flugzeugrumpfes ein und hinterließ einen Krater mit einem Durchmesser von fast 50 Metern.
In den Tagen nach dem Anschlag reisten Hinterbliebene aus den USA an, um die Toten zu identifizieren. Die Bewohner von Lockerbie taten, was man auf dem Dorf halt tut: Sie versuchten zu helfen.
Sie richteten eine Verpflegungsstation ein und boten den Amerikanern belegte Sandwiches und Tee an, und die gesamte Dorfgemeinschaft sammelte das Gepäck von den Straßen und den umliegenden Wiesen ein, wusch und bügelte die Kleidungsstücke und händigte sie dann den Hinterbliebenen aus. Das ist eine sinnlose Tat, aber eine großartige Geste und letztlich eine Strategie, um mit einer Katastrophe umzugehen: Anpacken. Selbstwirksamkeit statt Hilflosigkeit. Etwas tun. Und mag es auch sinnlos scheinen.
Damit begann eine Jahrzehntelange Untersuchung von FBI, MI6 und der Ortspolizei von Dumfries, auf deren Gebiet Lockerbie liegt.
1999 räumte Libyen die Beteiligung an der Tat ein und zahlte insgesamt 2.46 Milliarden Dollar an die Hinterbliebenen. 2001 gab es eine Verurteilung eines Mittäters (ob der von der Ortspolizei von Dumfries verhaftet wurde, weiß ich nicht), der dann aber 2011 wieder entlassen wurde. Im Zuge dessen kam auch raus, dass das FBI nach der Wende ehemalige Stasi-Mitarbeiter befragt hatte. Bis heute steht eine Beteiligung der DDR an dem Attentat im Raum. Lockerbie ging immer weiter, erst 2020, 32 Jahre nach dem Anschlag, wurde noch der Erbauer der Bombe verurteilt.
Lockerbie, das ist ein Synonym geworden für Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung, wenn Staaten Terror ausüben. Terror, das sei am Rande bemerkt, geht per Definition immer von Staaten aus, nie von Kindern mit Cyanacryalat an den Fingern.
Nachdem ich kurz am Gedenkstein verweilt habe, gehe ich zurück zum Motorrad. Nachdenklich setze ich wieder den Helm auf und ziehe die Handschuhe an. Lockerbie, das ist auch irgendwie ein Symbol dafür, dass Verluste Wunden schlagen, die nie verheilen – aber mit denen man zu leben lernt, ohne zu vergessen welches Unrecht sie einem zugefügt hat.
Ich starte die V-Strom und lenke sie aus Lockerbie heraus und zurück auf die Schnellstraße. Weiter geht es nach Norden, durch grüne Hügel und zwischen einer Bergkette hindurch und auf Glasgow zu.
Hier gibt es doch bestimmt einen Supermarkt, in dem ich mir ein Abendessen fangen kann. Ich lasse Anna nach einem LÜDL suchen. Der erste Standort, den sie findet, liegt mitten in einer Innenstadt voller Stau. Der zweite führt zu einer Müllverwertungsanlage. Da hat sich wohl einer einen Scherz mit der crowdgesourcten Garmin-Standortliste von Supermärkten erlaubt.
Im Örtchen Livingston finden ich dann aber sowohl einen LÜDL als auch einen Aldi, und kann mich mit Gebäck und Bulgursalat eindecken.
Livingston liegt schon in Sichtweite des Firth of Forth, dem Meereinschnitt an der Ostküste Schottlands, an dem auch Edinburgh liegt. Drei Brücken führen über das Meer, und alle drei kann ich von den Feldwegen, über die Anna mich gerade wieder schickt, sehen. Ich nehme die Quensferry Crossing Brücke, das ist die schönste und modernste. Die Forth Road Bridge ist eine Autobahnbrücke und mautpflichtig, meine ich gelesen zu haben. Und die Forth Bridge ist eine historisches Bauwerk und Eisenbahnen vorbehalten. Jeder der Brücken ist ca. drei Kilometer lang.
Vom Firth of Forth selbst bekomme ich nicht so viel mit – ich muss mich auf das Stop-and-Go und später auf den zähflüssigen Verkehr auf der Brücke konzentrieren, hier ist echt viel los.
Die Verkehrsdichte nimmt aber wieder ab, als ich aus dem Speckgürtel von Edinburgh raus bin. Alles wird wieder ländlicher, und ich nehme Kurs auf die Berge im im Nordwesten. Eigentlich ist das erstmal nur eine Hügelkette, aber die stellt den Übergang zwischen den Lowlands und den Highlands dar.
