Reisetagebuch (8): Il Canneto

Reisetagebuch (8): Il Canneto

Verlängerter Sommer auf Sardinien. Heut ganz unsommerlich und deshalb mit nur wenigen Bildern, aber Tausenden von Tribbles.

Sonntag, 25. September 2023, Gasthof Jannas, bei Orgosolo, Sardinien

Als ich aufwache ist es ganz still.
Das ist gut.

Still ist gut, weil es bedeutet: Es regnet nicht.

Kaum habe ich diesen Gedanken zu Ende gedacht, beginnt Regen auf das Dach meines Gästezimmers zu trommeln. Ich stehe auf und schaue mißmutig nach draußen. Ja, es regnet. In Strömen.

Ich kleide mich an, dann marschiere ich zum Haupthaus. Das Frühstück ist gut, aber ich halte es kurz und laufe wieder zurück zum Zimmer. Dort packe ich die letzten Sachen in die Koffer.

Okay, ich bin abreisebereit. Statt aber zum Motorrad zu gehen, lege ich mich auf´s Bett. Um 10:00 Uhr sollte ich das Zimmer geräumt haben, und laut Wetterapp hört es um kurz nach 09:00 Uhr auf zu regnen. Das sagt sie in den kurzen Momenten, in denen per GPRS oder so mal Daten reingetropft kommen, denn das WLAN vom Jannas ist tot, das Smartphone hat keinen Empfang und mein eigener 4G-Router sieht auch kein Netz.

Ich lese und gucke immer wieder auf die Uhr, aber um halb Zehn trommelt der Regen immer noch. Ein Blick auf das Satellitenbild zeigt, dass das Unwetter genau über mir ist – UND sich über den gesamten Weg erstreckt, den ich gleich fahren muss.

Seufzend steige ich erst in den Fahreranzug, dann in die Regenkombi. Durch den strömenden Regen trage ich die Koffer zum Motorrad.

Es regnet wirklich Bindfäden, schon der kurze Moment des Kofferanbringens reicht aus, damit alle Körperteile die NICHT in der Regenkombi stecken, klitschnass sind. Mit nassem Kopf Helm aufsetzen geht gerade noch, aber wer mal versucht hat, mit nassen Händen Handschuhe anzuziehen, weiß, was hier das Problem ist.

Auf die Regenüberhandschuhe verzichte ich – meine Hände werden mehr als genug zu tun bekommen, da brauche ich Gefühl drin. Die unförmigen Regenhandschuhe stören da nur, die sind nur für anspruchslose Autobahnfahrten das Richtige.

So. Gepäck sitzt. Bleiben die spannenden Fragen: 1. Wird die V-Strom anspringen? Oder hat ihr die Nässe unf Kühle zugesetzt und sie macht am Ende wieder KLONK? und 2. Werde ich sie hier wegbekommen, aus dem tiefen Schotter des Parkplatzes, über den kleinen Feldweg und die mit Katzenköpfen gepflasterte, steile Einfahrt hinab und dann im Spitzen Winkel um die Kurve auf die Landstraße?

Ich klettere über die Fußraste in den Sattel, wobei der Seitenständer mit einem leichten Knirschen noch tiefer in den feinen Kies einsinkt.

Okay, vorsichtig aufrichten, Seitenständer weg, Killschalter raus, Startknopf drücken – Die Barocca springt auf Anhieb und völlig problemlos an. Gut. Und jetzt: Weg hier.

Vorsichtig gebe ich Gas, und die Räder heben sich aus den Kuhlen im Kies. Mit ein wenig mehr Drehung am Gasgriff fährt die V-Strom aus dem Parkplatz und auf den grob geschotterten Feldweg. Ein oder zwei Mal rutscht das Hinterrad weg, aber das ist wirklich kein Problem und mit ein wenig Gas wegnehmen wieder eingefangen.

Gut, jetzt sind wir auf den Katzenköpfen, jetzt die steile Zufahrt hinab und… ne, um die Spitzkehre wird so nix. Schlamm ist den Berg hinabgelaufen und hat sich dort gesammelt, wo die steile Einfahrt zum Gasthof auf die Straße trifft. Ich fahre erstmal genau geradeaus auf die Landstraße und wende einige hundert Meter den Berg hinauf, dann folge ich wieder Annas Anweisungen.

