Reisetagebuch Irland (4): Die vertrocknete Insel

Reisetagebuch Irland (4): Die vertrocknete Insel


Sommertour mit der Barocca. Heute mit Torfnasen, einem Alpha-Kevin und Fingerhut.

Mittwoch, 31. Mai 2023

“Und, wo geht es jetzt hin? Nach Hause?” fragt der Rezeptionist des Westcounty Hotels, als ich um kurz nach halb acht auschecke.

“Nee”, sage ich, “nach Cork. Mal gucken, wie da das Wetter da ist”. Ich vermute Regen, aber die Wetter-Apps sind sich da nicht ganz einig.

“Heiß wird es. Verdammte Hitze, das ist alles nicht normal”, brummt der Mann. “Okay… ich dachte in Irland regnet es ständig”, sage ich. “Nicht dieses Jahr”, sagt der Mann. “Schon seit dem Winter hat es nicht mehr richtig geregnet. Bisschen Niesel hier und da, aber kein ordentlicher Regen seit November letzten Jahres”.

Jetzt geht mir tatsächlich ein Licht auf. Ich hatte mich bei der Fahrt vom Hafen in Rosslare nach Dublin über verbranntes und vertrocknetes Gras an vielen Stellen gewundert, und die Flüsse scheinen auch Niedrigwasser zu führen. Das hier ist die Erklärung: Irland, die immergrüne Insel, leidet unter einer Dürre! Keiner Sommerdürre, noch nicht, aber einer im Winter und Frühjahr! Der Klimawandel macht sich wirklich überall bemerkbar.

Die niederländischen Boller-Opas, die gestern Abend die Barocca zugestellt haben, pofen zum Glück noch. So kann ich in aller Ruhe die Suzuki ein Stück zurückrollen lassen, und dann mit genügend Bewegungsraum die Koffer anbringen und Anna hochbooten lassen.

Kaum bin ich aus der Hoteleinfahrt raus, stehe ich auch schon wieder im Stau. Die Statistik, nach der Dublin die Stadt in der EU mit den meisten Staus ist, zweifelt niemand an, der einmal dieses Chaos hier gesehen hat.

Ich schalte auf italienische Fahrweise um, gebe Gas und mogele das Motorrad mal links, mal rechts an den Autos vorbei und habe kurze Zeit später auf der M50 freie Fahrt.

Die Autobahn bringt mich schnell an den Südrand der Stadt, und hier fahre ich wieder ab und auf die nahegelegenen Berge zu. Schlagartig wird der Betondschungel zu einem grünen Urwald.


Echt, wo bin ich hier, frage ich mich. Undurchdringliches Grün, nur gelegentlich mal eine Natursteinmauer hier und da, und mittendrin die kleine Straße, die immer weiter bergauf führt.

Sehr plötzlich bleibt der Urwald zurück, und ein großartiger Ausblick auf eine moorig aussehende Berglandschaft öffnet sich.

Das sind die Wicklow Mountains, die auch “Der Garten Irlands” genannt werden. Warum, weiß ich nicht. Ja, es ist hübsch hier, aber nach Garten sieht das gerade mal nicht aus, nirgends. An mehreren Stellen sieht es zwar aus, als gäbe es Felder, aber das täuscht. Das sind tatsächlich Hochmoor-Flächen. Hier wird noch Torf gestochen, für den Eigenbedarf.


In Irland wird traditionell mit Torf geheizt. Das gibt zwar eine feine Wärme, ist aber wahnsinnig schädlich für die Umwelt. Für den Abbau werden Moore trockengelegt, die als natürlicher CO2-Speicher drei Mal so viel CO2 aufnehmen können wie Wälder. Beim verfeuern wird eben das gebundene CO2 frei.

Bis vor ein paar Jahren wurden in Irland sogar zwanzig Prozent der Elektrizität in Torfkraftwerken erzeugt. Mit fatalen Folgen: Irland hat damit neunzig Prozent seiner Feuchtgebiete zerstört. Erst als die EU (was hat die je für uns getan!) Druck machte, wurden die Torfkraftwerke durch erneuerbare Energien ersetzt. Das ist noch nicht lange her, der kommerzielle Torfabbau ist seit Oktober 2022(!) verboten.

