Reisetagebuch (6): Cliffs of Muh
Tour nach Irland mit der Barocca. Heute mit Eseln, Kühen und einem Einhorn.
Freitag, 02. Juni 2023, The Anvil Bar, Dingle
Erst um 09:00 Uhr gibt es Frühstück im “Anvil” – da wollte ich eigentlich schon 100 Kilometer weiter östlich sein. Aber nun, Frühstück ausfallen lassen ist auch keine Option, denn die Barocca steht in der Garage von Gastwirtin Liz, und ohne Liz komme ich da nicht rein.
Also warten, Wohl oder Übel, und dann Punkt neun Uhr schnell ein Mini-Irish-Breakfast reinfahren und dann Liz nach dem Schlüssel fragen. Sie drückt ihn mir in die Hand, ich flitze über die Straße zur Garage, schiebe die V-Strom ins Freie und bringe der freundlichen Wirtin den Schlüssel zurück.
Dann schwinge ich mich in den Sattel, warte bis Anna Satelliten findet (damit sowas wie die große Verwirrung gestern morgen nicht nochmal passiert) und checke währenddessen kurz den Luftdruck im Display des Garmin, dann mache ich mich auf und davon, denn heute habe ich einen weiten Weg vor mir.
Der Weg führt zunächst gen Osten, von der Halbinsel Dingle durch ländliche Gebiete mit Feldern und Wäldern, bis tief ins Landesinnere hinein.
Nach rund eineinhalb Stunden erreiche ich einige flache Gebäude inmitten von saftigen Wiesen. Ein Schild verrät, was das hier ist: Das Donkey Sanctuary von Irland.
Ich stelle das Motorrad vor einem der Flachbauten ab, schließe den Helm ins Topcase und entdecke dann erst ein Schild, das hier nur Mitarbeiter parken sollen und Gäste einen Parkplatz weiter oben auf dem Gelände finden. Ach egal, das hier sieht jetzt gerade nicht sehr frequentiert aus, da wird sich schon niemand beklagen.
Ich erkunde das Gelände, das wesentlich kleiner ist als das Original-Donkey-Sanctuary in Sidmouth, das ich vergangenes Jahr besucht habe. In Sidmouth hat die Stiftung riesige Ländereien, einen gigantischen Eselhof und ein großes Besucherzentrum mit Geschenkshop und angeschlossenem Restaurantbetrieb.
Hier in Liscarroll ist alles drei Nummern kleiner, neben dem kleinen Flachbau für Mitarbeiter sehe ich nur einige weitere, winzige Häuschen, darunter ein kleines Haus mit einem Besucherzentrum.
Das ist aber leider geschlossen. Ein Schild weist auf einen Rundweg hin, der links am Besucherzentrum vorbei und hinaus auf die Wiesen führt. Als ich um eine Ecke biege, sehe ich die ersten Esel!
Eine blonde Frau lehnt am Holzzaun und checkt die Ohren eines Esels. Sie sieht ein wenig wie Mary Mcdonnell aus, nur das die Frau hier blonde Haare hat. Das Morgenlicht glänzt darauf wie flüssiges Gold. Besser könnte das keine Magarinewerbung inszenieren.
“Hi, ich bin Lauren”, sagt die Frau und lächelt freundlich. “Suchen Sie etwas?”
“Esel”, sage ich und komme mir leicht doof vor. “Na, die haben Sie gefunden”, lacht Lauren und klopft dem Esel, dem sie gerade in die Ohren geguckt hat, auf den Hals und der wirft den Kopf zurück, blökt freundlich und trottet davon.
“Öh, ihr habt doch heute geöffnet?”, frage ich – leicht irritiert, weil man hier anscheinend gerade so gar nicht auf Besucher eingestellt ist. Lauren nickt und sagt “Ja, haben wir. Aber Sie sehen ja, viele Besucher verirren sich nicht hier her. Ich mache gerade einen Rundgang über die Weiden, wenn Sie ein paar Schritte mit mir gehen, dann erzähle ich Ihnen ein wenig über das Donkey Sanctuary”.