Als ich die Berge erreiche, bin ich damit auch im “Loch Lomond & The Trossachs National Park” und damit unmißverständlich in Schottland angekommen. Die Berge sind von grünem Gras bedeckt, und die Straße zieht sich durch Nadelwälder.
Das Motorrad folgt der Straße und den Wäldern bis zu dem kleinen Ort Kilin, von dort geht es in den Wald. Naja, fast zumindest. Wald ist das hier schon, aber immerhin zieht sich eine Single Track Road hier durch. Die ist aber von der unangenehmen Sorte, sie viele Kurven, die aber nicht einsehbar sind. Vorsichtig und sehr langsam fahren ist hier angesagt, Spaß macht das aber nicht. 40 Meilen bzw. 65 km/h sind erlaubt, meist fahre ich aber nur 20 km/h.
Das ist nötig, weil die Strecke stark frequentiert und der Wald dicht ist, da kann man Gegenverkehr erst in letzter Sekunde sehen. Immer wieder tauchen abrupt Autos auf, und nicht alle weichen aus – der Spezialist hier meint, dass das schon irgendwie hinhaut und fährt unbeeindruckt weiter so, dass ich eine Vollbremsung machen und die V-Strom ins Gras neben der Straße lenken muss..
Fluchend stehe ich auf dem abschüssigen Straßenrand und kippele und balanciere die große Maschine beim Versuch, nicht umzufallen. Im ersten Moment bin ich der festen Überzeugung, dass der Penner die V-Strom am Koffer erwischt hat, aber dem ist zum Glück nicht so
Vorsichtig fahre ich weiter. Der Wald bleibt zurück, und nun kann ich den See sehen, an dem ich hier entlang fahre. Das ist Loch Tay. Links und rechts der schmalen Straße sind nun Steinmauern und Weiden mit Schafen.
Nach acht Kilometern, die sich wirklich ENDLOS gezogen haben, verkündet Anna vor einer Weide “Sie haben ihr Ziel erreicht”. Ich stoppe und stelle den Motor aus.
Das Tor da, dass ist also der legendäre Zugang… Ich müsste jetzt nur den Berg hochstiefeln und auf der Kuppe….
Hm. Verdammt. Vor dem Tor steht ein großes “Parken verboten” Schild, und einen Seitenstreifen gibt es hier nicht. Die Straße selbst ist hier ultraschmal, ich kann die V-Strom nirgendwo abstellen, ohne hier den ganzen Verkehr zu blockieren. Mist.
Ich mache ein paar Fotos und bedauere mich selbst. Das hier ist nämlich ein ziemlich bekannter Ort. Wenn man hier jetzt durch dieses Tor geht und diese steile Weide hochkraxelt, dann liegt nur 150 Meter entfernt die alte Tomnadashan Mine. Die gibt es schon lange nicht mehr, aber ein Stückchen weiter liegt etwas, das aussieht wie der Eingang zu einer Höhle.
Das hier ist die Höhle des Killerkarnickels.
Zumindest der Drehort, wo die legendäre Szene aus “Monty Pythons Ritter der Kokosnuss” gedreht wurde. Genau die Szene, die in einem Blutbad und dem Einsatz der heiligen Handgranate von Antiochia mündet:
Aber gut, wenn ich das Motorrad hier stehen lassen muss, um auf Killerkarnickeljagd zu gehen, dann wird es die Straße blockieren. Das geht nicht. Seufzend stecke ich die Kamera weg und starte wieder den Motor.
So, und nun? Umdrehen und die unübersichtliche und endlose Strecke durch den Wald wieder zurückeiern, oder weiterfahren und hoffen, dass es voraus nicht so anstrengend ist?
Ich entscheide mich für´s Weiterfahren, und tatsächlich komme ich hier schneller voran. Die Straße ist breiter und gerade, es sind 40 Meilen erlaubt. Ich habe bessere Laune, das hier macht deutlich mehr Freude als die Schleichfahrt eben. Befreit drehe ich am Gasgriff, und die und die V-Strom röhrt und freut sich, endlich zügiger unterwegs zu sein zu dürfen.
Die Straße führt weiter am Seeufer des Loch Tay entlang. Das Gelände ist jetzt flach, und zwischen Wiesen und kleinen Wäldchen tauchen nun immer öfter kleine Ortschaften auf. Manchmal bestehen die nur aus ein oder zwei Häusern oder einem Gehöft.
