Reisetagebuch (2): Cruise Europa

Eine weitere Transferetappe, aber eine sehr abwechslungsreiche. Außerdem: Warum Steine okay sind.

Sonntag, 18. September 2022, Gasthof Larch, Sterzing, Südtirol

Früh am Morgen dämmere ich aus dem Schlaf heraus, und sofort fällt mir wieder ein, das es in der Nacht schneien sollte.
Draußen rauscht es. Regen? Wind? Zumindest kein Schnee, oder? Schnee rauscht nicht.

„Hey Siri, wie spät ist es?“, schnurchele ich unter der Bettdecke hervor.
„Es ist 06:47 Uhr“, antwortet das iPhone vom Nachttisch. Krass, habe ich lange geschlafen. Fast 10 Stunden. Die Kälte gestern hat Energie gekostet.
„Temperatur?“, frage ich.
„Drei Grad“.
„Hat es geschneit?“
„Tut mir leid, ich sehe „Geschneit“ nicht in Deinen Kontakten“.
Dumme Nuss. Siri ist tageweise echt für nahezu alles zu doof.

Jetzt öffne ich langsam die Augen. Vor den Fenstern ist es hell. Sehr hell. Schneedecke? Schnell taste ich nach der Brille und sage „Hey Siri, Lumos!“
Sofort flammt die LED-Leuchte auf. Siri ist nämlich Harry-Potter Fan. Weiß kaum jemand.

Ich springe über die Klamotten und Motorradkoffer, die auf dem Boden des Hotelzimmer herumliegen, zum Fenster, reiße die Vorhänge auf und blicke auf… eine Steinmauer. Aber nicht auf Schnee.
Kein Schnee! Mir fällt ein Stein vom Herzen.

Offiziell beginnt im Gasthof Larch das Frühstück um 07:30 Uhr, aber als ich um Viertel nach Sieben die Koffer zum Motorrad trage, steppt da schon der Bär. Eine Busladung niederländischer Rentner balgt sich um Kaffee und Brötchen und sitzt schnatternd an großen Tischen zusammen. Drollig.

Weniger drollig: Ich soll an einem Einzeltisch mitten im Speisesaal Platz nehmen. „Nee“, sage ich zu der Gastwirtin. „Wenn es Okay ist, nehme ich mir nur einen Kaffee und setze mich raus. Ich möchte nicht zwischen so vielen Leuten sitzen“. Sie nickt und sagt „Aber nehmen´s sich ruhig was zu essen mit raus!“

Gut, viel Hunger habe ich nicht, aber ein Erdbeerbrötchen kann nicht schaden. Bei drei Grad sitze ich auf der Terrasse und freue mich – nicht nur, dass es nicht geschneit hat, es ist sogar trocken! Glücklich proste ich der Barocca, die geduldig vor dem Eingang wartet, mit dem Kaffeebecher zu.


Eine halbe Stunde später schwinge ich mich in den Sattel der V-Strom, die trotz der stark gefallenen Temperaturen sofort und ohne KLONK anspringt. Es ist kalt, und der Fahrtwind beißt so, das die Augen zu tränen beginnen, und ich das Visier des Helms schließen muss. Ansonsten geht es aber, ich trage die StormChaser-Regenklamotten, die halten auch Wind ab.

Es geht auf die Brennerautobahn. Das hier ist schon der italienische Teil und kostet dementsprechend Maut, aber dafür komme ich mindestens doppelt so schnell voran wie auf der Landstraße. Auf der ist schon ganz schön was los – von der höher gelegenen Autobahn sehe ich im Tal Busse und Motorräder hintereinander her fahren. Auf der A13 bin ich dagegen fast allein.

Das obere Brennertal ist eng, links und rechts sind senkrechte Felswände, zwischen denen sich die Straße hindurchschlängelt.

Erst nach einer guten Stunde, bei Bozen, weitet sich das Tal und gibt den Blick frei auf endlose Apfelfelder.

Vorbei geht es an Bozen, Trient, Rovereto und den Gardasee, aus Südtirol wird das Veneto. Die Berge werden niedriger und verschwinden schließlich ganz, erst links und rechts und dann im Rückspiegel. Vorbei an Verona, durch einen Zipfel der Lombardei mit Mantua und hinter der Stadt herunter von der Autobahn.