Das mache ich doch gerne. Wir laufen über einen grasbewachsenen Rundweg durch die Wiesen, links und rechts stehen alle Arten von Eseln und grasen, dösen oder spielen. Es scheinen aber gar nicht viele zu sein – oder? Lauren schüttelt den Kopf. “Doch, hier auf der Farm leben rund 500 Esel. Dazu kommen rund 1.700, die auf vier Gehöften verteilt über Irland oder bei Pflegfamilien leben. Alles Tiere, die die Stiftung gerettet oder in Obhut genommen hat.”
“Woah, das ist aber eine Menge”, sage ich ehrlich erstaunt, “woher kommen diese ganzen Esel in Irland?” Lauren rupft im Vorbeigehen einen Grashalm ab und spielt gedankenverloren damit herum. “Die Esel sind Überbleibsel, aus der Zeit von vor der Industrialisierung. Früher waren Esel das Rückgrat der Landwirtschaft, und bis in die 1960er wurden Esel auch wirklich noch als Arbeitstiere auf Bauernhöfen eingesetzt. Dann wurden sie wirklich obsolet, aber viele Bauern brachten es nichts übers Herz, sich von ihnen zu trennen. Sie haben die Esel und ihre Nachkommen behalten, aber irgendwann sind auch die alten Bauern gestorben, und die Esel wurden zu einer, oft ungeliebten, Erbschaft. Das ist die traurige Geschichte von sehr vielen Eseln. Wir können ja nur die wenigsten aufnehmen, und sehr viele sind ein Überbleibsel der Vergangenheit, vergessen und verwahrlost.”
Ich muss an die schlimmen Bilder aus Sidmouth denken, von den Eseln mit deformierten oder verschimmelten Hufen, weil sie jahrelang in einer winzigen Box stehen mussten oder im Regen. Schlimm, echt. Die Donkey Sanctuaries sind dagegen der Himmel für Esel.
Lauren blinzelt in die Morgensonne. “Woher kommt ihr Interesse an Eseln?”
Ich erzähle, das mir der Twitter Account des Donkey Sanctuary durch die Pandemie geholfen hat, und ich vergangenes Jahr dann Sidmouth besucht habe. “OoooH”, sagt Lauren und bekommt leuchtende Augen. “Das muss eine tolle Anlage sein, oder? Ich bin noch nie in Sidmouth gewesen. Wir hier sind viel bescheidener. Wir haben nur an drei Tagen in der Woche für Besucher geöffnet. Heute ist einer davon, und wir haben nicht mal genug Personal, um das Besuchercenter zu öffnen”. Sie seufzt. Wir sind an einer Weggabelung angekommen. “Ich muss weiter, aber der Weg hier ist nur für Mitarbeiterinnen”, sagt sie und verabschiedet sich. Ich laufe den Rundweg weiter, der zurück zum geschlossenen Besuchercenter führt.
Unterwegs komme ich an einigen Bäumen vorbei, an denen skurrile Schildchen hängen.
Wieder am Motorrad höre ich Gelächter, und dann scheint jemand etwas zu rufen, aber ich kann die Worte nicht verstehen. Dann wieder lachen. Dann wieder ein Ruf, uns so fort. Ich sehe mich um und entdecke schließlich die Quelle: Eine Krähe sitzt auf dem Mitarbeiterhaus des Donkey Sanctuarys und imitiert sehr geschickt menschliche Laute. Gibt´s ja nicht, sowas!
Über kleine Straßen geht es nun Richtung Norden. Die Fahrerei hier gefällt mir nicht, denn die ländlichen Straßen hier sind häufig einspurig und links und rechts am Asphalt stehen direkt Hecken oder Mauern. So weit, so Single-Track-Road, aber anders als die Pendants in Großbritannien gibt es hier keine “Passing Places”, keine Ausweichstellen. Hierdürfen sich einfach nie zwei Fahrzeuge begegnen – und zum Glück passiert mir das auch nicht.