Romantisch gelegen, denke ich, als ich plötzlich einen Mann bemerke, der am Fahrbahnrand steht und eine gelbe Jacke trägt und sich etwas vors Gesicht hält. “Oh, die haben hier einen Polizistenaufsteller hingestellt”, denke ich noch und in dem Moment nimmt der “Aufsteller” die Kamera vom Gesicht und blickt mir direkt und ernst in die Augen.
Ich bin verblüfft, muss aber in dem Moment erstmal auf einen Wagen reagieren, der von vorne kommt. Als der vorbei ist, denke ich “Wieso stehen die HIER, mitten im Nirgendwo, und blitzen? Und warum? 40 Meilen darf man hier fahren, und das ist schneller als die Straße es stellenweise hergibt! Auf dem Abschnitt eben war es das erste mal, das ich wieder so schnell unterwegs war!” – und dann sehe ich das Schild mit der 20.
Oh.
Scheiße.
Ich bin allen Ernstes mit 65 km/h in eine Stelle gerauscht, in der Tempo 30 erlaubt ist.
Im nächsten Ort sind wieder 20 Schilder, und diesmal fahre ich auch 20 – und wieder steht ein Polizist da und lasert! Das gibt es doch gar nicht! Am übernächsten Ort sehe ich am Ortsausgang eine Silhouette, hier auf dem Bild links unter dem Ortsschild:
Dieses Mal fahre ich ganz langsam daran vorbei und gucke mir das genau an. Das gibt es doch gar nicht! Die haben hier allen Ernstes täuschend echte und lebensgroße Fotoaufsteller von Beamten aufgestellt! So etwas habe ich noch nie gesehen. Das wirkt auf jeden Fall abschreckend. Und anscheinend stellen sich dann ab und an die echten Polizisten an diese Stellen und lasern, die Aufsteller haben ein Scharnier in der Mitte, mit der man sie zusammenklappen kann.
Boah Mist. Warum musste ausgerechnet ich das Glück haben, einer 3D-Version zu begegnen.
Naja, hilft ja nichts. So, Gas. Ich bin etwas spät dran, gegen 18:00 Uhr wollte ich im B&B sein. Als wieder höhere Geschwindigkeiten erlaubt sind, gebe ich der V-Strom die Sporen. die Barocca legt sich elegant in die Kurven und zischt über die gut ausgebauten Straßen am Westufer des Loch Tay.
Um 18:01 Uhr biegt das Motorrad von der Hauptstraße ab und fährt eine asphaltierte Zufahrt zu einem kleinen, rot-weißen Haus hinauf.
Das ist das Inverardran Guest House, wo ich heute übernachten werden. Ich folge der Ausschilderung für die Gästeparkplätze – und stehe unvermittelt in tiefem Kies auf einem abschüssigen Stück Hügel. Mist, das ist Kacke sowas. Ohne Hilfe bekomme ich die Maschine hier nicht mehr weg.
“Oi! Problem with the gravel, mate?” höre ich plötzlich eine Stimme. Ein bebrillter Mann mit Hemd und Pullunder steht hinter mir. “Grmpflmstk” antworte ich. “There is tarmac over there!”, ruft er und deutet in eine ganz andere Richtung. Asphalt klingt gut, nehme ich!
Der Brillenmann packt unaufgefordert mit an. Er legt die Hände auf die vordere Verkleidung der Suzuki und schiebt vorsichtig, während ich mit den Hacken versuche im Kies halt zu finden. Gemeinsam gelingt es, die V-Strom aus dem Kies zu befreien. Als sie frei ist, drehe ich um und steuere auf eine Fläche gegenüber dem Gästeparkplatz – und muss grinsen. Feinster, exakt ebener Asphalt und ein Schild: Hardstand – Bikes only.
Der Brillenmann wartet bis ich abgestiegen bin, dann stellt er sich als John vor. Er ist der Besitzer des Guesthouses, zeigt mir mein Zimmer, erklärt mit der Flüssigkeit von tausend Mal gesprochenen Sätzen die Hausregeln und gibt Hinweise (Fenster geschlossen halten wegen Stechmücken, der berüchtigten Midges”) und gibt Tips für Gelegenheiten zum Abendessen. Die Liste ist allerdings kurz.
“Hundert Meter die Straße runter liegt Ben´s Lodge, aber der hat geschlossen. Daneben liegt der Mountaineering Club, aber ich glaube, deren Restaurant hat auch zu. Ein Stück weiter ist der Ort Crianlarich, da könntest Du im Imbiss Glück haben”, sagt John und fügt hinzu: “Brexit halt. Niemand findet noch Hilfen für Küche und Service, deshalb haben die meisten Restaurants geschlossen.” “Kein Problem”, sage ich. Ich habe ja ein kleines Abendmahl bei LüDL erstanden, das reicht mir für heute. Und für Morgen früh darf ich einen Wunschzettel für das Frühstück ausfüllen.