Die Sonne scheint, und mit den Alpen ist auch die Kälte zurückgeblieben. Hier ist es nun sommerlich warm, und ich beginne in der Regenkombi zu kochen.

Kaum von der Autobahn runter, stehe ich auf einem Dorf sofort im Stau. Weiter vorn hält ein Polizist den Verkehr auf. Was machen die hier, schon wieder eines dieser unheiligen Radrennen?, frage ich mich, als schon das erste Feld Radrennfahrer an mir vorbeisaust. „Arschlöcher“, entfährt es mir fast automatisch.

Gut, fahre ich erstmal an eine Automatentankstelle, tanke und ziehe die Regenkombi aus. Als ich gerade damit fertig bin, krajohlt das zweite Feld vorbei. Meine Güte, wird das eine längere Veranstaltung? Aber da wird die Straße wird freigegeben, und es kann weitergehen.

Vorbei an geernteten Reisfeldern, denen deutlich anzusehen ist, dass sie zu trocken waren, tuckert die V-Strom durch die Emiglia-Romana und auf Modena zu, daran vorbei und in die Berge des Appenin.

Was nun folgt, ist abenteuerlich… Ich habe diese Strecke programmiert weil sie kurvig ist, aber MEINE GÜTE es war nicht abzusehen WIE kurvig das hier werden würde!

Das ist ein Kurvenparadies! Ich gebe Gas und tobe mit der V-Strom über die Bergstrecke, die nur aus Kurve an Kurve besteht und bis zum Passo Radiccio führt, an dem die Emilia Romagna in die Toskana übergeht.

Dann führt die Straße langsam wieder abwärts und kommt in der Garfagna heraus, der Bergregion der nördlichen Toskana. Hier kenne ich mich aus, ab jetzt würde ich mich auch ohne Navi oder Karte zurecht finden.

Im Sonntagsverkehr geht es vorbei an Barga, dem Dorf in der Garfagna, das von Briten übernommen wurde und sogar einen Pub hat, dann durch Borgo a Mozzano mit seiner Teufelsbrücke und hinein nach Lucca, mit der großen Festung mitten in der Stadt.

In Lucca ist IMMER Stau und ich hasse es, hier fahren zu müssen. Geht aber leider nicht anders, der Ort liegt genau vor dem Ausgang der Bergtäler der Garfagna.

Hinter Lucca geht es die Bergstraße hinab nach Pisa, hinein in die Stadt und vorbei an der Wunderwiese, der Piazza dei Miracoli. Da steht u.a. der schiefe Turm rum.

Andere Leute fahren nach Pisa, um den schiefen Turm und die anderen Stätten des Weltkulturerbes zu bestaunen. Ich bin heute hier, weil es einen LÜDL gibt. Warum auch nicht, immerhin war ich auch schon in Pisa bei IKEA, kann ich auch mal zu LÜDL.

Schnell ein wenig Backwaren gekauft, dann auf dem Parkplatz aus den Koffern die Sachen zusammengesucht, die ich mit auf die Fähre nehmen möchte.

Bis Livorno sind es nur noch 10 Kilometer. Die Straße führt unter Kiefern hindurch und vorbei an Militärbaracken. Gott, hier bin ich mit Modnerd vor 12 Jahren das erste mal langgefahren, alles bestaunend und dabei ein Rollköfferchen, eine Trekkinghose und Sandalen dabei habend, weil ich dachte, dass man das bestimmt alles braucht. Was hat sich die Welt seitdem geändert.

Das Dock „Darsena Toscana Est“ der Reederei Grimaldi befindet sich ganz unspektakulär, um nicht zu sagen: schäbig, unter einer Hochstraße. Wenn man nicht weiß, dass das hier ist, findet man es nicht – die Ausschilderung endet einen Kilometer vorher.

Vor dem Tor lungern Wachleute in Grimaldi-Uniform herum. Abweisend bedeuten sie allen Ankommenden, sich erstmal einen Parkplatz außerhalb des Geländes zu suchen.

Ich stelle die Barocca vor der Hochbrücke ab und lungere ein wenig herum. Es ist warm und sonnig, was will ich mehr. Es ist sogar sehr warm, 27 Grad sind es hier in Livorno. Ganz schöner Unterschied zu den 3 Grad heute morgen in Sterzing.

