Reisetagebuch (6): Nora

Reisetagebuch (6): Nora

Tour mit der V-Strom nach und durch Sardinien. Heute mit Nora, und ich erhalte eine Einladung an die Universität von Cagliari.

Freitag, 23. September 2022, La Medusa, Porto Pino, Sardinien
Luftig leicht wird das Frühstück in “La Medusa” präsentiert. Ein Nebenraum im Erdgeschoss des Restaurants ist völlig offen, nur leichte Organzagardinen schweben federleicht im Morgenwind, der vom Meer hereinstreicht.

Während ich mich noch wundere woher ich weiß, was Organza ist, spricht mich eine junge Frau an. Sie bereitet hinter der Außenbar des Restaurants Caffé zu, hat tiefschwarze Haare und Augen, die so Dunkelbraun sind, das sie auch fast schwarz aussehen. “Un Momento”, sagt sie, “Ich zeige Ihnen alles. Sprechen sie deutsch?” Ich nicke, und dann legt sie auf deutsch los und erklärt mir wo der Joghurt steht und sowas.

“Wo haben sie so gut Deutsch gelernt?”, frage ich verblüfft. Sie lacht. “In München. Und in Frankfurt. Und Münster. Und Emden.” “Meine Güte, sie kennen ja ganz Deutschland!”, rufe ich verblüfft und frage “Arbeit?”. Sie nickt. “Lassen Sie uns aber bitte jetzt weiter italienisch sprechen”, sage ich, “ich spreche das sehr schlecht und möchte es lernen”. “Okay”, sagt sie und lächelt.

Das Frühstück auf der Terrasse fühlt sich fast an wie in einem Luxusressort. Um mich herum wehen diese Gardinen, der Wind rauscht leicht in den Palmen und mir geht es einfach gut. Dafür bräuchte es nicht mal diese seltsamen Malereien an der Wand von La Medusa:

Das Rezept für Glück:
100 Gramm Gelassenheit
300 Gramm der Achtung
ein Würfelchen Fantasie
ein _____ Umsicht
ein Glas Frohsinn
drei Esslöffel Geduld
Intelligenz nach Belieben
sorgfältig mischen und in der Form aufgehen lassen

JA WIEVIEL UMSICHT SOLL MAN DENN NUN NEHMEN?!? STEHT DA NICHT!! Ich kann so nicht arbeiten!

Nach dem Frühstück mache ich mich langsam fertig, dann schiebe ich die V-Strom auf die Straße vor dem Restaurant.

Die Frau verriegelt das Holztor hinter mir, dabei liegt mein Helm noch auf der Treppe im Innenhof. Die Frau sagt etwas mit sardischem Akzent, was ich nicht verstehe, aber ich kann es mir denken. “Ich mache die Tür zu, kein Problem”, sage ich und ziehe das Holztor ins Schloss.

Nach Nordosten geht es, durch staubige Orte und langweilige Straßen. Hier sieht es auf wie im wilden Westen, oder wie in Spanien oder so. Spannend wird es nur einmal, als es tatsächlich auf eine Bergkette geht und dann der Ausblick frei wird auf eine weite Ebene, über der Dunst hängt.

Am Rande dieser Ebene liegt Cagliari, die größte Stadt auf Sardinien und die Hauptstadt der autonomen Region gleichen Namens. 155.000 Einwohner:innen leben in der Stadt, und insgesamt 470.000 im näheren Einzugsgebiet, quasi der Bucht am Südenende der Insel.

Anna führt uns über eine Schnellstraße von Norden in die Stadt hinein. Fast im Herzen der Stadt geht es von Schnellstraße runter und durch Wohngebiete. Die bestehen fast durchweg aus Plattenbauten, vier bis zehn Stockwerke hoch und eng an die Straße gebaut.

Der Stadtverkehr in Cagliari ist fordernd, aber im Vergleich zu Rom oder Neapel problemlos machbar. Dicht an dicht, aber fließend, quälen sich PKW, LKW, Busse und Motorroller durch die Straßenschluchten und die Berge hinauf, auf denen Cagliari gebaut ist.

Mein Ziel liegt auf dem höchsten Berg, der sich mitten aus der Stadt erhebt. Die Häuser enden auf halber Höhe an seinen Flanken, wie eine Baumgrenze sieht das aus. Über den Häusern ist der Berg gesäumt von vertrockneten Parks, und seine Spitze wird von Teilen der Altstadt und einer Burg gekrönt.

