Reisetagebuch (5): La Medusa

Ein verlängerter Sommer auf Sardinien. Heute mit einem Studium in Mülltrennung, einem penetranten Germersheimer und Schwertfisch.

Donnerstag, 22. September 2022, Gli Ulivi, La Ciaccia, Sardinien
Überall juckt es. Schon um kurz vor Sieben halte ich es nicht mehr aus, schlurfe ins Bad und beglotze meinen nackten Körper im Spiegel.

Hände. Arme. Beine. Füße. Bauch. Rücken. Überall sind Stiche.

In den vergangen Tagen haben mich jede Nacht Viecher zerstochen – trotz des guten „Ballistol Stichfrei“, das ich auf Reisen immer dabei habe, und das mir bislang Viechzeug zuverlässig vom Hals gehalten hat. Aber gegen diese Minimücken hilft das gar nicht. Was die Midges in Schottland nicht geschafft haben, das holen die Viecher hier nach: Ich sehe aus, als hätten Stechmücken eine Party auf mir gefeiert.

Seufzend mache ich mich fertig, dann packe ich meine Sachen und fege das Apartment aus. Heute ist der letzte Tag auf „Gli Ulivi“, und ein Schild an der Tür weist darauf hin, dass man die Bude bitte ordentlich hinterlassen und auch den Müll rausbringen soll, sonst zieht man sich den Zorn von Mariella und eine Rechnung über die Putzkosten in Höhe von 30 Euro zu.

Mülltrennung ist gar nicht so einfach. Auf dem Parkplatz vor dem Haus steht ein rundes Dutzend Mülltonnen in sechs verschiedenen Farben. Dazu gibt es ein Schild, was die Mülltrennung erläutert.

Nur: An den Tonnen steht teilweise was ganz anders. Laut Schild sollte Kunststoffabfall nur in die blaue Tonne, aber in die schwarze kann der laut Beschriftung auch. Die grüne Tonne ist für Glass, ausser der, an der „Papier“ steht, was eigentlich in die Weiße Tonne soll, die aber voller Strauchschnitt ist, den ich eher in der braunen Tonne für trockenen Biomüll („secco“)vermutet hätte. Nicht zu verwechseln mit der braunen Tonne mit dem feuchten Biomüll („humido“) oder der braunen Tonne, in die nur Glas soll. Die gelben Tonnen erschließen sich mir gar nicht, in einer ist Glas und in der anderen Teile eines alten Wäscheständers. Ist das vielleicht die Joker-Tonne?
Tja, Italien – Hier muss man Mülltrennung noch studiert haben!

Als ich die V-Strom startklar mache, fällt mir eine GS mit Dortmunder Kennzeichen auf, die vor dem Gebäude parkt. Auf dem Balkon des kleinen Appartements, was zum Meer hinausgeht, sitzt ein junges Paar in der Morgensonne und genießt einen Kaffee.

Ich klettere über die linke Fußraste in den Sattel, dann lasse ich den Motor an und steuere die Suzuki vom Parkplatz und hinaus auf die Straße.

Zunächst geht es nach Westen, an der Nordküste entlang. Hinter Porto Pino, einem bekannten Fährhafen, führt der Weg dann nach Süden und damit auf die Stadt Alghero zu.

Alghero ist nach Sassari die einzige größere Stadt im Nordwesten der Insel. Die V-Strom rollt die palmengesäumte Uferstraße entlang, die erst an einem kilometerlangen, weißen Sandstrand und dann an einem sehr großen Yachthafen vorbeiführt.


Alghero ist ein touristischer Hotspot, und das merkt man auch der schmucken Altstadt, die sich hinter hohen Befestigungsmauern und mächtigen Wehrtürmen verbirgt.

Die kleinen Gassen sind gesäumt von Geschäften für „authentisch hergestellten Korallenschmuck, 100% sardisch, mit Zertifikat“. Der ist bei Besuchern beliebt und kostet sehr teuer. Was die Geschäfte gerne verschweigen: Die Korallen dürfen vor Sardinien schon seit Jahrzehnten nicht mehr abgebaut werden und kommen aus Japan, und was die Herstellung angeht – es würde mich kaum wundern, wenn man „authentische sardische Herstellung“ nicht auch in China beherrschen würde.