Vor der Hochbrücke stehen schon Dutzende Autos und Wohnmobile, darunter viele Deutsche. Eine Dreiviertel Stunde später, gegen halb sechs, geht es los. Ich starte den Motor und fahre auf das Gelände, werde an der Sicherheitsschleuse vorbeigewunken und darf auf einen großen Parkplatz.

Und nun? Bei anderen Grimaldi-Fähren muss man jetzt einchecken. Ist das auch hier so? Besser mal nachfragen.

Ich spreche eine vorbeieilende Grimaldi-Angestellte an, aber die winkt ab und ruft über die Schulter „Fragen nur am Schalter“.

Ich wandere zum Terminalgebäude und sehe zwei Schalter. Für jeden ist auf dem Boden eine Wartereihe eingezeichnet, Absperrband trennt beide Schalterreihen. An einem Schalter steht eine Schlange aus vielleicht sechs, sieben Personen. Vielleicht gehören die zusammen, denn am anderen steht nur eine Familie. Ach nett, dann stelle ich mich doch in die kürzere Schlange.

Ich stelle mich hinter die Familie, aber als die abgefertigt ist, drängelt sich eine gebeugte, ältere Italienerin aus der Nebenschlange vor mich.

Na gut. Italienischen Omas fährt man nicht in die Parade. Auch dann nicht, wenn Nonna – wie in diesem Fall – fast 15 Minuten braucht, bis sie endlich ihre Fahrkarten klargemacht hat.

Fahrkarten brauche ich ja nicht, ich habe nur eine kurze Frage.

Als die Nonna fertig ist und ich an den Schalter gehen will, drängelt sich ein spirreliger Mann vor mich. Er ist in den 60ern, dürr und seine Haut wirkt trotz Bräune ungesund und wächsern, fast durchsichtig.

„Hey“, sage ich. Er mustert mich für einen Moment und murmelt in schwer verständlichem italienisch, aber deutlich gepresst „So geht das hier nicht. Es gibt EINE Schlange, Du kannst dich nicht vordrängeln“ „Ich drängele mich nicht vor, es gibt hier zwei Schlangen!“, sage ich. Der Wachsmann mustert mich herablassend aus halb geöffneten Augenlidern, piekt mich mit einem spitzen Finger in die Brust und sagt „Nein. Gibt es nicht“. Dann dreht er sich um und spricht mit dem Mann hinter dem Fahrkartenschalter.

Ich stehe da und koche vor Wut. Faktisch habe ich nichts falsch gemacht – da SIND zwei Wartereihen auf dem Boden eingezeichnet und baulich getrennt. Aber die Leute hier haben sich „italienisch“ angestellt: In eine Schlange, und immer wenn an einem Schalter etwas frei wird, tritt der erste aus der gemeinsamen Schlange vor. Hätte ich ahnen können. Ist ja auch definitiv das bessere System.

Der Wachsmann verhandelt Ewigkeiten mit dem Schaltermann über Fahrkarte hier, Schlafplatz da, Sonderermäßigung wegen was weiß ich, Rückfahrt nächst Woche oder doch nicht… 10 Minuten wird hin und her palavert. Meine Frage wäre in 30 Sekunden abgehandelt gewesen. Ich stehe daneben und ärgere mich. Über die Art und Weise, wie die Nonna und der Wachsmann mich hier von oben herab maßregeln, und über mich selbst. Und dann weiß ich, was ich machen werde.

Ich nehme Blickkontakt mit den ersten Leuten in der Sammelschlange auf und mache mit knappen Handbewegungen klar, dass es bei mir ganz schnell geht und die nicht auch noch versuchen werden, sich dazwischen zu drängeln. Sie nicken. Gut. Und jetzt zu dir, wächserner Mann. Du wirst gleich staunen. Ich knirsche mit den Zähnen.

Der Wachsmann ist endlich fertig mit seiner Fahrkartenbestellung und schickt sich an zu gehen. „“EY!!“, rufe ich. Er dreht sich um und sieht mich mit einem stieren Blick durch auf halb-Acht hängende Augenlider und mit runtergezogenen Mundwinkeln an. Allein wegen der Verachtung, die in diesem Blick liegt, möchte ich ihm den Hals umdrehen.