Die Frickelsträßchen führen bis kurz vor Limerick, und hier lenke ich die V-Strom auf Annas Geheiß auf eine Schnellstraße, und stehe kurz darauf vor einem Mauthäuschen. Na, schönen Schrank auch. Sollen Ditte? Ich denke, die Autobahnen hier sind mautfrei?
Stellt sich raus: Die Autobahnen sind es auch, aber der Limerick Tunnel unter dem Fluß hindurch kostet Geld. Allerdings, ganz bescheiden, nur einen Euro pro Motorrad. Das kann ich mir gerade noch leisten.
Ich bleibe auf der Schnellstraße und fahre wieder gen Westen und stelle fest, dass ich mir die Motorradtour nach Irland SO nicht vorgestellt hatte. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich quasi die ganze Zeit in der Regenkombi verbringe und jeden Tag kalt und klamm auf dem Motorrad hocke.
Tatsächlich haben wir 22 Grad, Tendenz steigend, und die königinblauen Metallpartikel im tiefschwarzen Lack der Barocca funkeln in der strahlenden Sonne. Das ist einfach ein Motorradwetter, das fast zu perfekt ist um wahr zu sein!
Nach rund zwei Stunden und 130 Kilometern bin ich gegen 13:30 Uhr wieder in der Nähe der Westküste. Wenn Anna mir das nicht auf ihrem Display zeigen würde, die dramatisch gestiegene Dichte an Wohnmobilen und langsam dahinzockelnden Mietwagen wären ein deutlicher Hinweis darauf.
Tatsächlich ist dieser Küstenabschnitt ganz besonders frequentiert, denn hier liegt eines der Naturdenkmäler, die jeder Irland-Tourist besuchen MUSS, sonst gildet der Urlaub nicht, so will es das Gesetzt oder eine alte Bulle oder so. Jedenfalls: Jeder will hier her, an die Cliffs of Moher.
In der Ferne kann ich schon den offiziellen Parkplatz sehen. Der liegt gegenüber des Besucherzentrums, aber das ist unsichtbar – es wurde in die Landschaft so eingegraben, das es aussieht wie ein großer Hügel. Das Visitor Centre ist der Zugang zu den Klippen, und jetzt kommt wieder diese seltsame, irische Besonderheit: Auf den Klippen rumturnen ist völlig kostenfrei, aber der Parkplatz kostet ordentlich, im Jahr 2023 beläuft sich die Parkgebühr für ein Fahrzeug bis zur Größe eines PKW auf zwölf Euro – pro Person im Fahrzeug! Ein Auto mit vier Personen muss so 48 Euro für´s Parken bezahlten. Gerechtfertigt wird das damit, dass man ja hier die gesamte Cliffs of Moher-Experience buchen würde – man darf parken, das Besucherzentrum und die T-Shirt-Stände besuchen UND die Cliffs angucken, da seien doch 12 Euro quasi ein Sonderangebot.
Tja, hm, nicht für mich. Ich bin noch gut zwei Kilometer vom Experience-Parken entfernt, als Anna anfängt, im Helm einen Entfernungscountdown runterzuzählen. “In 400 Meter links abbiegen… 250 Meter….”, höre ich im Ohr, und bei “JETZT links abbiegen” ziehe ich das Motorrad von der Landstraße runter und auf einen kleinen Feldweg, der zwischen den Wiesen verläuft und auch von Natursteinmauern eingefasst ist.
Ein Auto vor mir hat es mir gleich getan, und als nach wenigen hundert Metern der Feldweg seine Asphaltdecke verliert und in Schotter übergeht, muss ich mich zurückfallen lassen, um nicht komplett in der Staubfahne des PKW zu fahren. Ist wirklich krass, wie trocken das Land ist.
Der Schotterweg zieht sich einen Berg hinauf und endet unterhalb der Kuppe an einem Gatter, an dem ein älterer Herr mit einer Warnweste steht. Hinter dem Gatter ist ein Schotterplatz, auf dem einige Autos und ein Wohnmobil stehen. Sehr gut, sieht aus als hätte ich den Platz gefunden, den Varatweety vor einem Jahr in ihrem Blog Maedchenmotorrad.de beschrieben hat!
