Reisetagebuch (12): La Trinité

Reisetagebuch (12): La Trinité


Herbsttour mit der V-Strom. Heute finde ich mich unvermittelt in der Carmargue wieder.

06. Oktober 2022, Fähre Mega Andrea, zwischen Sardinien und Frankreich
Obwohl ich totmüde war, habe ich schlecht einschlafen können. Als ich dann gefühlt gerade erst weggedöst bin, ertönt schon wieder der Weckruf über die Bordlautsprecher. Es ist 05:30 Uhr.

Ich packe meine Sachen und schleppe mich an Deck. Es ist noch dunkel, und es ist diesig. Im Nebel sind die Lichter einer Stadt zu sehen. Das muss schon Toulon sein!

Ein kleines Patrouillenboot summt um die Mega Andrea herum.

Die Barocca wartet, gut gesichert, beim grünen Oktopus.


Um 6:45 Uhr startet die Entladung, und ZACK bin ich mitten im Rush-Hour-Berufsverkehr von Toulon. Meine Güte, was ist denn hier bitte los? Es ist kurz vor sieben, und die Stadt befindet sich in einem Rush-Hour-Zustand. Ich kämpfe mich von Ampel zur Ampel durch den dichten Verkehr und über die teils achtspurigen Straßen.

Es wird etwas entspannter, als in die Berge hinter der Stadt geht. Die Schlucht von Ollioules bietet eine tolle, weil kurvige, Motorradstrecke, aber dummerweise habe ich schon wieder ein deutsches Wohnmobil auf Schleichfahrt vor mir. Egal.

Die Barocca cruist in der Dämmerung die Schlucht hinauf und lässt mit dem Tal von Toulon auch die Hektik der Großstadt, dann den Großteil des Verkehrs und schließlich sogar die Nacht hinter sich.

Als sich die Sonne über die Berge schiebt, halte ich am Straßenrand und sortiere meine Klamotten von der Fähre in die Koffer. Die Morgenluft ist noch kühl, aber es wird ein sonniger Morgen, und ich kann es gerade noch nicht ganz fassen – ich bin echt in Südfrankreich!

Die Sonne im Rücken geht es durch die Berge.

Weiter südlich, an der Küste, liegen Cassis und Saint-Cyr-sur-Mer, und die Gegend hier sieht genauso aus, ich sie in Erinnerung habe: Gelbe Felsen, knorrige Nadelbäume. Die Morgensonne taucht die Baumkronen in goldenes Licht.

Mein Schatten fährt mir voraus, metergroß malt das Sonnenlicht ihn vor mir auf die Straße.

So früh am Morgen riecht das Land nicht nur nach Meeresluft, es duftet auch nach frisch gebackenen Croissants und Baguettes. Kein Witz, entlang der Straße sind etliche Boulangeries und Patisseries, und die duften verführerisch nach frischem Gebäck und, so bilde ich mir ein, auch nach Kaffee. Nasaler Orgasmus.

Nebel schwappt durch die Niederungen, durch die sich das Licht nur langsam hindurch tastet. Dadurch wirkt es fast stofflich.

Nach zwei Stunden bin ich in Marseille. Die Großstadt ist verkehrstechnisch die Hölle. Trotz der riesigen Stadtautobahnen geht es nur langsam voran.

Alle fahren halsbrecherisch und teils wirklich unverantwortlich. Wer jetzt denkt “Jaja, der Silencer, der ist den Stadtverkehr bloß nicht gewohnt, die Einheimischen wissen schon, was sie tun”, dem sei gesagt: Nein.

Ich kann mich auf das Ballett eines gut fließenden Verkehrs schnell einstellen. Ich merke auch, wenn die Leute wirklich wissen, was sie tun. In Genua im Stadtverkehr mit blitzenswert zügiger Geschwindigkeit fahren? Kein Problem! Weil die Leute da auf eine besondere Art fahren und gleichzeitig auf ihr Umfeld achten. Jeder achtet auch jeden, und deshalb sind auch hohes Tempo und wenig Abstand oder die kreative Auslegung von Vorfahrtsregeln völlig okay. Ich kann sowas, sehr gut sogar.