Mein Puls pocht, als ich auf italienisch sage…

„Ich möchte mich entschuldigen“. Ich mache eine Pause und lächele freundlich. „Ich kenne mich mit den Regeln hier nicht aus. Es war nicht meine Absicht, unhöflich zu ihnen oder jemandem anders zu sein oder mich vorzudrängeln. Ich habe einen Fehler gemacht und möchte mich bedanken, dass Sie mich darauf hingewiesen haben“.

Der Mann sieht mich einen Augenblick regungslos an. Ha! Damit hat er nicht gerechnet! Dem habe ich es gezeigt!

Der Mann verzieht das Gesicht zu einem breiten Lächeln, dann sagt er „Ist doch kein Problem“, schlägt mir mit seinen knochigen Fingern freundschaftlich auf die Schulter, fragt kurz wo die Reise hingeht und wünscht mir dann einen schönen Abend.

So. Das hat jetzt ü-ber-haupt keinen Spaß gemacht, aber es war das Richtige. Und jetzt, ENDLICH, bin ich dran. „Checkin?“, frage ich den Mann hinter dem Schalter. „Später, am Fahrzeug. Wir kommen rum“, sagt der Mann. Für diese Auskunft habe ich jetzt dreißig Minuten angestanden und Blutdruck bekommen.

Erst stehen nur ein Motorroller, meine Suzuki und eine KTM 1.150 Adventure auf dem kleinen Zweiradparkplatz neben dem Tor zur Anlegestelle, aber im Laufe der Zeit kommen immer mehr Maschinen dazu. Fast alle kommen aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz.

Ein junges Paar aus Zürich, beide moppelig und mit der gleichen Kurzhaarfrisur, und in den gleichen nagelneuen und blitzsauberen Kombis.

Ein junger Mann auf einer Ducati Streetfighter der über Schmerzen im Hintern klagt. Er hätte die Kiste nur mal Probefahren wollen und dann sei er spontan auf die Idee gekommen, von Innsbruck nach Italien zu fahren. 600 Kilometer auf einem Sitzbrötchen und in gekrümmter Haltung, da kann selbst ein jugendlicher Steiß schlapp machen.

Eine Gruppe Mittfünfziger aus Passau taucht auf, natürlich, auf GSen. Die Passauer parken und packen sofort erstmal Brotzeit und Bier aus und gröhlen sich an. „Hoast die Kurven bei [unverständlich] da hoab I dem [unverständlich] amma so richtig an [unverständlich]!“. Die anderen nicken zustimmend und berichten von eigenen Kurvenerlebnissen und wie toll sie gefahren und alle anderen doof sind.

Während die Sonne langsam untergeht, wächst die Zahl der Motorräder auf über fünfzig an, und überall stehen Motorradfahrer und reden Benzin. Meist sind es ältere Männer zwischen Ende Fünfzig und Ende Sechzig.

Der Züricher nuschelt seiner Begleitung zu „Ich glaub´ wenn ich den Lenkersturz noch ein wenig ändere, kann ich die Schräglage noch um 2 bis 3 Grad verbessern“. Ich versuche mein Hirn auf Durchzug zu stellen. Klappt leider nicht.

Horst kommt aus dem Sauerlandkreis. Er ist ein dürrer Rentner mit Nickelbrille und sieht aus wie der Sozialpädagoge, der er ist. Allerdings einer, der eine Pflegeeinrichtung gegründet hat. Das lohnt sich wohl.

Horst ist mit der KTM 1.150 hier und textet gerade den jungen Mann mit den Arschschmerzen zu. „…und zuhause habe ich eine H2, die hat 250 PS. Ich habe da noch ein wenig dran geschraubt…“, er grinst verschwörerisch, „… und sie ausgefahren, die fährt jetzt spitze 349 nach GPS“. Er sieht sich beifallheischend um, und tatsächlich nickt der Arschmann anerkennend.

Jetzt ist Horst nicht mehr zu stoppen. „Guck Dir die Wohnmobile an“, sagt er, deutet auf den Parkplatz und spricht jetzt mich an. „Wohnmobile sind ne prima Sache! Musste haben, sowas. Haste immer alles dabei. Ich hatte überlegt mir eines zu holen, wo die KTM hinten rein passt. Für zum Reisen.“ In meinem Kopf haken zwei Zahnräder aus. Ich höre Horsts Worte, aber sie ergeben keinen Sinn. Warum sollte man ein Reisemotorrad in ein Wohnmobil stecken? Was soll das?

