Reisetagebuch (10): Il Nuraghe del Lago Coghinas

Reisetagebuch (10): Il Nuraghe del Lago Coghinas

Verlängerter Sommer auf Sardinien. Heute: Noch mehr Rumlungerei, ein Canyon und eine Übernachtung in einer Steinzeitbehausung.

Samstag, 01. Oktober 2022
Heute heißt es Abschied nehmen vom Bungalow und La Pineta. Es ist noch kaum richtig hell – so gegen halb acht – als ich die Koffer packe, mich dann nochmal sorgfältig umsehe, ob ich auch ja nichts vergessen habe, und dann den kleinen Bungalow auf dem Campingplatz verlasse. Die Barocca steht in der Morgensonne, als ich in den Sattel klettere. Das war es dann mit dieser deutschen Exklave, ab jetzt sind wir wieder in Italien.

Die V-Strom brummelt erwartunsgvoll vor sich hin, fast als würde sie sich freuen, nach den fünf Tagen, die ich mehr oder weniger schlafend oder lesend am Strand verbracht habe, endlich wieder Asphalt unter die Räder zu bekommen.

Es geht wieder die SS125 hoch, die hier in die Berge führt, genau den gleichen Weg, den ich schon vor einer Woche zum Jannas gefahren bin. Außer mir sind schon mehrere Rotten deutscher Motorradfahrer unterwegs, und das mit meist Höchstgeschwindigkeit. Ich fahre zügig, werde aber zwei Mal davon überrascht, das der Rückspiegel eben noch leer war, aber plötzlich etwas hinter oder neben mir knattert.

Ich lasse die älteren Herrschaften auf ihren großhubigen GSen und KTMs gerne vorbei, denn so wie die hier um die Kurven fetzen, wäre mir das viel zu risikoreich. Hinter jeder Kurve können Steine auf der Straße liegen, oder eine Ziege, oder – wie Suse erzählte – ein deutsches Wohnmobil querstehen, weil der Fahrer es plötzlich für eine gute Idee hielt, auf der nicht einsehbaren Bergstraße zu wenden.

Ich KÖNNTE auch gar nicht die ganze Zeit so schnell fahren. So viel Konzentration hat niemand, lange Strecken mit so halsbrecherischer Geschwindigkeit zu fahren.

Aber gut, die knatternden Piloten sind halt auch nicht den ganzen Tag unterwegs. Ich habe es ja auf dem Campingplatz mitbekommen: Die schwingen sich unmittelbar nach der senilen Bettflucht auf ihre Kisten, heizen wie die Geisteskranken einmal die Bergstraße hoch, trinken oben einen Caffé, knattern mit allem was sie haben wieder zurück und sind nach zwei Stunden wieder zu Hause, um sich den Rest des Tages darüber zu unterhalten wie doll sie geknattert sind.

Heute Morgen sind alte Männer auf Moppeds oder Steine und Ziegen auf der Fahrbahn noch mein kleinstes Problem. In den Bergen stürmt es so, dass es mir wirklich zwei mal das Motorrad weghaut. Beim ersten Mal erfasst eine Windböe so plötzlich und mit solcher Kraft die Maschine, das mir der Lenker um ein Haar aus den Händen rutscht. Ich packe fester zu, und trotzdem legt es die Suzuki fast auf die Seite, als es zum zweiten Mal passiert. Dabei wird die Maschine auf die andere Straßenseite gedrückt – gut, dass hier gerade niemand ist.


In Orgosolo kundschafte ich noch einmal die Lage aus, stelle aber fest, dass ich auf einen Stop und einen Spaziergang durch das Dorf heute keine Lust habe. Stattdessen fahre ich noch einmal die Rampe mit der Strada Statale hinauf, die bei gutem Wetter wesentlich weniger monströs wirkt, aber immer noch ordentlich Steigung hat.

Es geht wieder nach Valledoria, genauer nach La Ciaccia. Grund: Kleine Planänderung. Eigentlich hätte ich ab heute ein Deluxe-Zimmer in einem guten Hotel direkt an einem der bekanntesten und angeblich schönsten Strände Sardiniens gehabt. Aber dann habe ich mich kurzfristig dagegen entschieden. Ich, in einer Bettenburg am Partystrand? Wo ich doch am Liebsten Selbstversorgung betreibe und mich am wohlsten fühle, wenn ich niemanden anders sehe? Nein.