Durch einen Teil dieser Burg führt eine Straße, zum einen Burgtor rein und zum anderen wieder raus, in jede Richtung darf man im Wechsel für drei Minuten fahren.

So… wenn die Aufklärung recht hat, dann ist mitten im Burghof… Oh ja! Glück muss man haben! Genau dort, wo sie sein sollten: Motorradparkplätze! Und sie sind frei!

Die Barocca kommt neben einer neueren V-Strom mit französischem Kennzeichen zum stehen, und ich atme erstmal tief durch und freue mich, dass das so gut geklappt hat – bei meinem ersten Besuch hier oben musste ich den Mietwagen in einem Parkhaus abstellen und dann kilometerweit bei brütender Hitze hier hochlaufen.

Ich schließe den Helm ins Topcase und steige die Treppen hinauf und laufe durch ein Tor mit schweren Metallflügeln. Fast wie ein Gefängnistor sieht das aus.

Hinter dem Tor befindet sich aber kein Gefängnis, sondern Treppen, die zwischen gepflegten Rasenflächen zu verschiedenen Gebäuden führen. Das hier ist ein Teil der Universität von Cagliari. Hier findet auch Unterricht statt, vor allem aber sind hier die Sammlungen untergebracht. Ein Teil davon ist in Museen und Ausstellungen für Besucher:innen geöffnet. Dazu zählen auch die Ausstellung der “Cere Anatomiche” – auf deutsch: Wachsmoulagen.

Die Dinger finde ich völlig faszinierend, das sind anatomische Nachbildungen von Organen und teilweise ganzen Körpern, an denen die Studierenden früher gelernt haben. Ausstellungen mit Moulagen habe ich schon an den Universitäten in Göttingen, Florenz und Pisa besucht, und neben der Bewunderung des handwerklichen Geschicks, das für die Herstellung dieser lebensechten Werke nötig ist, steckt natürlich auch gepflegter, viktorianischer Grusel darin.

Wenige Sammlungen von Wachsmoulagen sind so berühmt wie die in Cagliari, und nun ist es endlich soweit! Ich werde Sie besuchen können! Da ist schon die Tür!

Moment, wieso geht die Tür nicht auf? Das hier ist doch der Eingang, oder? Ich sehe mich um. Ein Schild verweist auf den ersten Stock. Na gut.
Ich steige noch ein paar Treppen hinauf und betrete den nächsten Eingang, Studierende stehen links und rechts in den Fluren, und als ich durch den Gang laufe, wispern sie reflexhaft “Buon Giorno, Signore” – anscheinend halten sie mich für einen Dozenten.

Das sieht hier auch alles verdächtig nach Seminarräumen aus – wo ist das Museum? Aber wenn das hier die Uni ist, dann gibt es hier auch… ah, das ist er schon. Ein Sicherheitsmann. Italienische Unis haben einen sehr präsenten Sicherheitsdienst.

Der Wachmann hier sitzt an einem Schreibtisch zwischen zwei Gängen. “Guten Tag, wo ist bitte der Eingang zum Anatomiemuseum?, frage ich höflich. “Das Anatomiemuseum?”, wiederholt der Wachmann, ein sportlicher Anfangvierziger. Mit seinen blonden Haaren und dem ebenfalls blonden Bart und der eckigen Hornbrille sieht er wein wenig aus wie James Gunn. “Das Anatomiemuseum ist geschlossen. Steht auch so im Internet”.

Ach Mist. Das hatte zwar gelesen, aber man soll ja nicht alles glauben, was im Internet steht – viele Einrichtungen haben während der Pandemie auf Google Maps das Label “Geschlossen” bekommen und dann vergessen, es wieder zu entfernen.

“Sie können aber das Archäologische Museum besuchen ober die Bildergalerie oder”, versucht der Wachmann hilfreich zu sein, der meine Enttäuschung wohl bemerkt hat. “Nee, ich bin extra wegen des Anatomiemuseum gekommen. Danke, trotzdem”, sage ich und gehe.

Vorbei an den Studierenden, die jetzt “Buon Giornata, Signore” wispern und hinaus aus der Ausgangstür. Draußen nehme ich die Maske ab und überlege. Was nun? Da fliegt hinter mir die Tür auf und der Wachmann springt auf mich zu. “Moment! Einen Moment! Vielleicht kann ich was arrangieren! Damit sie nicht umsonst gekommen sind!”, ruft er und springt an mir vorbei und die Treppen hinab. Ich gehe hinterher. “Moment”, ruft er noch einmal und sprintet über den Vorplatz zu einer Pförtnerloge, dann kommt er mit einem Schlüssel zurückgelaufen.