Leider heizen trotzdem noch 70.000 Haushalte ausschließlich mit Torf. Da man den nicht mehr kaufen kann, ziehen die Bewohner teils mit dem Spaten, überwiegend aber mit Minibaggern, los und holen sich den Brennstoff vom Feld. Auch hier, in den Wicklow Mountains. Torf stechen ist für viele Tradition und gehört zu ihrem Leben wie das Guinness nach der Arbeit. Verbrannter Torf stinkt übrigens ganz erbärmlich, wie ich selbst merke. Viele Häuser im Norden Irlands werden das ganze Jahr über beheizt, und wo immer so ein Torfhaus steht, sticht es in der Nase und riecht, als hätte jemand Moder angezündet.

Auf manchen Feldern, an denen ich jetzt vorbeifahre, sind Torfbarren so aufgestapelt, das der Wind dazwischen durchgehen und sie trocknen kann. Am Wegesrand blicken ein Mann und eine Frau auf, als die Barocca vorbeifährt. Beide gehen bestimmt schon auf die 80 zu und tragen Gummistiefel, er dazu Schiebermütze und Hosenträger, sie Arbeitsrock und Kopftuch. So stehen sie auf ihrer Parzelle und stechen und stapeln Torf.

Die Straße wird den Assoziationen, die ich beim Namen “Old Military Road” habe, nicht gerecht – was gut ist, denn statt einer bröckeligen Panzerpiste, die ich mir vorgestellt habe, ist das hier ein schmales Strässlein mit hervorragendem Asphalt.

Die V-Strom fliegt darüber hinweg und zieht durch die Kurven. Wir sind völlig allein hier oben, sieht man mal von ein paar Schafen ab, die träge am Wegesrand herumeumeln.

Ich genieße die kühle Morgenluft, die durch den offenen Helm strömt. Die Berge sind nicht hoch, lediglich 520 Meter zeigt Annas Höhenmesser an, aber die Ausblicke sind schon wirklich großartig.

Die Wicklow Mountains ziehen sich nur rund 20 Kilometer von Dublin aus nach Süden, aber wegen der kurvenreichen Old Military Road brauche ich fast eine Stunde bis zum Südende.

Ich bedauere es, als die Straße von den Bergen hinab führt in ein Waldgebiet, und die großartigen Bergpanoramen zurückbleiben. Immerhin, im Wald liegt Glendalough, und das ist bekannt für die Ruinen eines alten Klosters.

Vor den Ruinen wurde ein modernes Besucherzentrum gebaut, mit Busparkplätzen, Souvenirbuden und allem Touristen-Schisslaweng. Ein freundlicher Parkplatzrentner passt auf, das hier niemand einfach so parkt, aber das Motorrad winkt er einfach durch. Ich stelle die Barocca unter einem Baum ab und schließe den Helm im Topcase ein, dann gehe ich zum Besucherzentrum. Das hat noch nicht geöffnet, weil es erst kurz vor neun ist, aber immerhin sind die Toiletten von Außen zugänglich und nicht verschlossen.

So, das Wichtigste wäre erledigt. Ich stromere ein wenig im Park hinter dem Zentrum herum, und entdecke ich eine Brücke über einen Bach und einen Weg, der zu den Ruinen führt.

Ach, guck an – dann muss man wirklich nur für das Besucherzentrum ein Ticket kaufen, und wenn einem die Ausstellung da drin nicht interessiert, kann man einfach so zu den Sehenswürdigkeiten gehen und braucht nichts zu bezahlen? Interessantes Konzept! Und eines, das mir noch zwei Mal auf dieser Tour bei bedeutenden Sehenswürdigkeiten begegnen wird.

Ich folge dem Fußweg und bin kurz darauf auf dem Gelände des alten Klosters. Im sechsten Jahrhundert wählte ein gewisser Kevin diesen Ort, um mal ungestört im Einklang mit der Natur zu leben.

Das klappte nicht besonders gut, denn irgendwelche Leute hatten ihn zum Alpha-Kevin erkoren, verehrten ihn und ließen ihn nicht allein zu Haus. Stattdessen siedelten sie wie blöde um ihn herum, und schlappe 600 Jahre später war Glendalough Kloster quasi eine Großstadt mit 3.000 Einwohnern und sieben Kirchen. Das hätte Brian Kevin bestimmt nicht gewollt, aber das erlebt er freilich nicht mehr, der war im Jahr 618 im Alter von 120 Jahren verstorben. Mit Zählen hatte man es übrigens nicht so (“Sieben-acht-neun-viele-120?”).

Ich bin ganz allein hier und kann ungestört über das Gelände streifen. Hier und da stehen Ruinen von Kapellen und Gebäuden herum, und sogar die Reste einer großen Kathedrale sind zu sehen.