Deshalb kurzentschlossen umdisponiert, und schon fühlt es sich fast wie nach Hause kommen an, als die Barocca über die Dorfstraße rollt, vorbei am “Superconcas” und auf den Parkplatz von Gli Ulivi. Ja, hier bin ich vor zehn Tagen erst gewesen, aber hier fühle ich mich wohl.

Den Schlüssel hat Mariella einfach an der Tür stecken lassen “Du kennst dich ja aus”, hatte sie getextet. Sehr gut, so kann ich die Wohnung sofort betreten.

Hier fressen einen die Mücken auf, die Wände sind so schlecht und ungleichmäßig gemalert, das es schäbig aussieht, die Beleuchtung im Wohnzimmer funktioniert nicht, die Mikrowelle ist halb kaputt und der Wasserhahn in der Küche erweckt den Eindruck, jeden Moment abzufallen – aber hier kann ich machen was ich will, wann ich es will, und die Nachbarn sind nett.

Die nächsten Tage sind sehr entspannt. Ich lungere am Strand herum. Zum Baden ist es allerdings zu windig. Die Wellen klatschen mit Wucht an die Küste, und seit dem Verlust meiner guten Sonnenbrille an Davy Jones vor ein paar Tagen bin ich vorsichtig. Aber in der Sonne herumliegen und lesen, das ist ja auch was feines.

Ach, herumlungern ist wirklich nett!

Der einzige Ausflug in den nächsten drei Tagen führt lediglich auf die andere Seite des Bergs, nach Castelsardo. Aber auch nur zum Tanken.

Tour des Tages: 320 Kilometer.


Dienstag, 04. Oktober 22
Umkurz vor Acht aufgestanden. Was ist das denn? Meine Nase ist zu und der Hals kratzt. Ich wühle im rechten Koffer herum und krame einen Covid-Test hervor.

Negativ. Gut.

Dann packe ich die restlichen Sachen zusammen und mache das Appartement bereit zum Verlassen. Tschüss, Gli Ulivi, war eine schöne Zeit hier.

Mariella werkelt im unteren der beiden Appartements von Gli Ulivi herum, als ich mich verabschiede und die Barocca startklar mache. Der Parkplatz ist nicht weit weg vom Meer, und die aufgepeitschte Gischt der letzten Tage hat einen Salzschleier auf dem Lack der Suzuki hinterlassen.

Eigentlich weiß ich gar nicht so recht, was ich jetzt machen soll, und so fahre ich erst einmal die Nordkküste entlang. Hier liegt Porto Torres, eine kleine Hafenstadt. Ich gucke mir den Fährhafen an und präge mir ein, wo alles ist. Aufklärung, für Morgen.

Dann fahre ich den kleinen Landzipfel nach Stintino hinauf, ganz im Nordwesten.

Hier ist es ist geradezu irrsinnig voll, Auto an Auto schiebt über die Straße, die an dem sensationell weißen Strand entlangführt, der dicht von Menschen belegt ist. Was für einen Unterschied doch ein paar Tage machen. Vor vier Jahren war ich drei Wochen später im Jahr hier, und da war alles verlassen, menschenleer und sogar die Parkautomaten waren verrammelt.

Ich lenke die V-Strom zurück auf kleine Straßen und bis nach Argentiera, einem kleinen Fischerdorf, das in der Nähe einer spektakulären Steilküste liegt.

Leider hört die Straße einige Kilometer vor dem Kap unvermittelt auf. Leicht genervt und gelangweilt kurve ich zurück durch die Landschaft in Richtung größerer Straßen.

Der Weg führt – schon wieder! – durch Alghero und nochmal durch die Berge, aber statt nach Süden, wie beim letzten Mal, geht es dann nach Osten und irgendwann wieder in die nördliche Richtung bis – ja, bis mir auffällt, dass Anna uns geradewegs auf den Ort Oschiri zu führt.