Der Mann lächelt freundlich, als ich neben ihm halte. Er deutet mit dem Arm am Wohnmobil vorbei ruft “Du kannst da den Weg weiterfahren, bis direkt an die Klippen.”
“Wenn Dir gefällt, was Du siehst und Du der Meinung passt, das sei 5 Euro wert, kannst Du mir die in die Hand drücken, wenn Du wieder runterkommst. Dann freu ich mich!”, sagt er und grinst, und irgendwie sieht er in dem Moment aus wie so eine Aardman-Knetfigur aus “Wallace und Gromit”.
Ich nicke und gebe Gas, und die V-Strom fährt über den Parkplatz und durch ein weiteres Gatter und einen verwilderten Weg den Berg hinauf.
Auf der Kuppe ist ein kleiner Wendeplatz, und hier drehe ich die Suzuki, dann stelle ich sie neben einer Mauer ab.
Ein Fußweg führt noch weiter den Berg hinauf – ok, den hätte ich auch fahren können, aber weit bin ich nicht mehr vom Ziel entfernt. Nur und 200 Meter laufe ich den Weg entlang, und dann komme ich an eine Stelle, an der die Mauer niedrig ist und irgendwie zerfrettelt aussieht, und direkt hinter ihr verläuft ein Fußweg. Auf dem sind jede Menge Spaziergänger unterwegs.
Und dann begreife ich die Konstruktion hier: Ich bin direkt an dem Weg, der beim Visitorcentre startet und der direkt auf den Klippen entlang führt – ich muss nur über diese Mauer klettern und stehe dann quasi auf den Cliffs. Und das ist völlig legal, weil deren Besuch ja frei ist – ich habe mich nur um die Experience gebracht, mit all den anderen auf einem 12 Euro Parkplatz zu stehen, aber das kann ich verkraften, und die Barocca auch. Die parkt quasi direkt auf den Cliffs, und ich brauche nicht bist zum besten Aussichtspunkt nicht erst zwei Kilometer zu laufen, sondern bin direkt hier!
Beherzt klettere ich über die Mauer und auf der anderen Seite einen kleinen Abhang hinunter, dann bin ich auf dem Rundweg und kurz vor dem “Viewpoint South”, der den spektakulärsten Ausblick bieten soll.
Damit man nicht bei Sturm über die Klippen geblasen wird, ist der Rundweg durch brusthohe, aufrecht stehende Schieferplatten eingefasst, gegen die Erde gehäuft ist. Dadurch hat der Weg stellenwiese etwas von einem Tunnel oder einer Schleuse, und kleine Menschen – wie ich – können kaum über die Schieferplatten hinweg schauen.
Das wird auch der Grund sein, warum oben, auf dem Erdwall mit der Schieferplatte, ein Trampelpfad verläuft. Der ist natürlich ungleich gefährlicher, weil es neben dem Pfad wirklich die Klippe runter geht, und weil sich darauf ungefähr ein Viertel der Besucher entlang- und aneinander vorbei schieben.
Ich ziehe mich an einer Schieferplatte hoch und klettere auf den Pfad und dann, dann sehe ich sie endlich: Die Cliffs of Moher. Bis zu 214 Meter fallen die Klippen senkrecht ins Meer hinab. Vögel flattern an den Wänden herum, vermutlich weil sie ihre Bruthöhlen dort haben.
Ich wandere ein wenig den Weg entlang, aber dann wird mir zu heiß und die vielen Menschen hier gehen mir auf die Nerven, und so laufe ich zurück zu der Stelle, wo ich vorhin über die Mauer geklettert bin.
Ich bin schweißüberströmt, weil ich in den dicken Motorradklamotten und in der prallen Sonne gelaufen und geklettert bin, und am Motorrad ziehe ich erst einmal eine der Feldflasche aus dem Topcase und trinke in tiefen Zügen kaltes Wasser.
Das, oder meine bloße Anwesenheit, erregt die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Kühen, die ganz aufgeregt an den Rand der Mauer kommen und um Aufmerksamkeit buhlen, in dem sie schnuppern, grunzen, mit den Schweifen schlagen und ganz aufgeregt muhen. Ich muss lachen. Cliffs of Muh.
