Reisetagebuch (8): At World´s End
Sommertour mit der Barocca durch Irland. Heute mit einem wichtigen Teil zum Verständnis von Irland.
Sonntag, 04. Juni 2023, Cawley Guesthouse, Tubbercurry
An meinem Hotelzimmer in Cawleys Guesthouse stimmt: Nichts.
Das Bett ist riesig und viel zu groß für den kleinen Raum. Links und rechts dieses viktorianisch anmutenden Monsters kann man sich gerade noch vorbeischieben, Platz für Gepäck bleibt da nicht. Das Bett ist außerdem ist so hoch, dass es mir bis zur Hüfte reicht – eine davor abgestellte Wasserflasche zu greifen, ist mit normal langen Armen unmöglich.
Auf den Nachttisch stellen kann man eine Wasserflasche aber auch nicht, der ist nämlich so spiegelglatt poliert und schief, das die Flasche davon herunter rutscht. Es gibt nur eine einzige Steckdose im ganzen Zimmer, und die ist hinter dem Schreibtisch. Den man nicht benutzen kann, weil ein riesiger Spiegel darauf steht und es keinen Stuhl gibt.
Dazu kommt: Das Zimmer ist laut, weil es zur Hauptstraße raus geht und die tiefergelegten Autoposer von Tubbercurry da die halbe Samstag Nacht mit knatternden Fehlzündungen hoch- und runtergeheizt sind. Und vor allem: Es ist zu warm. Das Zimmer ist unter dem Dach, und die Isolierung und die Bettwäsche sind ausgelegt auf irische Temperaturen, nicht auf 25 Grad und eine Sonne, die den ganzen Tag knallt und alles aufheizt.
Anhand meiner Laune kann man sich denken: Ich habe schlecht geschlafen. Was bin ich froh, das ich hier nur diese eine Nacht verbringen musste. Leicht grummelig bugsiere ich die Motorradkoffer das schmale Treppenhaus hinab. Natürlich sind die hohen Treppenstufen mit Teppich umhüllt und deshalb rund und schwer zu laufen.
Nach zwei Gängen ist die V-Strom, die hinter einem Notausgang im Hinterhof parkt, fertig bestückt, und ich habe Frühstückshunger.
Die Rezeptionistin von gestern Abend steht heute Morgen als Frühstückbedienung bereit. Das ist gut, die junge Frau namens Jenny ist freundlich, SEHR professionell und schnell.
Ich probiere ein vegetarisches frühstück und stelle erheitert fest, dass das in Irland gnadenlos mit Ei und Butter gemacht wird. An Ernährung ohne Fleisch kann man sich hier offensichtlich gewöhnen, aber vegan, das geht dann doch zu weit.
Dann setzt sich ein Typ neben mich und fängt an laut zu röcheln und zu schniefen. Zeit zu gehen, Exit thru Emergency Exit und ab dafür.
Wieder ist ein strahlend schöner und warmer Tag, und ich bin allein auf den Straßen Tubbercurrys untwegs. Also, fast, aber zum Glück hat die Polizei am Sonntagmorgen besseres zu tun, als Motorradreisende zu kontrollieren. Tubbercurrys Finest ignorieren mich, und das ist sehr gut.
Es geht durch Wälder und vorbei an Mooren, in denen hier und da alte Männer in Gummistiefeln stehen und Torf stechen. Kleine Barren, die sie dann wie zu Lagerfeuern zum Trocknen aufstellen.
Ich fahre durch ein schattiges Waldstück. Alles liegt im Halbdunkel der dichten Bäume, nur weit vorne fällt ein einzelner Lichtstrahl, wie eine leuchtende Säule durch die Baumkronen. Durch diesen Streifen im Dunkel springt plötzlich in einem großen Bogen ein Fuchs, und sein Schweif leuchtet im hellen Licht feurig rot. “Ein Firefox!”, denke ich und muss kichern. Was für ein magischer Morgen.