Die trutzige St.Kevins Church stammt aus dem 11. Jahrhundert hat den Wikingerangriffen Stand gehalten.

Genauso wie das beeindruckendste Bauwerk von Glendalough: Der Rundturm, der schlank über 30 Meter in den Himmel ragt.

Wahnsinn, dass man im Jahr 1066 schon etwas bauen konnte, was eintausend Jahre später immer noch steht. Und dabei sieht der Turm so fragil aus, als ob ihn ein kleiner Sturm umpusten könnte.

Um den Turm herum zeiht sich ein Feld aus Grabsteinen. Herrlich schief und pittoresk stehen die in alle Richtungen aus dem Boden heraus. Auch ein keltisches Hochkreuz ist zu sehen, das St. Kevins Cross.

Das Ruinenfeld füllt sich mit Besuchern, die lautstark zwischen den Grabsteinen herummarschieren. Zeit für mich zu gehen.
Zurück am Motorrad trinke ich noch einen Schluck Wasser, checke die Route und setze dann den Helm auf. Ouch! Unsanft erinnert mich ein pochendes Brennen daran, das ich immer noch einen veritablen Sonnenbrand auf dem Kopf habe. Hilft aber nichts, Helm muss sein.

Ich winke dem freundlichen Park-Opa beim ausfahren und fädele die V-Strom wieder auf die Landstraße ein. Von Glendalough aus geht es nach Westen, weg von der Küste und hinein ins Landesinnere, dann Richtung Südwesten und vorbei an der Stadt Kilkenny und vielen, vielen Orten die auf mal mit “Bally” (“Gehöft, “Siedlung”, oft einfach als “Ort von” benutzt) anfangen oder mit “katten” (Häuser) aufhören.

Immerhin führt die Straße auch an einem LÜDL vorbei. Herrn Silencers seltsames Gespür für LÜDLs, denke ich und fange gleich mal ein Abendessen in Form eines gefüllten Gebäckdings und einem Salat.

Auf dem Motorrad hockt ein seltsamer Schmetterling, den Motorrado auf Twitter (ja, damals, im Juni, hieß das noch so) schnell als Blutbär identifiziert. Das folgende Bild vereint Natur, Maschine und LÜDL in einem Bild – mehr Kunst geht nicht!

Die breite und gut ausgebaute Straße zieht sich durch eine endlose Abfolge der kleinen Ortschaften und vorbei an Feldern, die vielerorts eher gelb als grün sind. Es ist warm, 23 Grad zeigt das Thermometer, und ein stetiger Wind fährt immer wieder in Böen durch die Bäume und Felder. An etlichen Stellen sehe ich, wie die Windböen Staubwolken über Landschaft wehen. Es dauert nicht lange, und die V-Strom und ich sind von einer Staubschicht bedeckt. Es ist ein wenig erschreckend – Ich hatte mit Dauerregen und einer grünen Insel gerechnet, aber das hier fühlt sich an wie Spanien – staubig, vertrocknet, gelb.

Kilometer um Kilometer zieht die langweilige Straße vorbei, die Stunden ziehen sich, und ich brüte mit leicht schlechter Laune in mich hinein.

Das wird nicht besser, als die Straße immer schmaler und schließlich einspurig und sehr kurvig wird. Schließlich wachsen auch noch rechts und links hohe Hecken direkt an der Fahrbahn aus dem Boden. Wie ein Todessterngraben aus Büschen fühlt sich das an, und dann kommen zu der niedrigen Sichtweite wegen der ganzen Kurven auch noch Rollsplitt und lockere Steine auf der Fahrbahn dazu. Natürlich sucht sich genau jetzt Anna den Zeitpunkt für eine Warnmeldung aus und zeigt in ihrem Display groß das Reifensymbol. Hektisch checke ich den Luftdruck, aber anscheinend habe ich mir nicht den Reifen punktiert – der Bluetooth-Sensor am Hinterrad ist einfach ausgefallen. Man! So einen Schwachsinn brauche ich jetzt nicht!

Nach 350 Kilometern beschließe ich im Ort Knockbrogan zu tanken, und verpasse dabei dem Sensor einen beherzten Klaps auf die Kappe. Der springt daraufhin tatsächlich wieder an und meldet, das alles ok ist. Fein. “Sensor mit der Nummer vier austauschen”, versuche ich mir im Geiste zu notieren und habe es doch gleich wieder vergessen.