HIER in Marseille achten die Menschen nicht aufeinander, zumindest nicht heute morgen und nicht alle. Heute morgen gibt es Spezialisten, die einfach nur ohne Rücksicht auf Verluste Gas geben und so dermaßen mit Tunnelblick fahren, dass das nur mit viel Glück gut gehen kann. Und auf Glück sollte man sich im Straßenverkehr eben nicht verlassen. Ich lasse mich auf nichts ein, fahre zügig, aber superdefensiv und schaue noch öfter als ohnehin schon in die Spiegel und auf das, was um mich herum passiert.

Nach einer halben Stunde Stop&Go an einer Unfallstelle vorbei, in der eine Vmax völlig zerstört in der Leitplanke hängt. Zwei Sanitäter sind bereits vor Ort und versuchen den Fahrer wieder zu beleben. Die Maschine hat eine auffällige, knallrote Metalliclackierung und ist mir vor einer halben Stunde aufgefallen, als der Fahrer sie mit irrer Geschwindigkeit, bestimmt an die 130 Sachen, zwischen zwei Fahrspuren hindurchjagte. Der hat sich drauf verlassen, das kein LKW rauszieht und kein Auto einschert. Anscheinend hat ihn sein Glück verlassen.

Wenig später werde ich Zeuge, wie ein Auto an einem Kreisel einen vorausfahrenden Roller einfach umfährt und mitschleift. Die Fahrerin des Autos steigt aus, begutachtet ihren Wagen und schreit dann den am Boden liegenden Mann an und beschimpft ihn. Der Rollerfahrer ist verletzt, aber zum Glück sind gleich Helfer und weitere Zeugen zur Stelle und kümmern sich um den Mann. Ich überlege kurz. Ich bin ein guter Ersthelfer und rücke mich nicht darum, aber meine Hilfe wird hier nicht gebraucht. Der Rollerfahrer wird versorgt und die Polizei gerufen, nur das SUV der Frau steht noch quer in der Ausfahrt des Kreisels. Ich lenke die V-Strom über den Bordstein und fahre durch ein Blumenbeet und den Bürgersteig an der Unfallstelle vorbei.

Ich bin froh, als ich endlich aus der Stadt heraus bin und die Barocca über die Brücke von Martigues schnurrt.

Von oben kann ich den kleinen Bootshafen von Martigues sehen. Bei meinem letzten Besuch hat dort unten das Kleine Gelbe AutoTM geparkt, und ich konnte zur Brücke hochblicken. Meine Güte, auch schon wieder 11 Jahre her und sah damals so aus…

Unterwegs fallen mir an Brücken und Gebäuden neben der Straße Graffiti mit Sprüchen auf wie “Nein zum großen Austausch!!!”, “Nein zur Impfung!!”, und “Nein zum ImpfpaSS!!!”, wobei das SS vom Pass wie SS-Runen aussieht. Verschwörungsspinner mit rechten Drall gibt es wohl gerade überall in Europa.

Die Barocca frisst die Kilometer. Die Straße zieht vorüber, die Provence bleibt zurück und wir kommen in die Region von Okzitanien. So heißt die Verwaltungsregion der westlichen Camargue.

Ich fahre bis nach Aigues-Mortes, aber hier sind die wenigen Parkmöglichkeiten rund um die historische Altstadt zugestellt mit Gedöns für einen Jahrmarkt.

Da ich die Stadt ohnehin schon gut kenne und nur aus nostalgischen Gründen hier vorbeischauen wollte, verzichte ich auf einen Halt und fahre stattdessen lieber in den Küstenort Les-Saint-Maries-de-la-Mer. Am Ortseingang sehe ich die berühmten Carmargue-Pferde, allerdings nicht in freier Wildbahn, sondern auf einer Weide. Daneben ist ein flacher See, und in dem stehen tatsächlich Flamingos!

Hinter der Stierkampfarena (die keine Deko ist, noch immer werden hier tödliche Stierkämpfe ausgetragen) lasse ich die V-Strom zurück und gehe erstmal ein Eis essen.

Es ist das erste Eis auf dieser Tour, fällt mir auf. Wie konnte DAS denn passieren? Lavendeleis – hört sich interessant an, ist aber nicht so lecker wie es klingt.

Die Altstadt ist nett, mit ihren engen Gassen und gesäumt von kleinen Geschäften mit Kunsthandwerk, Tourigedöns und Spezialitäten der Carmargue.