Rund 60 Kilometer geht es nach Südosten, bis ich im kleinen Ort Strokestown ankomme – und dann nicht mehr weiter weiß. Ich würde hier gerne ein Museum besuchen, finde den Weg dahin aber nicht. Anna führt mich bis auf einen Parkplatz, und besteht darauf, das ich weiter geradeaus fahre. Das geht aber nicht – vor mir liegt ein öffentlicher Park, der durch hohe, neo-gothisch verzierte Mauern vom Rest der Stadt abgetrennt ist. Etwas ratlos lasse ich Anna eine andere Route suchen, wende das Motorrad und fahre einmal halb um den Ort herum, ehe ich fünf Minuten später wieder an der gleichen Stelle stehe.
Das gibt´s doch gar nicht! Und nun? Ich stelle das Motorrad ab, steige aus dem Sattel und konsultiere Google Maps. Auch das weiß hier nicht wirklich weiter. Ja, das Museum liegt zwei Kilometer in die Richtung da, aber wie man da hinkommt, weiß es auch nicht.
Grummelnd stecke ich das Handy weg und klettere wieder in den Sattel. Es ist Sonntag, kurz vor 10 und noch keine Menschenseele zu sehen, dann gucken wir jetzt mal, wie sich in einem Stadtpark Motorradfahren lässt.
Vorsichtig steuere ich die V-Strom durch den steinernen Torbogen und lasse sie mit Schrittgeschwindigkeit über den gepflegten Weg dahinter rollen. Der sieht erstaunlicherweise nicht nach Fußweg aus, sondern eher nach Single Track Road. Sollte Anna am Ende doch recht haben, und das hier ist eine öffentliche Straße, die nur aussieht wie ein Park?
Dann kommt das Museum in Sicht, und plötzlich wird mir klar, was hier Phase ist. Das Museum ist in einem alten Herrenhaus untergebracht, und der Weg dahin führt natürlich über die Ländereien, und die sind wie ein Park gestaltet. Oh man. Wenn´s mal wieder länger dauert.
Ich stelle die Barocca auf einem Parkplatz ab, dann suche ich den Eingang.
Der befindet sich in einem neuen, modernen Anbau des Anwesens und führt von dort in das alte Herrenhaus, über einen Hof, in den Platten eingelassen sind.
“Hope”, steht auf einer, Hoffnung. “Horror” liegt dicht daneben.
Ein Stückchen weiter findet sich “Courage” neben “Cruelty”, Grausamkeit, und nach einigen Metern begegne ich “Faith” und “Fear”, Glaube und Angst, gefolgt von “Survival” und “Starvation”, Überleben und Hunger.
Der Eingang in das eigentliche Museum erfolgt durch einen alten Pferdestall in das Herrenhaus hinein. Das Museum erzählt die Hungersnot anhand der Geschichte des ehemaligen Besitzers dieses Hauses und von Strokestown, einem gewissen Dennis Mahon. Der hatte sich das Anwesen und das ganze Roscommon County erwieselt, in dem er den Vorbesitzer, seinen Onkel, für geisteskrank erklären lies.
Ich pfeife anerkennend durch die Zähne, als ich das verstehe. Das ist wirklich, wirklich clever! Wir Menschen sind nämlich nicht in der Lage Fakten zu prozessieren, zu denen uns entweder der Maßstab oder die Geschichte fehlt. Wenn man uns erzählt, das 12 Millionen Menschen gestorben sind, dann sagen wir “ui, schlimm”, aber das wahre Ausmaß und die Bedeutung können wir nicht verstehen – weil die Zahlen im wahrsten Sinne des Wortes unvorstellbar hoch sind. Aber wenn uns eine Geschichte angereicht wird, und sei es die eines Landbesitzers, wenn uns also eine Brücke gebaut wird mit einer Geschichte als Anker, dann werden die Fakten verstehbar und DANN können wir connecten, verstehen und vielleicht sogar mitfühlen.