Kann das wirklich sein? Lässt der mich jetzt einfach so rein? “Warten sie, Moment”, sagt er und… schließt die Tür zum Museum auf!

Und dann bin ich drin, im legendären Anatomiemuseum! Das gibt s doch gar nicht. “Bleiben Sie hier stehen!” ruft der Wachmann und stürmt eine Treppe hinauf und rumort kurz im Obergeschoß. Ich bin drin! Verstohlen schieße ich ein paar Bilder von der Eingangshalle.

Der Wachmann kommt die Treppe wieder heruntergepoltert. “Hier”, sagt er dann etwas außer Atem und drückt mir ein Buch in die Hand. “Damit war ihr Besuch nicht umsonst!”. Er lächelt mich an, nickt kurz, schließt die Museumstür wieder ab und sprintet die Treppen hinauf und zurück an seinen Arbeitsplatz. Ich bleibe vor der Museumstür stehen und betrachte das Heft. Es enthält nur wenige Abbildungen der Exponate, deren Zahl in die Hunderte gehen muss.

Da war jetzt wirklich, wirklich nett von dem Wachmann, aber trotzdem schade, dass der Besuch nicht geklappt hat.

Wo ich schon mal hier bin, kann ich mir noch das Nationalmuseum ansehen. Das erklärt in einer nett gemachten, aber wenig innovativen Ausstellungen die Steinzeitgesellschaften auf Sardinien, die diese riesigen Nuraghen, die Steinfestungen, und die großen “Riesengräber” gebaut haben.

In den oberen Etagen sind die unvermeidlichen Exponate aus römischer Zeit.

Die Pinakothek, die an das Nationalmuseum angrenzt, ist dagegen enttäuschend – ein paar Ikonen, ansonsten Bilder aus dem 15. und frühen 16. Jahrhundert von lokalen Kirchenfürsten.

Durch eines der Fenster der Galerie sehe ich wieder das merkwürdige Bauwerk, wegen dem ich 2018 hier hochgekraxelt bin.

Es sieht aus wie ein großer Betoncontainer auf zwei Stelzen, von oben bis unten behängt mit Antennen und mit einem Aufbau, der irgend etwas verbirgt. Was das genau ist? Habe ich damals nicht rausfinden können. Aber hier weiß das bestimmt jemand. Ich spreche eine der Museumswächterinnen an. “Was das ist?”, sagt sie und lacht. “Das ist ein Wassertank!” Im Laufe der Zeit haben nur immer mehr Mobilfunkanbieter das Ding als Funkmasten genutzt, weil das hier der höchste Punkt der Stadt ist!”

Aha, dann wäre das Geheimnis also auch gelöst! (Und meine Schwester hatte… von Anfang an recht!)

Ich verweile noch einen Moment auf dem Campus und genieße den Ausblick über die Cagliari.

Ich fahre den Burgberg wieder hinab und bahne mir den Weg durch den brodelnden Stadtverkehr. Über die Lagunen hinweg und am Industriegebiet von Cagliari vorbei geht es Richtung Pula. Unterwegs will Anna auf eine neue Strada Statale, die allerdings nur als Baustelle im Staub existiert.

Was ich vor vier Jahren nicht mehr geschafft habe, hole ich heute nach – die Ruinen von Nora zu besuchen. Der antike Ort liegt auf einer Landzunge an der Südküste Sardiniens.

Auf dem Parkplatz davor hilft eine Parkwächterin den Touristen, aus der überkomplexen Ticketmaschine Parkscheine zu ziehen. “Muss ich auch mit einem Motorrad zahlen?”, frage ich vorsichtig. Sie lacht, guckt dabei aber streng. “Vor mir sind alle gleich”, sagt sie dann. Ich orgele aus der Maschine einen Parkschein heraus. Den klebe ich mit einer Magnettasche auf den Tank. Hoffentlich bleibt der da, ein paar Autos weiter ist Omma gnadenlos schon dabei Parkverfehlungen zu dokumentieren.

Nora liegt am Wasser, und das ist heute spiegelglatt.

Kein Windchen regt sich in der Mittagshitze, die mit über 30 Grad wirklich brütend heiß ist. Perfektes Wetter, um in der luftdichten Airbagjacke und den schweren Daytona-Stiefeln durch Ruinen zu klettern. Ich stapfe über den staubigen Asphalt auf die Landzunge zu, auf der der Leuchtturm von Nora steht.