Sie will dort über eine Brücke, von der ich weiß, dass die gerade gesperrt ist. Ich fluche und stelle das Navi um. Statt diesem direkten Weg, der uns binnen einer Stunde ans Ziel gebracht hätte, müssen wir nun einmal um die Berge herum bis nach Tempio Pausania, und dann durch die Berge hindurch. Das dauert… satte vier Stunden. Verdammt. Eben wusste ich nicht, wie ich die Zeit tot schlagen sollte, jetzt komme ich eventuell zu spät ans Ziel. Mist.

Ich wechsele aus dem Herumdödeln in den Tempomodus und gebe der V-Strom die Sporen, denn die Rezeption unserer heutigen Unterkunft macht um 18:00 Uhr dicht. Das wird knapp.

So lange es geht bleiben wir auf Schnellstraßen und Autobahnen, aber ab Tempio Pausania geht auf einer einer schmalen und sehr kurvenreichen, kleinen Straße durch ein eng bewaldetes Tal.

Schön zu fahren ist das nicht. Alles ist unübersichtlich und schlecht einsehbar, fast jede Kurve zieht sich nach innen enger, man kann sie schlecht anfahren und es fühlt sich an, als ob ich die Barocca darum herumwuchten muss. Schlimm! Gefühlt geht es nur quälend langsam voran, und das Rennen gegen die Zeit droht verloren zu gehen.

Dann, endlich, taucht die Brücke von Oschiri vor mir auf, die hier über den Coghinas-See führt. Sie ist wirklich gesperrt, aber ich bin ja jetzt auf der richtigen Seite.

Neben der Brücke führt eine kleine Straße bis zu einem eisernen Tor. “Il Nuraghe del Lago Coghinas” steht daran. Als die V-Strom durch das Tor und die steile Einfahrt hinunter rollt, setzt sie einem vernehmlichen Knirschen auf. Gut, dass die Barocca zum Schutz des Motors am Unterboden über eine massive Skidplate verfügt. Wäre das jetzt die Ölwanne gewesen, würde ich mir Sorgen machen.

Es ist 17:57 Uhr. Rennen gewonnen, auch die Check-in-Zeit wohl nur eine Pflichtangabe auf Booking.com war. Margherite, die nette, junge Frau die mich begrüßt, ist jedenfalls tiefenentspannt und macht den Eindruck, als ob sie den ganzen Tag auf dem Gelände arbeitet. Sie zeigt mir, wo ich heute übernachten werden: In einer echten Nuraghe! Diese steinzeitlichen Bauten stehen hier überall auf Sardinien herum, und ich kann heute in einer übernachten!

Zum Glück ist die Inneneinrichtung nicht aus der Steinzeit, sondern ganz schön luxuriös, zumindest für meine Verhältnisse.

So ein Trinkflasche hat mir eine Tante geschenkt, als ich vielleicht fünf Jahre alt war. Jetzt weiß ich auch, woher die kam! Die ist aus Ziegenleder und riecht sehr intensiv. Auch das Wasser daraus schmeckt immer nach Ziege.


Nachdem ich mich eingerichtet habe, wandere ich zum Seeufer hinab. Die Nuraghe liegt an einem Zulauf zum großen Coghinas-See, und dieser Zulauf-Fluss liegt in einem Felstal, was auch einen Canyon in einem Spaghettiwestern darstellen könnte.

Ich bin ganz allein hier, die perfekte Gelegenheit für einen kleinen Drohnenflug. Aus 140 Metern Höhe blickt die Pica auf die Brücke von Oschiri hinab.

Damit hört mein Glück aber noch nicht auf. Stellt sich raus, das Margherites Familie auch ein kleines Restaurant betreibt, und ihre Schwester Marie-Paula bekocht mich äußerst lecker.

Ha, so kann man einen Abend auf Sardinien aushalten! Zumal, wenn es der letzte ist. Ich genieße, wie ausgeglichen ich mich gerade fühle – nicht ahnend, dass es morgen wieder Blutdruck gibt, weil mich GS-Fahrer nicht nur ärgern, sondern tatsächlich verhöhnen werden.

Tour des Tages: Einmal sinnlos im Kreis, 350 Kilometer.

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2 Gedanken zu „Reisetagebuch (10): Il Nuraghe del Lago Coghinas

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