Über dieses Korallengedöns habe ich mich 2018 schon gewundert, das brauche ich nicht nochmal, und deshalb mache ich heute keinen Stop in Alghero.

Zumindest keinen geplanten. Dafür aber viele, viel ungeplante, geradezu einen nach dem anderen, denn in den kleinen Straßen rund um die Altstadt steht der Verkehr an Baustellenampeln. Gut für die Touristen, die so ungestört über die Straßen flanieren können, und auch die zahlreichen Radreisenden, die mit ihren bepackten Drahteseln zwischen den motorisierten Fahrzeugen herumeiern.

Kurz vor dem Ortsschild von Alghero taucht plötzlich ein deutscher Camper mit dem Kennzeichen GER-AU auf. Der Fahrer fällt durch extreme Schnarchnasigkeit auf – er verpeilt Ampelschaltungen und kriecht mit Tempo 30 dort entlang, wo 50 erlaubt ist.

Ich überhole ihn sobald es irgend geht und bin froh, als die Stadt endlich zurückbleibt und die Straße sich parallel zum Meer in die Berge hinaufschwingt. Die Ausblicke von hier sind sagenhaft, und ich bedaure jeden, der Küstenstraße fährt. Die ist zwar kürzer als die Strecke durch die Berge, aber sowas hier sieht man von dort bestimmt nicht.

Die Straße arbeitet sich in großzügigen Schwüngen durch die Berge, und ich habe einen Heidenspaß mit der V-Strom dort entlangzuwedeln. Orte gibt es nur wenige, und bis auf eine Rotte Motorradfahrer aus Brandenburg sehe ich kaum andere Fahrzeuge als den gelegentlichen Pickup-Truck eines Bauern.

Der Ort Monteleone Rocca Doria liegt auf einem riesigen Felsen, dessen Seiten fast 300 Meter senkrecht abfallen. In den Ort führt eine Serpentinenstraße, die sich beeindruckend am Berg hochzieht. Muss ewig dauern, bis man da oben ist. Vielleicht auch ein Grund, weshalb da nur noch 107 Menschen leben. Der Stausee am Fuß des Felsens ist fast leer, aber das ist nach diesem Dürrejahr auch kaum anders zu erwarten gewesen.

Und Landschaft hat es hier viel, und sie ist urwüchsig. Heißt: Karges Land, dornige Büsche. Wirklich, es sieht hier aus, wie ich mir Texas oder Mexico vorstelle. Der wilde Westen Sardiniens.

Ist übrigens völlig erstaunlich: So leer die Landschaft auch ist, wenn ich irgendwo anhalte, kann ich sicher sein, das wenige Sekunden später Daniela und Michael aus Österreich hinter mir halten, Stullen auspacken und lautstark die Landschaft kommentieren.

Ist aber auch schön, die Landschaft. Die kann man auf gar keinen Fall unkommentiert genießen.

Beim Küstenort S´Archittu trifft die Bergstraße wieder auf die Küstenstraße. Ich verdrehe den Kopf und schaue, ob ich irgendwo den Steinbogen sehen kann, der hier ins Meer ragt, als ich fast einem Camper auffahre, der mir in letzter Sekunde die Vorfahrt nimmt und dann nicht wieder in Fahrt kommt.

Moment mal… den kenne ich doch! Das ist GER-AU! Schon wieder! Also, es gibt echt Leute, die fahren so verhaltensauffällig, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes merk-würdig sind.

Jetzt komme ich nicht einfach so an dem grauen Kloß vorbei und muss kilometerlang hinter der Pupskiste herzuckeln, die mal zu schnell fährt, dann wieder abrupt sehr langsam wird, wenn der Fahrer oder die Fahrerin sich die Landschaft angucken will.

Erst im Ort Zeddiani zeigt Anna eine Alternativroute an. Ich ziehe die V-Strom in eine Seitengasse, die kaum breiter ist als das Motorrad mit seinen ausladenden Koffern, biege scharf nach rechts ab und heize eine kleine Straße entlang, die parallel zur Hauptstraße verläuft. GER-AU zockelt die weiter entlang Richtung Oristano, meine Straße macht um die Stadt einen schönen Bogen und läuft dann auf die fruchtbare Ebene von Arborea zu.