Vor der Kirche versuchen immer noch die Rumäninnen ihren Fadentrick. Genau wie vor zehn Jahren marschieren sie auf Tourist:innen zu, quatschen die auf rumänisch zu, binden ihnen einen “Glücksfaden” um´s Handgelenk und wollen dann für diese “Dienstleistung” Geld haben. Zahlt man nicht, erscheinen urplötzlich ein halbes Dutzend alter Weiber, die laut zetern und schimpfen und klagen. Meine Güte, haben die sich in all den Jahren nicht mal was besseres ausdenken können?

Auf dem Bild sieht man eine Fadenbinderin, erstaunlicherweise nicht in einer rumänischen Tracht, sondern in modernen Klamotten, rechts unter dem Baum ein altes Zeter-Weib in Lauerstellung.

Die Kirche selbst ist lustig, wenn möchte, kann man ihr auf´s Dach steigen. Von dort oben hat man einen netten Blick über die Stadt.

Nach diesem kurzen Halt fahre ich in den südlichsten Zipfel der Carmargue, und dort ist es erstaunlich langweilig. Nur gerade Straßen und plattes Land und krumpelige Felder. Dementsprechend ist die Straße schön leer, aber eine tagesfüllende Beschäftigung sieht anders aus.

Immerhin bin ich jetzt fast bis in den letzten Winkel der Carmague gekrochen.

Ich lasse Anna zu unserem eigentlichen Ziel springen, und sie rechnet eine Route aus der Caramague heraus, über Arles, Tarascon und Avignon.

Bei Aubres bringt Anna uns in die Berge. Was dann folgt ist eine Fahrt durch eine spektakuläre Landschaft. Hier fangen nämlich schon die Hautes-Alpes an, und den Nationalpark “Baronnies Provencales” quert man durch einen waschechten Canyon.

Das ist wunderbar zu fahren, die Barocca gleitet geradezu dahin, während sie geschmeidig durch die Kurven saust. Hier gibt es nicht viel – nur wenige Orte säumen die Straße, und als ich eine einsame Automatentankstelle finde, nutze ich die Gelegenheit und tanke die V-Strom wieder voll, obwohl erst die Hälfte des Tankinhalts verbraucht ist. Noch ahne ich nicht, das ich damit meinem Zukunfts-Ich den morgigen Tag rette.

Es ist schon kurz nach 18 Uhr, als die Landschaft sich wieder weitet, und vor mir ein großes Felsmassiv liegt. Das ist gut, da wollen wir hin!

Am Fuß des Massivs “La Trinité” liegt die gleichnamige Pizzeria.

Hier bin ich vor zehn Jahren für schmales Geld untergekommen und wollte hier wieder her, stelle aber fest, das es sich absolut nicht mehr lohnt. Motorradparkplätze gibt es nicht mehr, die Zimmer sind jetzt drei Mal so teuer wie damals, aber kein Stück renoviert. Das 50er Jahre-Klo befindet sich immer noch in einem Wandschrank.

Dafür macht die frühere Pizzeria jetzt einen auf Schicki-Micki-Restaurant, gesalzene Preise inklusive.

Immerhin: Es gibt noch Pizza, wenn auch ganz versteckt auf der Karte, und sie ist immer noch gut.

Nach dem Essen falle ich ins Bett. Es ist zu merken, dass wir hier in den Bergen sind. Draußen fällt die Temperatur bis zur Frostgrenze, aber zum Göück ist das Hotelzimmer gut geheizt, und sofort bin ich eingeschlafen. War auch ein langer Tag… nach zwei Nächten mit wenig Schlaf waren das heute fast 13 Stunden im Sattel.

Tour des Tages: Von Toulon durch die Provence bis nach Aigues-Mortes, dann Kreuz und quer durch die Carmargue und dann in die Region Hautes-Alpes bis nach St. Firmin. 598 Kilometer, 12 Stunden.

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2 Gedanken zu „Reisetagebuch (12): La Trinité

  1. Ohhh – ich habe Südfrankreich immer geliebt. War lange nicht da.
    In der Carmargue fand ich auch die Flamingos faszinierend, den Rest auch eher wenig. Aber schon schön auf ihre Art.
    Vor Marseille die Route de Cretes zwischen La Ciotat und Cassis mitnehmen. Und den Mount Ventoux hätte ich auch noch mitgenommen. Und dann über Sault über den Montagne de Lure die D53 nach Sisteron … schwärm … 😊

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