Ich schmeiße den Audioguide an. Der stimmt ein wenig in die Zeit ein: Irland, 1845. Seit 300 Jahren ist die Insel unter britischen Großgrundbesitzern aufgeteilt, Major Denis Mahon ist einer davon.
Diesen “Landlords” (daher stammt der heutige Begriff für “Vermieter” im Englischen) gehörte der Grund und Boden. Die irische Bevölkerung durfte als “Tenants”, als Pächter, ein kleines Stückchen Land pachten und darauf Getreide oder Kartoffeln anbauen und ein wenig Vieh halten. Über 70 Prozent der Bevölkerung lebte von der Landwirtschaft, denn Industrie oder Handel gab es nicht. Das war von der britischen Regierung nicht gewollt, und in Irland hergestellte Waren wurden mit hohen Zöllen belegt.
Dann wurde das Land knapp. Aber nicht, weil es zu wenig davon gab, sondern weil es ungerecht verteilt wurde. Die allermeisten Landlords führten ein Leben in Luxus, entweder in England oder in Frankreich, manche besuchten ihre Anwesen in Irland praktisch nie. Die Landverwaltung überließen sie dann “Land Agents”, und machten nur eine Vorgabe: Die Verpachtung sollte ordentlich was einbringen, denn das Leben in London und Paris war teuer, und nicht wenige Landlords lebten auf so großem Fuß, dass sie gleich mehrere Hypotheken auf ihren Besitz in Irland zu laufen hatten.
Auch Denis Mahon, der sofort nach der Erwieselung von Strokestown die Pacht erhöhte und Nachzahlungen für drei Jahre verlangte. Einige der Pächter weigerten sich, weshalb Mahon sie an die Luft setzte. Das ließen sich die Pächter aber nicht gefallen, und nahmen ihre Hütten wieder in Besitz. Mahon schmiss sie wieder raus, die Pächter kamen zurück.
So ging das ein paar Mal, bis Mahon die renitenten Pächter kurzerhand auf Schiffe nach Kanada verfrachtete und damit deportierte. Kanada deshalb, weil die Überfahrt viel billiger war als z.B.in die USA. Die Schiffe wurden “Coffin Ships”, Sargschiffe genannt – weil die Versorgung der Passagiere so schlecht war, dass die Menschen auf der Überfahrt reihenweise starben. Mahons bevorzugter Kahn, die Virginus, verlor in den 63 Tagen auf See zwischen Dublin und Quebec 56 Prozent ihrer Passagiere, d.h. 267 von 476 Passagieren starben während der Überfahrt. Ein wahrhaftiger Sonnenschein, dieser Mahon.
Der erste Raum des Museums zeigt einen Nachbau eines kleinen Esszimmers des Landlords von Strokestown.
Die Landagents waren darum gehalten, möglichst hohe Pachteinnahmen zu erzielen und die Pacht auch einzutreiben. Um die hohen Pachten zahlen zu können, mussten nun die Pächter ihrerseits Parzellen untervermieten, und die Untermieter vermieteten häufig auch noch unter und dann nochmal und am Ende war nur noch so wenig Land übrig, dass es gerade mal für eine winzige Hütte und einen kleinen Kartoffelgarten reichte. 1840 war mehr als die Hälfte aller Parzellen so klein geworden, dass die Flächen nicht mehr ausreichten, um die Pächter vollständig und gut zu ernähren.
Wobei “ernähren” schon fast ein Euphemismus ist, denn ganz viel mehr als Kartoffeln ließ sich auf den kleinen Flächen nicht anbauen. So lebte ein Großteil der Bevölkerung fast ausschließlich von Kartoffeln und Milch. Gemüse gab es selten, und Fleisch, so beschrieb es ein Zeitzeuge, nur an Ostern und Weihnachten.