Wasser und Schlamm spülen über die Bergstraße. Vorsichtig fahre ich Kurve um Kurve den hinab. Zu zögerlich darf ich dabei aber auch nicht sein – fahre ich weniger als 40 Km/h, beschlägt mir die Brille im Helm. Also kein Zaudern, sondern zügige die zahlreichen Serpentinen und Spitzkehren hinunter, trotz der Wasserströme auf der Straße.

Immerhin KANN ich bei Regen fahren, und die Barocca ist exakt für dieses Extremwetter ausgerüstet – die Tourance Next Reifen sind die Tourenreifen mit den besten Regeneigenschaften, die ich bislang gefunden habe. Trotzdem: Die Straßen hier sind nicht ohne. Sie sind schmal, haben scharfe Kurven und Kehren, Schlamm und Dreck wird aus Feldwegen über die Fahrbahn getragen, und an vielen Stellen sehe ich Abbrüche von alten Unterspülungen. Echt nicht ganz ungefährlich hier.

“Wir haben schon Schlimmeres überstanden”, versichere ich der V-Strom. Aber in dem Moment, wo ich diesen Satz ausspreche, wird mir klar: Das stimmt nicht.

Sicher, die Barocca und ich, wir sind schon häufig durch Regen gefahren, auch unter widrigen Umständen. Wie 2020, als wir einen ganzen Tag quer durch die Toskana und dann durch die Berge der Abruzzen auf Feldwegen im eisigen Starkregen unterwegs waren, und am Ende vor Nässe die Elektronik im Helm verreckt ist.

Oder 2021 in Griechenland, da lag auch im strömenden Regen die Straße stellenweise voller Felsen oder unter Wasser und Schlamm begraben.

Aber in Griechenland war der Regen nicht so heftig wie hier, und in Italien waren die Straßen nicht in einem dermaßen schlechten Zustand.

HIER gibt es nur bröckeligen und teils stark unterspülten Asphalt. Immer wieder komme ich an Stellen vorbei, wo richtige Löcher in der Straße sind, durch die ich hinabsehen kann auf den Berghang darunter, der soweit abgerutscht ist, dass die Fahrbahn nachgegeben hat. An anderen Stellen sehe ich Erde den Berg hinabspülen. Der von der Dürre ausgetrocknete Boden hat den Wassermassen dieses Unwetters nichts entgegen zu setzen, und das macht die Fahrt hier gerade so gefährlich.

Der erste größere Ort unterhalb des Gasthofes ist Orgosolo, das ehemalige Banditendorf, das heute für seine Wandbilder berühmt ist. Hier würde ich gerne noch einmal durch die Straßen schlendern, aber heute kann ich das vergessen.

Was ich auch vergessen kann, ist die Orientierung. Anna weist als Weg eine steile Rampe hinauf. Die sieht eher aus wie eine Einfahrt, komplett mit Geländer. Das ist doch keine Strada Statale, das kann unmöglich richtig sein.

Ich WILL da auch gar nicht hochfahren, das Ding ist nicht nur steil, sondern sieht auch glatt aus. Hier ein Bild von einem anderen Tag (deshalb scheint darauf die Sonne), die Rampe ist links:

Kurzentschlossen fahre ich in eine andere Richtung, in der Hoffnung, dass die Straße aus dem Ort hinausführt. Aber Pustekuchen, nach wenigen hundert Metern endet die auf einem kleinen Dorfplatz. Mist.

Ich stoppe und scrolle mit den nassen Handschuhen auf Annas Display herum, auf dem schon das Wasser steht. Gut, dass das Zumo einen resistiven Bildschirm hat. Macht das mal mit einer Handynavigation oder einem Navi mit kapazitiven Touchscreen. Ah, da sieht es gut aus. Im strömenden Regen und mit beschlagenem Visier wende ich die V-Strom, fahre ein Stück zurück und biege dann in ein Wohnviertel ab.

Anna sieht hier keinen Weg, aber ich habe eine Gasse gefunden, die nicht so steil ist wie die Rampe und auch in die richtige Richtung führt. Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht fahre ich die Gasse den Berg hinauf.
Mensch 1, Navi 0.