Oh, gar nicht mehr weit bis zur heutigen Unterkunft – aber ich bin zu früh dran, und weil es sich um ein kleines B&B handelt und ich nicht unhöflich sein möchte, fahre ich noch ein wenig in der Gegend herum. Abseits der langweiligen Straßen gibt es in Irland alle drei Meter etwas zu entdecken, und so finde ich nach zehn Minuten die Ruinen einer alten Burg, die so interessant aussehen, dass ich die Barocca am Ufer eines Sees abstelle und auf Erkundungstour gehe.

Allerdings liege ich komplett falsch, wie ich bald merke. Die Ruinen sind keine Burg, sondern waren mal ein Kloster, das Timoleague Friars. Nicht mal mit der Vermutung, ich würde an einem See parkieren, lag ich richtig – das große Gewässer besteht aus Salzwasser und ist eine Bucht, die direkten Zugang zum Meer bietet. Ich bin von Dublin aus bis zur Südostküste der Insel gefahren.

Egal, die Ruinen sind unterhaltsam. Platten im Boden zeigen an, wo man sich gerade befindet.

So vertreibe ich mir die Zeit, bis das B&B Kilcatten Lodge öffnet. Das liegt auf einem Berg, am Ende einer schlechten und kurvigen und steilen Single-Track-Road, aber der anstrengende Weg lohnt sich. Das schmucke Haus ist groß, und direkt davor findet die Barocca einen Parkplatz auf einer perfekt asphaltierten Fläche. Das ist wirklich auffällig; perfekter Straßenasphalt, als hätte man eine Autobahn um das Haus herum gebaut.

Ich werde von einer sehr freundlichen Frau begrüßt, die sich als Noreen vorstellt. Sie zeigt mir mein Zimmer, dann zieht sie sich zurück – sie muss noch eine Geburtstagsfeier vorbereiten.

Ich verstaue meine Sachen, hänge Helm und Jacke an ihre Ladegeräte, dann dusche ich mir den Staub vom Körper. Nach der langen Fahrt bin ich müde, zu müde um noch irgendwo hin zu fahren, und so bleibt es bei einem Wrap und einem Bulgursalat aus dem Einkauf bei LÜDL.

Nach diesem Abendessen schlüpfe ich in Jeans und Trekkingschuhe und gehe raus. Auf der Terasse findet sich die Geburtstagsgesellschaft ein, anscheinend mit Verwandtschaft aus der ganzen Welt – zumindest die Amerikaner sind, wie immer, unschwer zu übersehen oder zu überhören.

Ich wandere den Berg hinauf und durch die Feldmark, die auch vielerorts gelb ist.

Abgesägte Telegrafenmasten sind vom Efeu erobert worden und stehen wie Überbleibsel von magischen Säulen am Wegesrand, der auch von Fingerhut gesäumt ist.

Der Boden ist knochentrocken, und mir fallen lange Reihen von Kunststoffbahnen auf, die in der Abendsonne leuchten.

Sind das Versuche, Feuchtigkeit in der Erde zu halten? Schön ist es jedenfalls nicht, und als ich über ein Feld laufe, was im Vorjahr offensichtlich so bewirtschaftet wurde, aber nun brach liegt, sehe ich überall Plastikfetzen in der Erde stecken. Widerlich.

Ich lasse den Blick über die Landschaft schweifen. Schön ist das hier, und ruhig, und doch so trügerisch. Auch diese Landschaft wird jetzt, gerade in diesem Moment, immer weiter zerstört, und wer weiß, wie viele Generationen nach mir noch so einen Blick genießen können.

Mit schlechter Laune mache ich mich auf den Rückweg und gehe früh zu Bett.

Tour des Tages: Von Dublin durch die Wicklow Mountains und nach Ballykatten, 370 Kilometer.

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4 Gedanken zu „Reisetagebuch Irland (4): Die vertrocknete Insel

  1. Bitte werte das nicht als mein Resümee dieser schönen Tagesetappe, aber bei so einer Reiseverpflegung hätte ich abends auch schlechte Laune.
    Falls wir uns mal zufällig in den europäischen Weiten begegnen sollten, lade ich Dich zum Abendessen ein. 😉

  2. Keinesfalls, daran mäkeln wir doch alle rum. 😎
    Für mich ist ja gutes und möglichst landestypisches Essen immer ein nicht ganz unwichtiger Teil des Urlaubs, so reine Nährstoffzufuhr mittels Apfel, Müsliriegel oder abgepacktem Zeugs aus dem Discounter wäre da nur in absoluten Ausnahmesituationen akzeptabel.

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