Der Eintritt nach Nora kostet Geld, und wie mittlerweile so häufig gibt es hier eine App, die als Audioguide funktioniert und nebenher noch VR-Funktionen bietet, die aber nur so halb funktionieren. Wenn sie funktionieren, überlagern auf dem Handydisplay Rekonstruktionen von Gebäuden die tatsächlichen Ruinen. Mangels echtem VR aber nur in Standbildern, und die passen auch nur in den wenigsten Fällen zur realen Umgebung.

Die ist in der Tat interessant, aber halt auch sehr kaputt. Von den einstigen Nobelhäusern der Römer ist nicht viel übrig.

Der Wind frischt auf, und als ich zurück beim Motorrad bin, ist der Parkschein weg. Fortgeflogen. Na hoffentlich konnte sich die Parkoma noch dran erinnern, dass sie mir dabei zugesehen hat, wie ich den gezogen habe.

Zurück nach Porto Pino geht es durch die Berge, und die Strecke ist einsam und wunderschön kurvig.

Durchgeschwitzt und staubig komme ich in La Medusa an. Bevor es unter die Dusche geht, schreibe ich aber noch eine Mail. Die geht an den den “Sehr geehrten Direttore Professore”, den Leiter des Anatomiemuseums. Darin oute ich mich als Fan der Moulagen-Ausstellung und frage vorsichtig an, ob die Schließung wohl dauerhaft ist.

Egregio Signor Direttore,
Egregio team del Museo delle Cere,
Mi chiamo Silencer. Vengo dalla città universitaria di Göttingen, in Germania.

Oggi ho scoperto con grande sgomento che il vostro famoso museo è chiuso. Mi dispiace molto, soprattutto perché sono venuto a Cagliari apposta per visitare la mostra.

Spero che la chiusura sia solo temporanea? O il museo sarà chiuso definitivamente? Sarebbe un vero peccato! Ho già visitato i mostri di anatomia di Berlino, Firenze, Pisa e altri e sarei felice di vedere la vostra collezione in futuro!

Cordiali saluti
Silencer

So. Mal gucken, ob darauf jemand antwortet. Ich rechne nicht wirklich damit, sowohl der Direktor als auch das Team des Museums werden besseres zu tun haben. Aber wer weiß.

Als ich aus der Dusche komme, mach das Notebook auf dem Schreibtisch gerade “Bing” – eine Mail ist eingetrudelt. Oh, eine Antwort vom Direktor des Anatomischen Museums!

Gent.mo Sig.Silencer,

la ringrazio per il suo interesse nei confronti del Museo “Raccolta
delle cere anatomiche di Clemente Susini”.
Attualmente il Museo è chiuso, in ottemperanza alle direttive contro
la diffusione del Coronavirus, ma speriamo di riaprire presto.
Dovesse ritornare nella città di Cagliari, la prego di contattarmi via
mail con un buon preavviso, così da poterle organizzare una visita
guidata.

Cordiali saluti

Nein, die Schließung des Museums sei nicht dauerhaft, das sei wegen Corona. Der gute Professor bedauert die Unannehmlichkeiten und bietet an, das ich ihn kontaktieren kann, wenn ich noch einmal nach Cagliari zurückkehren sollte – dann würde er einen Besichtigungstermin anbieten. Ha, wie cool ist das denn? Muss ich nur irgendwann wieder mal herkommen, dann will mich der Leiter des Museums persönlich durch die Sammlung führen!

Ich gehe noch ein wenig am Strand spazieren, bis es Zeit für das Abendessen ist. Heute ist Freitag, und da mein Zimmer direkt über dem Restaurant liegt, hoffe ich stark, dass es heut keine Party bis um drei Uhr oder Livemusik oder sowas gibt.

Aber ich habe Glück, selbst ein Junggesellinnenabschied guckt nur kurz rein und haut dann wieder ab.

Auf der Terrasse vor den Tischen steht die Barocca und hängt ihren eigenen Gedanken nach…

…während ich mich süßen Ravioli aus Keksteig widme, einem sardischen Dessert.

Tour des Tages: Von Porto Pino nach Cagliari, von dort nach Nora und wieder zurück nach Porto Pino, rund 179 Kilometer.

Zurück zu Teil 5: La Medusa

Weiter zu Teil 7: Jannas

2 Gedanken zu „Reisetagebuch (6): Nora

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.