„Jetzt haben alle so ein Wohnmobil“, erläutert Horst. „Jeder hat so eines, und in 10 Jahren kauft Ihr euch das gebraucht“, ruft er dem Innsbrucker und mir zu. „Besser als Wohnwagen! Wohnwagen habe ich auch, für hinter den X4, hat auch Vorteile, aber Wohnmobil mit Mopped drin kannste nicht toppen!“

Ich verdrehe die Augen. Der Parkplatz ist mittlerweile voll mit Silberrücken vom Typ Horst, die sich über Besitz definieren und das auch gerne und ungefragt kommunizieren. Jüngere stehen in der Regel daneben und schweigen, einfach weil die Generation X (zu der ich gehöre) und alle folgenden meist gar nicht mehr die Möglichkeiten haben, eigenes Vermögen im gleichen Maß wie die Generation der Babyboomer aufzubauen. Und selbst wenn: Dass in 10 oder 20 Jahren noch jeder Haushalt durchschnittlich 1,7 fossilgetriebene PKW, plus ggf. ein Wohnmobil und ein Motorrad hat, das glaube ich nicht.

Es ist dem Großteil der Boomergeneration überhaupt nicht klar, das sie mit dem Hintern in der Sahne gesessen haben und es nahezu allen, die später kamen, schlechter gehen wird. Es nützt aber auch nichts, mit ihnen darüber zu diskutieren zu wollen, denn erschwerend kommt hinzu: Die meisten Boomer, und gerade die Männer dieser Generation, sind nicht in der Lage, zu abstrahieren. Sie sind egozentriert. Gesamtgesellschaftliche Diskussionen beziehen sie sofort nur auf sich.

Deswegen lassen sich mit dieser Generation Kampagnen so gut fahren: Dreht sich z.B. der politische Diskurs um die Änderung der Fleischerzeugung, um Ressourcen sinnvoll einzusetzen und dem Klimawandel zu begegnen, dann jaulen und poltern Dieter, Heinz und Urs sofort, dass ihnen die grünen Ökofaschisten das Schnitzel verbieten wollen. Und wenn es darum geht, dass Individualmobilität nicht grenzenlos wachsen kann, dann werden Dir Fritz, Ruedi und Erwin vorrechnen, dass früher die Moppeds ja viel mehr verbraucht haben und sie das zweite SUV ja quasi aus Umweltschutzgründen angeschafft haben.

Sie verstehen nicht mal, dass es nicht um sie als Person und das einzelne Schnitzel geht, oder das jemand dem anderen sein Wohnmobil nicht gönnt. Es geht um die Frage, wie zukünftig unsere Gesellschaft mit knapper werdenden Ressourcen gerecht funktionieren kann – aber solche Diskussionen sind eben mit den meisten Horsts oder Werners schwer zu führen, so lange die ein Schild aus Selbstbezogenheit und Herablassung vor sich her tragen.

Ihren Wohlstand werden die Boomer mit ins Grab nehmen, und das reicht vielen erstaunlicherweise völlig aus, selbst denen, die Enkelkinder haben. Ja, es hat einen Grund, das Generation X ständig schlechte Laune hat und im Laufe der Jahre entweder wie die Boomer oder zynisch geworden ist.

Ja, natürlich sind nicht ALLE Boomer so. Ich weiß das. Einige meiner besten Freunde sind Boomer. Viele sind sich der Probleme bewusst und haben auch zu ihrer Zeit versucht die zu lösen, aber die Horsts und Werners und Haralds sind halt laut, und hier und jetzt, an diesem Abend, im Hafen von Livorno, definitiv in der Überzahl. Ich bin gerade genervt von altmännerhaften Imponiergehabe und das hier, das sind genau die Gedanken, die mir gerade jetzt durch den Kopf gehen.

Es wird aber noch bessser. Eine Gruppe Tschechen kommt auf großen Ducatis angeritten. Sie sind auch allesamt in den Sechzigern. Hosenträger spannen sich über Kugelbäuchen, protzige Uhren funkeln an Handgelenken, Goldkettchen lagern auf quellendem Brusthaar, und in den grauen Kurzhaarfrisuren stecken Sonnenbrillen. Sofort nach dem Abstellen der Maschinen holen sie Dosen raus und fangen an, ein Bier nach dem nächsten zu kippen, wobei Lautstärke und Tonfall – eine Mischung aus kumpelhafter Neckerei mit fließendem Übergang zum Pöbeln – immer lauter und rauer wird.