Ganz Irland war im Prinzip eine Kartoffel-Monokultur, und das machte es kartoffelspezifischen Krankheiten leicht. Besonders schnell und weit konnten sich die Krankheiten auch wegen des irischen Regens verbreiten, der die Erreger schnell überall hin spülte. In den 24 Jahren zwischen 1816 und 1842 hatte es 14 Kartoffelmissernten gegeben, wodurch Irland schon kleinere Hungersnöte mitgemacht hatte und keinerlei Reserven mehr hatte. Die Volkszählung 1841 erbrachte, das im Westen Irlands über 65 Prozent aller Menschen in diesen Schlammhütten lebten, den “Fourth Class Housings”.
Dritte Klasse war übrigens eine Lehmhütte, aber mit Fensteröffnungen und zwei Zimmern, zweite Klasse ein Farm- oder Stadthaus mit fünf bis zehn Zimmern und Glasfenstern und erster Klasse alles darüber.
Die Leute lebten also mehr oder weniger im Dreck. Was machen Menschen, die im Dreck leben und jede Hand in der Landwirtschaft brauchen? Sie machen Kinder! Zu der schwierigen Ernährungslage kam eine wahre Bevölkerungsexplosion hinzu, die die Situation in Irland noch verschlimmerte.
Wir fassen zusammen: Landlords dekadent, Landagents skrupellose Geldeintreiber, Landbevökerung ausgezehrt und arm und geknechtet, vermehrte sich rasant und lebte nur von Kartoffeln. Und in dieser, ohnehin schon schlimmen, Situation tauchte Oomycet auf.
Oomycet ist ein Pilz, der Kartoffeln im Boden verfaulen lässt und der sich über Sporen in der Luft rasant verbreitet. Er sorgte 1842 dafür, dass in Nordamerika die gesamte Kartoffelernte ausfiel, und dann wurde er nach Europa eingeschleppt und hier verbreitet.
1845 traf es die Niederlande, Belgien und Frankreich, und kurz darauf war der Pilz in England angekommen und setzte dann zum Sprung nach Irland an. Der Pilz liebt kaltes und feuchtes Wetter, und deshalb verbreitete er sich hier noch schneller.
Im Oktober 1845 wurde klar, dass The Blight, die Fäule, die Kartoffelernte in Irland fast vollständig zerstört hatte.
Die britische Politik tat wenig dagegen. Die regierende Whig-Partei in London, die Vorläufer der heutigen Tories (die damaligen Tories sind die Vorläufer der heutigen Labour-Partei und ja, es ist kompliziert) verfolgte einen Regierungsstil, der damals ganz neu und der letzte Schrei auf Paris war: Laissez-Faire. Bedeutet: Sich als Politiker um nichts kümmern, der Markt wird´s schon regeln, Hilfe zur Selbsthilfe, wissen schon.
Lebensmittellieferungen an die verhungernde, irische Bevölkerung! Gott bewahre, das wäre ja eine staatliche Einmischung, nein, das geht leider aus ideologischen Gründen nicht.
Aus dieser Ideologie heraus wurden auch keine Exportverbote für Lebensmittel verhängt, und da die Nachfrage nach Weizen in Kontinentaleuropa wegen der Ernteausfälle bei Kartoffel drastisch gestiegen war, wurde aus Großbritannien und Irland alles an Getreide exportiert, was ging – der Markt regelte, dass das Wenige, was Irland noch hatte, ins Ausland ging.
Es gab nur wenige Politiker, die wirklich etwas taten. Einer von ihnen importierte Mais aus den USA, um sie in Irland über eine Nothilfe zu verteilen. Das gefiel den Lords in London aber nicht, und sie verfügten, dass der Mais nicht kostenlos verteilt, sondern zu Marktpreisen verkauft werden musste – Preise, die kein Pächter zahlen konnte.
Die Bevölkerung hungerte, und es wurde noch schlimmer, als auch die Ernte 1846 ausfiel. Typhus breitete sich aus, und die Leute starben wie die Fliegen.