Das Guesthouse ist mit dicken Teppichen ausgelegt, und mein Zimmer ist groß und gut eingerichtet. Extrapunke gibt es für die Pinguinbilder im Bad.
Ich dusche und esse etwas, dann liege ich auf dem Bett und lasse im Kopf immer wieder die Szene mit dem Polizisten ablaufen. Hat sich “mein” Beamter wirklich bewegt? Hat er wirklich das Messgerät gesenkt und mich angesehen? Oder habe ich mir das nur eingebildet, hat mein Hirn Informationen und Versatzstücke genommen, die die Augen geliefert haben – wie die realistischen Haare auf dem Foto eines Polizisten – und den Rest einfach dazuerfunden? Und ich konnte es nicht nochmal verifizieren, weil ich mich auf den Verkehr von vorn konzentrieren musste?
Nein, das muss echt gewesen sein, und ich war signifikant zu schnell. Wenn der mich wirklich erwischt hat, wird das teuer – in UK gehen die Strafen für Geschwindigkeitsübertretungen nach Prozenten vom Wochenlohn, bei mehr als 20kmh zu schnell sind das schon mal 125%. Und natürlich ist der Brexit hier noch nicht so weit, dass Strafen aus UK nicht in Europa vollzogen würden. Ach, Mist.
Ich bin totmüde, und um kurz nach acht fallen mir schon die Augen zu. Ich werde noch einmal wach, als eine polternde und laut quatschende Familie anreist, aber dann schlafe ich schnell wieder ein.
Tour des Tages: Von Eskdale am Hardknott Pass über Sellafield und Lockerbie über den Firth of Forth, dann einmal um den Loch Tay und nach Crianliarch. Runde 467 Kilometer, zehn Stunden Fahrzeit.
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9 Gedanken zu „Reisetagebuch (7): Killerkarnickel“
Coole Stories. Ich sollte auch mal was schreiben, wenn ich nicht so faul wäre.
Lupo, mach mal bitte! Das würde ich gerne lesen!
Habe ich früher mal für eine wenig bekannte Motorradzeitschrift. Naja, lang ist’s her.
Blogs waren nie weg 😏
Ha, Meister Silencer, nix Blogs! Papier, richtiges Papier, gebunden und per Post verteilt. Die Zeitschrift heisst “SPI – Stress Press International”, wurde 1976 gegründet und existiert heute noch. Da habe ich mal ein paar Beiträge geschrieben….Google mal danach, wirst sie schon finden.
Was für ein Tag! Ich bewundere ja deine Energie, auch geschichtlich (und mit sonstigen Highlights der Etappe) voran so zu beschäftigen… und 450 km sind ein ganz schönes stück auf den singletrails…
Sehr spezielle Locations, wer kommt schon auf Lockerbie und Sellafield! Spannend.
Was witzige Ortsnamen betrifft, empehle ich sehr
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_tiefere_Sinn_des_Labenz.
Gebraucht bei Medimops etc. (Aber Sie sind sicher Douglas Adams Leser und kennen es schon…)
Bei uns im Büro herrschen bezüglich Covid-Unbesorgtheit auch britische Verhältnisse 😄(Mutmaßlich) deswegen war ich heut Nacht mit Fieber wach und hab mir gesammelt dein Reisetagebuch zu Gemüte geführt. War sehr unterhaltsam und hat schöne Erinnerung an meine eigene Britannien-Tour geweckt 😉 und viel spannendes Trivia-Wissen mit drin. Auf deine ausgeklügelte Routenplanung bin ich echt neidisch, ich hab für sowas gaaaar keine Muße und fahr meistens auf gut Glück.
@maedchenmotorrad: Großteil dieser Tour war auf gut ausgebauten Straßen, nur die 20 km auf der einen Seeseite waren Singletrack 😉
EBBonn: Bin in der Tat Adams-Fan, das Buch habe ich allerdings nie gelesen. Sollte ich mal nachholen, Danke für die Erinnerung!
Marile: Ach Du je, dann wünsche ich Dir mal gute und rasche Genesung – und das es vielleicht doch kein Covid ist! Und wenn es Dir wieder besser geht, schreib bitte mal Part II ff. Ich würde mich freuen, Deine Tour weiterlesen zu können!