Misantroph hat Mobbedzwerch mich mal genannt. Das ist jemand, der Menschen hasst oder ihre Nähe ablehnt. Den Großteil des Jahres halte ich mich nur für introvertiert, also jemanden, der gern allein ist und der die Gesellschaft anderer Menschen nicht ablehnt, aber von ihr erschöpft wird. Aber Momenten wie diesen glaube ich, das Mobbedzwerch recht hat.

Bei dem Tschechen, der sich am lautesten produziert, klingelt plötzlich das Telefon. Als er ran geht, ist er mit einem Mal ganz ruhig und spricht ganz sanft und leise. Viel zu Wort kommt er nicht, und wenn, redet er in einem zustimmenenden und beschwichtigenden Tonfall. Es braucht nicht viel Fantasie, um zu vermuten, das am anderen Ende die Ehefrau ist.

Die Lautstärke und diese geballte und unangenehme Prahlerei um mich herum geht mir sehr auf die Nerven. Ich bekomme Kopfschmerzen – keine Ahnung ob wegen der vielen heißen Luft, die um mich herum abgesondert wird, oder weil ich zu wenig getrunken habe, oder weil ich mir vielleicht Covid gefangen habe. Neben der V-Strom steht ein alter 125er Roller mit oft geflickter Verkleidung. Der Rollerfahrer sieht sich immer wieder irritiert um. Er fährt sein Zweirad nicht, um sich auf seine mittelalten Tage nochmal wie ein Held zu fühlen, sondern weil es ihn von A nach B bringt. Vermutlich fühlt der sich gerade genauso fehl am Platz wie ich.

Eine Angestellte von Grimaldi geht herum, scannt die Tickets, händigt Boardingkarten aus und klebt Aufkleber mit Strichcodes auf die Motorräder.
Um 19:30 Uhr kommt das Schiff, die Cruise Europa. Endlich.

Bis die Fähre angelegt hat und die ersten Fahrzeuge über die Rampe rollen, ist die Sonne untergegangen. Die Tschechen erhalten jetzt reihum Anrufe von ihren Frauen und beschwichtigen am Telefon. Ist das Telefonat vorbei, wird weiter gegröhlt.

Um 20:30 Uhr ist die Fähre endlich entladen, und das Boarding beginnt. Ich lasse die Tschechen vorfahren und halte Abstand. Zu meinem Erstaunen steuern die ihre Maschinen trotz eines ordentlichen Pegels sicher an Bord. Ist vermutlich Gewohnheitssache.

Es geht eine steile Rampe hinauf, und am Ende müssen sich alle Moppeds in mehreren Reihen nebeneinander stellen.

Um mich herum ertönt ein vielstimmiges, markiges Stöhnen, wie man es im Fitnessstudio an den Hantelbänken hört. Erstaunt blicke ich mich um und sehe, dass die Kraftlaute ausgestoßen werden, während etliche der Fahrer ihre voll bepackten Maschinen auf den Hauptständer wuchten – und sich danach stolz umsehen, ob die anderen den Kraftakt gerade auch mitbekommen haben.

Wieder verdrehe ich die Augen, denn diese Nummern sind natürlich auch eine Art der Prahlerei, und zudem völlig unsinnig. Genau so stellt man sein Motorrad auf Fähren nämlich gerade nicht ab:

Den Hauptständer auf einer Fähre zu nutzen ist eine dumme Idee. Wird ein Motorrad auf den Hauptständer aufgebockt, schwebt ein Rad in der Luft, zudem sind die beiden Auflagepunkte des Ständers eng nebeneinander. Bei Bewegungen des Schiffes besteht in Längsrichtung des Motorrads besteht die Gefahr, dass die Maschine vom Ständer rollt, bei Querbewegungen kann sie schlicht umfallen.

Die V-Strom macht vor, wie es richtig geht: Motorrad auf den Seitenständer, Gang einlegen um das Hinterrad zu blockieren, dann ein Klettband um den Hebel der Handbremse, damit das Vorderrad zu blockiert ist. Damit steht die Maschine auf drei festen und weit auseinanderliegenden Punkten. Jetzt noch ein Spanngurt über den Sattel, der sie ans Deck bindet, und die Maschine kann nirgendwohin. Aber nun, schlichtes auf-dem-Seitenständer-abstellen ist halt unspektakulär, dabei kann man sich nicht produzieren. Boah, ich bin wirklich gerade misantrophisch drauf!