Irgendwann tat die Regierung dann doch ein wenig, aber nur, weil mittlerweile die Großgrundbesitzer in London auf der Matte standen und sich beklagten. Die bekamen deshalb Unterstützung zur Einrichtung und zum Unterhalt von Suppenküchen, und Bauern konnten zu Zwangsarbeit für die Regierung verpflichtet werden und dafür eine geringe Unterstützung bekommen.
Denis Mahon richtete auch eine “Suppenküche” in Strokestown ein. Die staatlichen Subventionen wanderten in seine Tasche, an die hungernden Menschen wurde Zeitzeugen zufolge schmutziges Wasser mit ein wenig Gras und Wurzeln drin ausgegeben.
Mahon fand den Gedanken verhungernder Pächter auf seinem Land nicht so doll und sah es lieber, wenn sie woanders verhungerten. Zumal er so auch endlich die missliebige Bande los würde. Er griff seine Deportationsaktionen wieder auf und versprach seinen Tenants ein besseres Leben in Kanada, sie müssten nur eben nach Dublin laufen und dort eines der Coffin-Ships nehmen. Um die Leute noch ein wenig zu motivieren, brannte er ihre Hütten nieder, und so zogen 1847 130 der 2.000 Pächter von Strokestown los und schlossen sich der Auswanderungswelle an.
Rund 220.000 Menschen verließen Irland in 1847, und dann – war die Hungersnot plötzlich vorbei!
Also, nicht wirklich. Aber die Politiker in London mutmaßten, dass die Suppenküchen und die staatliche Unterstützung bei Zwangsarbeit dazu geführt hatte, dass die Iren schlicht und einfach zu faul geworden seien, um sich selbst zu versorgen. Die Politiker in London proklamierten allen ernstes, dass die britische Unterstützung ja so gut sei, dass den Iren schlicht der Anreiz zu eigener Arbeit fehlte und sie stattdessen auf Stütze in Saus und Braus lebten und deshalb die Hilfe gestrichen werden musste. Falls einem diese Argumentation bekannt vorkommt: Ja, 180 Jahre später läuft Friedrich Merz genau damit durch das politische Berlin.
London erklärte Hungersnot für beendet, strich die Suppenküchenunterstützung und die Nothilfe und damit war alles gut. Nicht.
Denis Mahon schloss die Suppenküche in Strokestown, an der er gut verdient hatte, und forderte von seinen Pächtern, dass er von ihnen endlich das bekam, was ihm zustand. Die sahen das ähnlich und erschossen ihn.
Abseits von Mahons Schicksal behob die Friedrich-Merz-Logik keinerlei Probleme, und die Ernte 1848 waren auch ein Komplettausfall. Erst 1849 besserte sich die Lage ein wenig, als Oomycet-resistente Kartoffelsorten wieder eine kleine Ernte ermöglichten. Zu diesem Zeitpunkt hatte Irland 2,5 Millionen bereits Menschen verloren – ein wirklich krasser Kahlschlag, denn die Bevölkerung hatte 1841 aus gerade mal acht Millionen bestanden. Eine Million Menschen, so schätzt man, sind an den direkten Folgen von Hunger und Seuchen gestorben, und zeitgenössische Berichte geben an, dass noch zwei Jahre nach Ende der Hungersnot Skelette an den Rändern von Wegen lagen.
Eineinhalb Millionen Menschen waren ausgewandert, freiwillig oder unfreiwillig. Hauptziele waren Kanada, die USA und Australien, und viele der Migranten starben auf der Überfahrt oder nach Ankunft in diesen Ländern. Kein Wunder – die Leuten gingen schon schwach und krank an Bord, und auf den Schiffen breiteten sich Seuchen rasant aus.
Hungersnot und Auswanderung haben sich tief in das kollektive Gedächtnis der Iren eingebrannt, gleichzeitig ihre Kultur zu einem guten Teil aus selbigem gelöscht. Die gälische Sprache, Tänze, Gebräuche – das verschwindet halt, wenn über Jahrzehnte niemand mehr in der Lage ist, sie zu pflegen. Auch die demografischen Auswirkungen sind bis heute zu spüren, die Bevölkerungsanzahl in Irland hat sich anders entwickelt als im Rest Europas, und tut das noch immer.