Weiter geht es gen Süden, teils auf kleinsten Sträßchen. Überall ist das Land förmlich verbrannt.

Immer öfter komme ich durch kleine Orte, in denen Häuser und Mauern mit modernen Wandbildern verziert sind. Da hier ist so schön, es auch in einem Museum hängen könnte.

Kurz nach der Mittagszeit sehe ich Berge am Horizont. Graue Wolken hängen darüber. Ich halte an und überlege.

Das sieht nach Regen aus. Selbst die Luft riecht schon danach. Und war das da vorne gerade ein Blitz?

Statt mitten hindurch beschließe ich, um die Berge herum zu fahren. Bei Guspini drehe ich nach Osten ab. Eine gute Idee, wenn auch nicht ganz einfach, denn weiter im Osten dreht eine zweite Gewitterzelle und bringt ordentlichen Niederschlag, wie an den Wasserschleiern unter den Wolken zu sehen ist. Um schnell aus dem Gebiet zu kommen, fahre ich ein Stück Autobahn. Die ist hier zum Glück mautfrei, und auf ihr scheint noch die Sonne.

Gerade, als ich auf der Schnellstraße bin, überholt mich ein grauer Camper, fährt in einigem Abstand vor mir her…

…und wird dann langsamer, bis er statt der erlaubten 110 km/h nur noch mit wenig mehr als 70 dahinschleicht. Vermutlich, weil sich der Fahrer die Landschaft anguckt… Moment. DAS GIBT ES DOCH NICHT! Das ist ja SCHON WIEDER GER-AU!

Ich überhole ihn mit den erlaubten 110 und fahre die auch nach dem Überholvorgang weiter. Das triggert den Fahrer oder die Fahrerin aber so sehr, dass der Bus beschleunigt und sofort wieder zum Überholen ansetzt – mit atemberaubenden 111,52 km/h, was gefühlt minutenlang dauert. Unmittelbar vor mir schert er ein und wird sofort wieder langsamer. Alter! Wo SIND WIR DENN HIER? Ich gebe Gas, überhole mit 150 und nehme das Tempo erst wieder zurück, als die Pimmelnase im Rückspiegel verschwunden ist. Was für ein Kobold.

Vor Siliqua fahre ich von der Autobahn ab und wieder nach Westen. Ich bin zwar um die Berge rum, aber die Ausläufer des Unwetters nässen auch hier die Landschaft ein, und bei den Museumsdörfern von Domusnovas werde ich ordentlich nass. Etwas weiter südlich hört der Regen aber wieder auf. Nur tiefe Pfützen an den Straßenrändern verraten noch, wie viel Regen hier runtergekommen sein muss.

In Carbonia lege ich einen Stop ein. Der Ort heißt nicht zufällig so. Die Industriestadt wurde hier gebaut um Kohle abzubauen, und jetzt stehe ich zum zweiten Mal in meinem Leben auf dem Parkplatz des Kohlemuseums und überlege, ob ich Lust habe mir das anzusehen. Auf dem Parkplatz steht ein…. Dings herum. Das sieht aus wie eine Kreuzung aus Batmans „Tumbler“ mit einem Maulwurf.

Will ich jetzt ins Museum? Nee, sagt mir meine innere Stimme. Keine Lust. Und Schilder weisen darauf hin, dass aufgrund der Pandemie nur zwei Führungen pro Tag stattfinden, vermutlich müsste ich dann eh noch ewig warten bis es unter Tage geht.

Ich fahre weiter nach Süden. Kurz hinter Carbonia liegt Porto Pino, ein Dorf mit kilometerlangen Sandstränden. Der Ort ist nur über eine aufgeschüttete Straße in einer Lagune zu erreichen.

Ich halte die V-Strom am Bürgersteig vor einem großen Holztor.

Es ist geschlossen. „La Medusa“ steht darüber. Ich drücke die Klinke, und das Tor schwingt auf. Dahinter liegt ein zweigeschossiges Haus mit einem gepflasterten Vorplatz. Auf zwei überdachten Terrassen stehen Stühle und Tische. Zu sehen ist niemand.