„Spannt ihr die ab?“, frage ich ein Crewmitglied. Der Mann schaut mich gelangweilt an und nickt. Ich glaube ihm kein Wort, denn statt Einzuweisen hat er quasi nur zugesehen, wie die Motorräder sich irgendwo hingestellt haben. Was nun zur Folge hat, dass die überall stehen, aber nur in den seltensten Fälle da, wo auch Bodenösen für Spanngurte sind. Egal. Soll eine ruhige See werden, heute Nacht. Und wenn eine der schlecht abgestellten GSen vom Ständer rutscht und gegen die Suzuki fällt, weiß ich, wem das mehr weh tun wird.

Ich merke mir das Parkdeck und den Ausgang, hinter dem die V-Strom steht, dann steige ich im Treppenhaus nach oben, bis zu den Decks mit den Kabinen.

An Bord der Cruise Europa veranstaltet die Crew Grimaldi-typisches Info-Wirrwarr. Die Rezeption, sagt die Rezeption, gibt keine Zimmerschlüssel aus, das machen Kollegen an den Kabinen. Aber jetzt nicht, denn die sind noch nicht gesäubert. Also die Kabinen, nicht die Kollegen. Leider weiß niemand, wann die Kabinen fertig sind, aber man solle auf Lautsprecherdurchsagen achten. Aha.

Ich verziehe mich mit einer Tüte Lüdl-Backwerk als Abendessen auf´s Oberdeck, und 30 Minuten später plärrt es aus den Lautsprechern, dass man sich nun auf die Suche nach den Schlüsselmeistern begeben kann. Ich finde tatsächlich einen und bin froh, als ich die Tür meiner Kabine hinter mir schließen kann.

Gesäubert sieht die aber nicht aus… Der Spiegel macht den Eindruck, als habe ein Pubertierender mehrere überreife Pickel dagegen ausgedrückt, die Bettwäsche ist fleckig und der Boden klebt vor Schmutz. Egal. Hauptsache an Bord.

Ich habe jetzt so richtig Kopfschmerzen. Entweder habe ich mir jetzt wirklich doch Covid gefangen, was gar nicht so unwahrscheinlich ist, weil ich vor zwei Tagen noch auf einer Tagung rumgesprungen bin. Oder es liegt an der Stundenlangen, konzentrierten Fahrerei, dem Temperatursprung von heute morgen auf heute Abend um 25 Grad, wenig Essen und noch weniger Flüssigkeit. Wieviel habe ich heute getrunken? Etwas über einen Liter. Recht wenig.
Erstmal duschen, dann gibt es Fähren-EPA mit Cevapcici und Wasser.

Gegen 23:00 Uhr läuft die Cruise Europa aus. Die Fähre gleitet langsam an Containerschiffen vorbei, steuert aus dem Hafen von Livorno und hinaus auf die dunkle See. Ich stehe allein an der Rehling. Bis auf die Schiffsdiesel ist jetzt nichts mehr zu hören, und ich genieße die Abwesenheit menschlicher Stimmen.

Tagestour: Von Sterzing nach Livorno, 522 km

Die Gesamtstrecke: Vom Harzvorland bis in die Toskana, 1.234 km in zwei Tagen.

Zurück zu Teil 1: Knochenkälte

Nächste Woche: Gli Ulivi

Kategorien: Motorrad, Reisen | 10 Kommentare

Beitragsnavigation

10 Gedanken zu „Reisetagebuch (2): Cruise Europa

  1. Moin Silencer,

    ich lach mich schlapp: Genau da haben wir im Mai auch gestanden und sind mit derselben Fähre gefahren und auf demselben Motorradplatz in der Fähre. Nur als Kabine hast Du eine andere….
    Bin schon gespannt auf die Berichte aus Sardinien.
    Gruss
    Lupo

    Gefällt 1 Person

  2. zwerch

    Manchmal weiß ich schon was ich sage 😉
    Erdbeerbrötchen… ich habe Fragen!
    Deine Reise-Essgewohnheiten machen mich echt fertig.
    Du ernährst dich von kalten Sachen die ich nicht mal warm runter kriege. Das treibt mir die Tränen in die Augen weil ich ja weiß, dass du dich gern an gutem Essen erfreust.