Die Kühe geben sich echt wie kleine Hunde, die das Herrchen vermisst haben.
Ich steige wieder auf die V-Strom und fahren den Berg hinab. An der Ausfahrt wartet der alte Mann in der gelben Weste. Ich halte neben ihm und stelle den Motor ab. Zeit für ein Pläuschchen. Ich stelle mich vor und bedanke mich dafür, dass ich direkt auf den Cliffs of Moher parken durfte, und ein fünf Euro-Schein wechselt den Besitzer – das war es MINDESTENS wert.
Der alte Mann lächelt und sagt, das er Christie heißt. Dann fährt er mit der Hand fast liebkosend über die Verkleidung der Barocca. “Ich mag Dein Motorrad”, sagt er. “Vor fast einem Jahr waren zwei Frauen hier, auch Deutsche, und eine fuhr genau so ein Motorrad wie das hier”, sage ich. “You made their day, weil Sie so freundlich zu den beiden waren. Christie, darf ich ein Foto von Ihnen machen, für die beiden Ladys? Die würden sich bestimmt total freuen!” “Ja klar, sagt Christie und lächelt in die Kamera – Julia und Claudia, das hier ist für Euch:
Als ich die Kamera wieder wegstecke, fährt Christie noch einmal mit der Hand über die Barocca. “Wie alt ist sie?”, fragt er dann.
“Dreizehn Jahre”, sage ich, “Und mir ist sie sehr wertvoll. Wir waren zusammen schon viel unterwegs!” Christie grinst und sagt “Dreizehn! Das ist doch kein Alter!. Wenn Du rausfährst, guck mal nach links. Da steht mein Audi, der hat dreißig Jahre auf dem Buckel”. Dann lacht er und winkt, weil er sich um ein Auto kümmern muss, das gerade den Feldweg hinaufgeschaukelt kommt.
Ich fahre zurück auf die Landstraße und, eingekeilt zwischen Wohnmobilen und Reisebussen, gen Norden, bis die Straße vor einem großen Bergkamm wieder ins Landesinnere führt.
Hinter den Bergen liegt eine riesige Bucht, und an einem Ausläufer davon die Stadt Galway. Hier läuft mir ein LÜDL über den Weg, und das nehme ich mal als Zeichen und hole schnell zwei Wraps als Abendessen. Bei den großen Frühstücken hier braucht man abends nicht mehr viel essen.
Kaum habe ich die und den dichten Verkehr hinter mit gelassen, wird es schlagartig leerer. Die Autofahrer, die hier noch unterwegs sind, machen mich aber irre: Sie fahren teils weniger als 40 km/h dort wo 100 erlaubt sind, und in den Kurven bremsen sie fast bis zum Stillstand. Ich überhole so oft es geht, um überhaupt irgendwie voranzukommen – immerhin hatte die heutige Unterkunft rumgedrängelt, ich solle ja nicht später als 18 Uhr ankommen, man habe heute noch was vor.
Ich gebe Gas und jage die V-Strom über die Straße. Die führt durch ländliches Gebiet, und erst stehen noch kleine Orte in der Gegend herum, dann vereinzelte Häuser, und schließlich cruist das Motorrad durch menschenleeres Gebiet und vorbei an grasbewachsenen Hügeln und Seen, die Namen tragen wie Derreennagusfoor. Ja, doppelte Buchstaben halten besser!
Moment, so menschenleer ist das hier nicht – an zwei Stellen sehe ich Feuerwehren, die kleinere Gras- und Buschbrände bekämpfen. Ist halt echt alles knochentrocken hier.
Zur Westküste hin gibt es wieder vereinzelte Siedlungen. Ich komme durch Clifden und fahre die Straße über Letternoosh nach Letterfrack weiter. “Das ist also die berühmte Skyroad”, denke ich und liege schon wieder falsch, denn nein, das ist sie nicht – für die Skyroad, die berühmt ist für ihre Panoramaausblicke über Seen und Hügel hätte ich hinter Clifden links abbiegen müssen, aber das weiß ich nicht und freue mich deshalb trotzdem an der Straße, die an der Küste entlang und durch die Hügel führt.