„Hallo?“, rufe ich und sofort schallt mir ein „Hallo, Hallo! Kommen sie herein!“ entgegen. Ein freundlich aussehender Mann in den Fünfzigern steht hinter einem Rezeptionstresen. Nach Erledigung der Formalitäten sagt er „mit dem Motorrad? Unterwegs? Ich liebe Motorräder! Bitte, sie können hier parken!“, dabei deutet er auf den Vorplatz. Echt jetzt? Ich darf hier parken, quasi mitten Freiluftteil des Restaurants? „Kein Problem“, lacht der Mann. Na gut, er hat es so gewollt.

Kurz darauf habe ich mein Zimmer bezogen. Es ist modern und schlicht eingerichtet, so mag ich das. Was ich weniger mag: Das Fenster liegt direkt zum Restaurant hinaus. Das wird laut werden heute Abend. Hoffentlich gibt es wenigstens keine Livemusik.

Ich lege mich kurz auf´s Bett und mache die Augen zu, und als ich sie zwanzig Minuten später wieder öffne, bin ich RICHTIG zerstochen. Selbst auf den Stichen habe ich jetzt Stiche, und überall bilden sich rote Quaddeln, als hätte ich in einen Busch Brennnesseln gelangt. Was ist das bloß für teuflisches Viehzeug hier?!

Genervt gehe ich ein wenig spazieren, aber in Porto Pino gibt es außer einem Hafen für kleine Boote und einem Strand nichts zu sehen. Das ist alles ganz adrett und pittoresk, aber ich bin gerade nicht in Stimmung dafür.

Es gibt eine Großraumdisko, direkt neben La Medusa, aber da die Saison fast vorbei ist, findet da nur Samstag Party statt. Und heute ist… ich blicke auf die Uhr… Donnerstag. Puh. Gut so, Samstag bin ich schon woanders.

Was es auch gibt: Eine Apotheke. Kurz entschlossen gehe ich hinein. Erst als die Apothekerin von ihrem Handy aufblickt, fällt mir auf, dass mir das Vokabular fehlt. Ich habe keine Ahnung was „Mückenstiche“ oder „Insektenspray“ heißt.

Ich schiebe den Hemdärmel hoch, zeige die Quaddeln und sage umschreibend „Cherco qualcosa contro le Zanzare“, Ich suche was gegen Mücken. Die Frau nickt, und ich bekomme ein Mittelchen ausgehändigt. Saftige 15 Euro kostet das, und ich hoffe sehr, dass es sein Geld wert ist.

Wieder im Zimmer der Medusa trage ich das sofort auf. Es stinkt übelst nach Teebaumöl, aber es erweist sich als Allzweckwaffe: Es lindert sofort den Juckreiz, lässt die Quaddeln abschwellen und, das werde ich später merken, es verhindert neue Stiche.

Als die Sonne untergeht, öffnet La Medusa ihre Pforten. Italienische Schlagermusik schallt aus den Lautsprechern, und Gäste strömen durch das Tor.

Ich schließe mich dem Treiben an und bestelle eine Pizza, die so heißt wie das Restaurant. Das mache ich meistens, denn was den Namen des Restaurants trägt, sollte der Stolz des Küchenchefs und schon was Besonderes sein.
So auch hier, allerdings hätte ich mir denken können, das bei einem Ort der am Meer liegt, die Pizza fischig schmecken wird. So komme ich in den Genuss eine Pizza mit Schwertfisch zu probieren, der unter einem riesigen Gebüsch aus Ruccola vergraben ist. Wahrlich wie ein Medusenhaupt sieht das aus. Dooferweise mag ich weder Fisch noch Rucola. Immerhin ist das Ichnusa gut, das erste, das ich seit meiner Ankunft auf Sardinien trinke.

Tour des Tages: Von La Ciaccia im Norden Sardiniens bis nach Alghero im Westen, dann nach Süden bis Porto Pino. 375 km.

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Kategorien: Motorrad, Reisen | 2 Kommentare

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2 Gedanken zu „Reisetagebuch (5): La Medusa

  1. Ledum Palustre.
    Was man hier alles so lernt… 😊

    https://heilpraktiker.jetzt/homoeopathie-globuli/ledum-palustre/

    Gefällt 1 Person

  2. Sumpfporst?! Danke fürs Finden!

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