Das Grinsen erlischt schlagartig, als ich sehe, dass die Gasse in einer Treppe endet, die den Berg hinaufführt. AUF DIE LETZTEN DREI METER!! Verdammter Mist! Und nun? Nun stehe ich hier, an einem ziemlich steilen Berg, in einer Gasse die weniger breit ist als die V-Strom lang. Im Berg wenden ist eh schwierig, aber hier fast unmöglich. Ach Mensch, wie bringe ich mich nur immer wieder in solche Situationen?

Im strömenden Regen und mit beschlagenem Visier und vollgetropfter Brille sehe ich kaum was, als ich die V-Strom vorsichtig rückwärts die Gasse hinunterrollen lasse. Dann zirkele ich mit dem Hinterrad in einen Hauseingang. So.

Jetzt steht die V-Strom im rechten Winkel zum Gefälle, ich halte sie noch mit dem rechten Bein, das linke baumelt weit über dem Boden. Die Maschine steht zur Hälfte in einem Haus und damit sollte, wenn ich nun genügend Gas gebe und zügig losfahre… ja, geschafft! Jetzt fahre ich wieder richtig rum den Berg hinunter. Je öfter ich mich in solche Situationen hinein manövriere, desto besser werde ich darin, wieder hinauszukommen. Trotzdem würde ich da gerne drauf verzichten, am Berg umzufallen ist keine schöne Aussicht.

Zurück im Kernort muss ich einsehen, dass es keine Alternative zu der steilen Rampe gibt. Ich beiße die Zähne zusammen und halte die V-Strom konstant am Gas, als ich die schmale und sehr steile Straße hinauffahre.

Schnurgerade ist die, und endet im Himmel. Zumindest sieht es von unten so aus, tatsächlich geht es oben dann in der Horizontalen weiter, und zum Glück hat man Vorfahrt, wenn man von unten kommt, und muss nicht noch am Berg anhalten und Vorfahrt gewähren.

Die V-Strom schuppt über die Kante zwischen der Rampenstraße und der Horizontalen. Woah, geschafft, und jetzt bloß wieder auf die Landstraße und nicht wieder in irgendwelche Bergnester mit steilen Gassen.

Weiter geht es über die Bergstraßen Richtung Westen. Die Wolken haben sich in den Bergen geradezu festgefahren. Wie ein endloser Wasserfall kommt der jetzt runter. Der Regen nimmt nicht ab, er wird immer heftiger. Ich fahre stur weiter. Die Natur braucht ja Wasser, nach diesem Dürresommer, aber warum muss ausgerechnet JETZT all der Regen fallen, der in den Monaten zuvor ausgeblieben ist?

Die Bergstraße führt durch Orte mit Namen wie Lodine, Gavoi und Ollolai, dann durch Teti und Austis. Fremd klingt das. Würde ich hier nicht durch eine Urwalddusche fahren, wäre das eine total geile Strecke: Kurvig, mit tollen Ausblicken über Berge und Täler, die nun aber in Nebel und Wolken gehüllt sind.

Hinter Austis wird die Straße einspurig und der Asphalt immer kaputter. Die Straße hier ist alt und schlecht gepflegt, und sie führt den Berg recht steil hinab. Schaumiges Wasser fließt an den Straßenrändern entlang. Anna lügt eine Abbiegung auf eine Bundesstraße herbei, aber die SS128 existiert an dieser Stelle gar nicht, und die vermeintliche Zufahrt ist ein schlammiger Feldweg. Nee, so nicht.

An einer Stelle sehe ich am Straßenrand Wasser aus der Erde sprudeln, und kann kaum glauben, was ich dort sehe: Die Wassermengen haben einen Kanaldeckel hochgestemmt und brodeln nun, einem Mini-Geysir gleich, darunter hervor. Zügig fahre ich an der Stelle vorbei.

Nach rund 80 Kilometern, die sich wie eine Ewigkeit hingezogen haben, komme ich aus den Bergen heraus. Beim Ort Samugheo halte ich unter dem Dach einer Esso-Tankstelle und gestatte mir eine kurze Pause. Die V-Strom und ich triefen und tropfen.

Obwohl Sonntag und die Tankstelle unbesetzt ist, ist hier recht viel los – im Minutentankt kommen Fahrzeuge, und meist fragt die Fahrerin oder der Fahrer freundlich, ob ich als nächstes Tanken möchte. Nein, möchte ich nicht, ich möchte hier nur in Ruhe vor mich hintropfen.