    Kann man Geschmacksnerven abschalten?

    Gefällt 1 Person

  3. Das ist der Vorteil eines anonymen, nichtkommerziellen Blogs: du kannst sagen, was du denkst. Ich beiße mir da öfter mal auf die Finger. Wobei ich “Benzingespräche“ aufgrund jahrelanger Übung besser ertragen kann als du … 😉

    Gefällt 1 Person

  4. @Marcus: Ich gehe den „Benzingesprächen“ und den selbsternannten Experten aus dem Weg. Über die Jahre bekommt man ein Gefühl, wer nur labert und wer was kann, gem. des alten chinesischen Sprichwortes „Jener, der spricht, weiss nichts und jener, der weiss, spricht nicht.“

    Gefällt 1 Person

  5. @Silencer: Uns hatten sie gesagt, das Motorrad auf den Hauptständer und nicht auf den Seitenständer zu stellen, damit sie es noch abspannen können. Wundert mich jetzt etwas.

    Gefällt 1 Person

  6. Zwerch: Erdbeerbrötchen ist Brötchen mit Erdbeerkonfitüre. Nicht sowas wie Erdbeerkäse 🙂 Und naja, unterwegs darf es dann halt auch mal kaltes Fertigkram sein. Jeden Tag essen gehen ist halt teuer und kostet Zeit, manchmal gibt es keine Möglichkeit etwas essen zu gehen. Bei der Fähre hier hatte kein Restaurant mehr offen, und wen., wäre es wirklich sauteuer gewesen. Aber hey, die Cevapcici sind gar nicht schlecht!

    Marcus: Wohl wahr, ich habe da Narrenfreiheit… aber schön, dass es (manchmal) nicht nur mir so geht 😉

    Lupo: Ach, auch Startpunkt Livorno? Cool! Das die Crew auf einer großen Fähre den Hauptständer anordnet, habe ich bislang noch nie gehört. Bei einer kleinen, über einen Fjord oder so, ja – die müssen halt manchmal echt jeden Zentimeter Platz sparen. Wobei ich meine Kiste mit vollem Gepäck alleine da nicht drauf bekommen würde. Aber, wie oben ausgeführt: Hauptständer ergibt aus mehreren Gründen nicht viel Sinn, ist vielleicht eine Spezialität der Grimaldi-Crew auf der Livorno-Strecke.

    Like

  7. @Silencer: Ich hatte gefragt, ob Seiten- oder Hauptständer und der Einweiser sagte Hauptständer, da sie noch abspannen wollten und auf dem Seitenständer weniger Motorräder unterbringen könnten. Bei unserer Tour sind locker geschätzte 200 Motorräder, wenn nicht sogar mehr, auf der Fähre gewesen. Da war nirgends mehr Platz und alles auf den letzten Zentimeter voll, auch wegen der vielen Autos. Selten eine so volle Fähre gesehen. Komplett ausgebucht. Weiss ich, weil wir noch Kabinen zubuchen wollten – ging nicht. Mein Kollege hatte eine Doppelkabine gebucht und das ist nicht so toll: Ich schnarche… Er hats überlebt, wenn auch mit wenig Schlaf, wie er sagte.

    Like

  8. Ah, hat Grimaldi es bei Dir so gemacht wie Fluglinien: Überbucht, und dann Tetris gespielt 🙂

    So eine Anweisung gab es bei uns nicht (oder ich habe es nicht mitbekommen), die Einweiser standen nur gelangweilt daneben und haben müde grob in die Richtung gewedelt, in der wir sollten. Platz war aber auch genug vorhanden, und wenn ich es mir aussuchen kann, ist meine Präferenz klar: Seitenständer.

    Like

  9. Eine sehr schöne Mischung aus Reisebericht und Gesellschaftskritik 😁 Mit der Motorprotzerei komme ich auch nicht klar…

    Gefällt 1 Person

  10. Marilen: Erwischt 😊

    Like

Kommentar verfassen (und sich damit mit der Speicherung von Daten einverstanden erklären, siehe "Rechtliches & Kontakt")

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..

Bloggen auf WordPress.com.