Entlang geht es an einem Bergkamm namens Letterbeg und seinem Ausläufer, dem Lettermore, und dann über eine Hügelkuppe dann dann liegt plötzlich vor mir das Meer. In den Hügeln oberhalb der Felsküste sind vereinzelt Häuser verstreut.
Ich folge Annas Anweisungen und fahre hinab bis an die Wasserlinie und bis ich zu einer Stelle, an der ein uralter und baufälliger Burgturm am Wasser steht. Ha, da muss ich hin! Hinter dem Turm liegt “Ye Olde Castle House”, ein B&B, und es ist nicht schwer zu erraten, wie das zu seinem Namen kam.
Ich stelle die V-Strom an der Kante zu einem Abhang ab, schalte den Motor aus und gucke auf die Uhr. 17:56 – na, geht doch. Genau wie verabredet.
An der Tür des großen Hauses wartet schon die Gastwirtin auf mich. Sie stellt sich als Roisin vor, drückt mir einen Zimmerschlüssel in die Hand und rauscht aus der Haustür. Ich stehe im Eingangsbereich und schaue mich um – allein, das es einen Vorraum für Gummistiefel und Rgenjacken gibt zeigt, wie rauh hier das Wetter oft sein muss.
Umso heimeliger ist es im inneren, allein diese Ledergarnitur um einen Kamin strahlt Gemütlichkeit mit einer Intensität von bestimmt 1.200 Kilo-Balus aus – eine solche Ballung von Gemütlichkeit habe ich zuvor nur einmal gesehen.
Mein Zimmer ist klein und nicht so gemütlich, und deshalb wandere ich noch ein wenig um das Haus herum. An einer Hauswand macht eine Frau mit geschlossenen Augen Kopfstand und summt dabei vor sich hin. “Moin”, sagt ich und gehe an ihr vorbei.
Das “Ye Olde Castle House” entpuppt sich als Pferdehof, und eines davon grast im Schatten des alten Festungsturms und vor der Kulisse der Küste.
Das ist ein so unwirklich kitschiges und gleichzeitig ernsthaft schönes Motiv, das ich ganz ergriffen bin und trotzdem genau hingucke, ob das nicht vielleicht ein Einhorn ist. Hätte ich ja auch nicht erwartet, dass man in Irland in freier Natur SOLCHEN Kitsch-Attacken ausgesetzt ist!
Ich gehe ans Meer und schaue einem Angler, der auf einigen Felsen steht, beim Fischen zu.
Später setze ich mich vor das Haus an einen groben Holztisch, der über die Felsküste schaut, klappe das ASUS auf und schreibe Tagebuch.
Die Kopfstand-Frau kommt um die Ecke, setzt sich mir gegenüber, guckt mich direkt an und grinst, ohne dabei ein Wort zu sagen. Dann holt sie ein in Leinen gebundenes Tagebuch und Buntstifte heraus und beginnt zu malen, während sie vor sich hin summt. So sitzen wir uns gegenüber und halten beide auf unsere Art die Bilder des Tages fest.
Tour des Tages: Vom Anvil Pub am Beginn der Halbinsel Dingle ins Landesinnere bis zum Donkey Santuary bei Liscarrol, dann nach Limerick und zu den Cliffs of Moher, dann über Galway und Letterfrack bis an die Westküste, rund 447 Kilometer in neun Stunden.
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Weiter zu Teil 7: Banshees of Inisherin
2 Gedanken zu „Reisetagebuch (6): Cliffs of Muh“
Das ist eine tolle Ecke, ich fand es richtig toll. Aber wenn ich mich richtig erinnere, gab es damals keinen Parkplatzwächter.
Den Cliffs Moher konnte ich Dank der Vermarktung nicht viel abgewinnen. Einsamen Steinkreisen, monumentale Hünengräber, abgelegenen Ringforts und längeren Wanderungen über diverse Schafsknöddel mit Pilcherkitschanmutsbilder umso mehr.
Irland…..gerne wieder.