Das politische Erbe ist die Wut der Iren auf England, was bis heute in mehreren Aufständen und letztlich zur Unabhängigkeit führte, aber immer noch nicht als ausreichende Sühne betrachtet wird.
Am Ausgang des Museum können Besucher ihre Gedanken notieren und an eine Wand hängen.
Ich sehe viele Zettel von Besuchern aus den USA und Australien. Nachfahren der Migranten, die wissen wollen, woher ihre Urahnen vor 170 Jahren kamen.
In Gedanken versunken gehe ich zurück zum Motorrad. Ich habe den Eindruck, dass ich echt gerade sehr viel Wichtiges gelernt habe, und damit ein wichtiges Puzzleteil in der Hand halte, um Irland und wie es tickt zu verstehen. Und darum geht es doch beim Reisen in andere Länder, oder? Zu verstehen, wie sie ticken und warum sie sind, wie sie sind.
Die Fahrt geht jetzt in direkter Linie nach Norden. Mit Sligo bleibt die letzte, größere Stadt im Rückspiegel zurück, ab jetzt wird es immer nur noch ruhiger auf den Straßen, und die Besiedlung noch dünner.
Die Ostküste von Irland hat mit Belfast, Dublin und Cork drei große, urbane Zentren und eine starke Wirtschaft. Der Süden und Südwesten Irlands lebt stark vom Tourismus. Aber der Nordwesten hier, der ist im Vergleich leer und rau.
Genau so mag ich es, und während die Barocca bei feinstem Sonnenschein und 25 Grad über die Straßen fliegt und elegant durch die Kurven taucht, fühle ich mich einfach sau wohl. Nur selten stoßen wir auf andere Verkehrsteilnehmer, die meiste Zeit sind das Motorrad und ich allein mit einer herben Landschaft. Die überrascht immer wieder mit weiten Grasflächen und felsigen Bergregionen.
Es geht direkt an der Küste entlang, immer weiter und weiter nach Norden. Stundenlang zieht sich das hin, und ich liebe jede Sekunde – im Sattel sitzen, das Motorrad und den Wind im Gesicht spüren, das Land riechen.
Ich finde sogar noch ein Kilkenny, aber das ist nicht das Kilkenny, wo das Bier herkommt, sondern ein nachgemachtes. Als ich ein kleines Hüngerchen verspüre, materialisiert sich ein LÜDL am Straßenrand. Sehr gut, dann kann ich gleich noch was zum Abendessen einkaufen, denn am Ende der Welt gibt es keine Halbpension und keine Restaurants.
Schließlich komme ich ins Donegal County, das ist die ganz nordwestliche Ecke Irlands. Hier ist wirklich kaum noch mehr als Landschaft und Wind, und ich verliebe mich spontan in den Landstrich, der nur aus Bergen und zerfrettelter Küste zu bestehen scheint.
Eingerahmt von mehreren großen Buchten ragt eine felsige Halbinsel ins Meer.
Hier gibt es nur noch eine kleine Ansammlung von Cottages und eine Haltestelle für einen Bus, der hier zwei Mal am Tag vorbeikommt. Ein wirklich isolierter Ort, der in meiner Reiseplanung unter “World´s End” eingetragen ist, und jetzt, wo ich hier bin, fühlt es sich wirklich an wie ein Ort am Ende der Welt. Einsam und rau. Sehr gut. Hier werde ich mich wohl fühlen, und deshalb auch ein wenig länger blieben. Seite einer Woche bin ich jeden Tag woanders gewesen, nun ist Zeit für eine kleine Pause. Und wo kann man sich besser vor der Welt verstecken als an ihrem Ende?
Drei Cottages bilden zusammen das Fishermans Village, und da will ich hin.