Nach der fünften Frage schwinge ich mich wieder auf das Motorrad und fahre weiter. Immerhin, weiter vorn scheint es etwas heller zu werden, und sogar etwas blau zeichnet sich durch die Wolken ab.

Die letzten Ausläufer der Berge bleiben zurück, und die Straße führt an einer breiten Schlucht entlang, die irgendwann aber auch flacher wird und verschwindet. Mit ihr geht der Regen, und dann kommt die Sonne raus und sogar die Straße ist schon wieder trocken.

Als wäre nichts gewesen, so gibt sich das Wetter, dabei bin ich gerade stundenlang durch den Weltuntergang gefahren. Ich halte an und ziehe die Regenklamotten aus.

Jetzt bin ich schon fast wieder an der Westküste, vor mir liegt plattes Land mit Feldern.

Ich fahre nach Oristano, wo es am Stadtrand einen MD-Supermarkt gibt, und hole mir dort ein Sandwich mit Kebap-Fleisch.

Die stundenlange Fahrt durch den Regen bei hoher Konzentration hat viel Kraft gekostet, und ich merke, wie ich müde werde. Zum Glück habe ich es nicht mehr weit bis zur heutigen Unterkunft. Die liegt in der Region Arboria, die sich durch streng symmetrische Aufteilung in Felder auszeichnet.

Wie mit einem Lineal gezogen verlaufen die Straßen dazwischen, und am Ende einer solchen gerade Straße liegt das Meer. Keine 50 Meter davon entfernt steht ein Restaurant, und vor dem halte ich nun.

“Il Canneto”, das Schilfrohr, steht über dem Eingang, in dessen Rahmen eine ältere und sehr traurig aussehende Frau lehnt. Sie begrüßt mich auf deutsch und zeigt mir ein kleines Zimmer. “Ist alt, aber gut”, sagt sie. “Wir haben auch neu renovierte, aber das hier ist das, was du gebucht hast.”
Kein Problem, reicht mir völlig.

Ich winde mich aus den Motorradsachen und spanne eine Wäscheleine quer durch den Raum, auf die die nassen Klamotten kommen.

Das es keine Nachttischlampe gibt, ist überhaupt kein Problem, auch hier hilft die coole Fenix mit ihrer Magnethalterung.

Das WLAN-Passwort sagt allerdings sehr klar: “Fick Dich, wir wollen keine fremden Leute in unserem Netz”.

Ich gebe es trotzdem ein, sogar fehlerfrei. Es funktioniert nicht. Egal. Für sowas habe ich meinen eigenen Router dabei, der schnell ins Badezimmer in eine Ecke mit Netz-Emfpang gebastelt ist.

Aus dem Fenster kann ich direkt auf den Strand sehen, der nur 50 Meter entfernt ist. Kurz entschlossen greife ich mir das Badehandtuch und lege mich ans Meer. Auf die Idee sind ungefähr zwei Millionen Tribbles auch gekommen.

Der Sand ist trocken, aber kühl, und als die Sonne verschwindet beginne ich zu frösteln und gehe lieber noch ein wenig spazieren.

Es sind nur wenige Menschen unterwegs, und die Buden und kleinen Bars in der Nähe des Strand sind geschlossen und die Fenster mit Brettern verbarrikadiert. Die Saison ist vorbei, das ist auch hier deutlich zu sehen.

Zurück in Il Cannetto frage ich nach einem Abendessen. Ich bin der einzige Gast in dem kleinen Restaurant, und bestelle nur etwas einfaches, was ich aber noch nie gegessen habe: Linguine Vongole, Nudeln mit Muscheln. Ich mag keinen Fisch, aber Muscheln mag ich. Und Pasta auch.

Nur, und das merke ich schnell, die Kombination von Muscheln und Nudeln ist seltsam. Die Muscheln sind alle noch in der Schale und irgendwie führl sich das an, als hätte jemand Kieselsteine in die Pasta gekippt, die man da erst wieder raussuchen muss. Nee, das ist seltsam.

Abends liege ich auf dem Bett und lausche dem Rauschen des Meeres.

Tour des Tages: Von Orgosolo nach Arborea, 150 nasse Kilometer.

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2 Gedanken zu „Reisetagebuch (8): Il Canneto

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