In einem der Cottages empfängt mich eine freundliche, ältere Dame und zeigt mir, wo ich die nächsten Tage untergebracht sein werde: Eine kleine Hütte mit Blick auf Wiesen und die Küste.
Das Zimmer ist karg, aber groß und beheizt – nicht unwichtig, denn der ständige Wind kühlt alles aus, und nachts wird es kalt werden – auch jetzt im Juni.
WLAN gibt es nicht, aber immerhin bekommt mein kleiner Reiserouter ein LTE-Signal. Im Badezimmer treffe ich auf meine alte Nemesis: Den Esoterik-Duschkopf!
Auch hier, am Ende der Welt, ist man auf diese esoterische-Handbrause-mit-Tonkügelchen reingefallen, die angeblich das Wasser reinigen und den Wasserdruck steigern soll. Genau das Gegenteil ist der Fall, selbst wenn der Wasserdruck gut ist, verwandelt dieser Duschkopf ihn in ein Rinnsal, und ein schlechter Wasserdruck verkommt zu einem Tröpfeln. Dieses Drecksdings ist mittlerweile, auch dank exzessiver Facebook-Werbung, in kleinen Hotels und Pensionen so verbreitet, das ich auf Städtereisen immer einen eigenen, kleinen Duschkopf dabei habe. Kein Witz.
Nachdem das Motorrad windgeschützt hinter einer Natursteinmauer geparkt ist, gehe ich noch etwas an der felsigen Küste spazieren.
Ein Schafbock beobachtet mich aufmerksam.
Als ich in mein Cottage zurückkomme, stelle ich fest, das genau zwischen meinem Zimmerfenster und der Küste ein Wohnmobil häuslich einrichtet. Göppinger Kennzeichen. Na super, statt auf Felsküste gucke ich nun auf die rollende Pupskiste von Manfred und Giesela.
Aber ach, davon lasse ich mir die Laune nicht verderben. Nicht heute, nicht am Ende der Welt.
Als sich die Dunkelheit über das Land senkt, gehen in den Cottages die Lichter an, und wirken wie der heimeligste Ort der Welt.
Tour des Tages: Von Tubbercurry nach Strokestown, von dort über Sligo ins Donegal County und nach Dooey, Rund 380 Kilometer.
Weiter zu Teil 9: Ein Tag bei McCools
Zurück zu Teil 7: Banshees of Inisherin
4 Gedanken zu „Reisetagebuch (8): At World´s End“
Herrlich…. es macht so einen Spaß, nach einem Jahr mit dir nun wieder durch Irland zu reisen! Ganz tolle Erinnerung und durch deine ganz anderen Eindrücke für mich noch mal ganz neue Eindrücke! Aber ein echtes Highlight ist die rollende Pupskiste.;-)
Lustig, diese Duschköpfe habe ich noch nie in echt gesehen, aber spannend was Du über die Unterkünfte so berichtest und ich mir immer denke, mehr brauche ich eigentlich nie.
Uns hatte selbst das unfertige Zimmer in Waterford nicht gestört, obwohl es nicht mal warmes Wasser oder Licht auf dem WC gab. Wir waren einfach froh, noch was freies Trockenes gefunden zu haben und die Gastgeber waren sehr freundlich und hilfsbereit. 😉
Immer interessant zu lesen wie Du die Zimmer empfindest und ich mir denke, mehr brauch ich nicht.
Wir waren sogar froh, als wir in Waterford ein unfertiges Zimmer, ohne warmes Wasser und Licht im WC fanden. Immerhin trocken und warm. 😂
Anonymus: Danke!
Max: Ich brauch auch nicht viel, aber die Bude in Tubbercurry war völlig verbastelt. Zu viel und zu großes Zeug reingestopft, so dass am Ende nichts mehr richtig benutzbar war. Ein kleineres Bett und eine benutzbare Steckdose, und alles wäre fein gewesen 🙂