
Reisetagebuch (12): Springhead Station
Sommertour mit der Barocca durch Irland und Schottland. Heute mit einem Hightech-Ride, alten Heiratstraditionen und einer besonderen Geschichte.
Freitag, 08. Juni 2023
Okay, heute morgen geht es mir deutlich besser als gestern. Erstaunlich, was leichtes Essen und 12 Stunden Schlaf alles so ausrichten können. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und habe mich im Nu fertig gemacht, dann tappe ich durch die kilometerlangen Teppichgänge des Bespoke Hotels ins Erdgeschoss.
Das Hotel hat, wie es sich für so ein altes Haus gehört, einen riesigen Frühstückssaal im Erdgeschoss, und ich verhelfe mir am Buffett zu einem ordentlichen (aber nicht fettigen) Frühstück. Während ich mich durch den Saal bewege und am Buffett rumkraute, trage ich übrigens stets eine FFP2-Maske – alle, selbst das Personal hier, sind am Husten und Schniefen und Niesen.
Gestärkt schleppe ich das Gepäck zur V-Strom. Der Loch Long sieht im Schein der Morgensonne fast unwirklich aus, wie eine Kulisse.
Ich mache das Motorrad startfertig und checke gerade die Kommunikation zwischen Motorrad und Helm, als ein älterer Herr freundlich nickend vorbeigeht und anfängt, an der Ducati herumzuwurschteln, die neben der Barocca steht.
“It´s a shame!”, sagt er dann plötzlich. “Watten?”, steige ich darauf ein und dann erzählt Simon, das er die Ducati in der Pandemie gekauft hat und bislang keine Tausend Kilometer damit zurückgelegt hat. Heute will er nach Ullapool. “Immerhin 300 Kilometer”, sage ich und Simon lacht. “Du bist deutscher?”, fragt er. “Ja”, sage ich. “Ach, Deutschland. Ich habe lange im Ausland für Öl- und Gasfirmen gearbeitet. In Frankfurt habe ich meiner heutigen Frau einen Antrag gemacht”, sagt er und guckt verträumt.
Mein Weg führt nach Süden, am Loch Lomond entlang und zunächst in die kleine Stadt Alexandria. Dort betanke ich die V-Strom bis zum Rand, dann geht es weiter, jetzt in die östlich Richtung.
Binnen einer Stunde habe ich einmal das Land gequert. Das ist aber auch keine Kunst – Schottland ist an dieser Stelle nicht besonders breit, weil die Bucht des Firth of Forth, an dem auf Edinburgh liegt, tief in das Land einschneidet.
Am Ende des Einschnitts liegt die Stadt Falkirk, und hier habe ich unfinished business zu erledigen. Im vergangenen Jahr war ich schon einmal hier, um die Kelpies anzuschauen. Was Leser Thom im Reisetagebuch aber zu Recht anmerkte: Ich hatte die zweite, große Attraktion in Falkirk völlig übersehen: Das Falkirk Wheel. Das zu besuchen, das hole ich jetzt nach.
Ich steuere die V-Strom auf einen Parkplatz und schließe den Helm ein, dann marschiere ich ein kleines Stück bergab und sehe schon auf dem Weg die turmhohe Konstruktion.
Beim Falkirk Wheel handelt es sich um ein Schiffshebewerk, und zwar ein außergewöhnlich ästhetisches. Seine Form, so eine Infotafel, sei einer Walrippe nachempfunden. Keine Ahnung ob das stimmt, Tatsache ist aber, dass es einzigartig auf der Welt ist. “Wie ein Riesenrad”, würde es funktionieren, sagen viele. Es hat zwei lange Ausleger mit “Gondeln” am Ende, von denen eine im unteren Fluss im Wasser liegt und die andere in luftiger Höhe an den Kanal grenzt, der oben auf auf dem Berg weiterführt. Boote fahren in die eine Gondel rein, dann rotieren die Arme einmal um 180 Grad, und dann fährt das Boot wieder raus, nur jetzt 35 Meter höher oder niedriger als vorher. Mich erinnert das er an eine Revolvertrommel, die eine Patrone nachlädt als an ein Riesenrad, aber das klingt vielleicht zu martialisch.
Bevor es das Falkirk Wheel gab, wurden elf einzelne Schleusen benötigt, um Schiffe vom Forth auf die Höhe des Flusses Clyde zu hieven. Und die Infotafel weiß noch mehr erstaunliche Dinge zu berichten: Nur fünf Minuten dauert ein 180-Grad-Umlauf, und dabei wird genauso viel Energie verbraucht wie es fünf haushaltsübliche Wasserkocher tun, wenn sie fünf Minuten lang betrieben werden. Grund: Die ganze Konstruktion ist so gut ausbalanciert und gelagert, dass ein kleiner Schubs ausreicht, um die Gondel rotieren zu lassen.
Während ich noch die Infotafel studiere, fährt ein Kanalboot in die untere Gondel ein. Es ist eines dieser typischen, britischen Kanalboote, auf denen gerne Aussteiger und ARD-Korrespondentinnen leben, sehr lang und schmal. Es tutet, und dann beginnt das Rad zu rotieren, und ehe ich es mich versehe ist das Kanalboot 35 Meter über mir und tuckert davon. Wow.
Im Besucherzentrum des Falkirk Wheel kaufe ich noch eine Tasse mit einer Risszeichnung des Falkirk Wheels und will an der Kasse das Parkticket begleichen, aber die nette Dame am Schalter winkt ab “Motorräder kostenlos, ich muss das nur hier codieren”, sprichts und reicht mir das Ticket zurück. Cool! Hat sich der Tassenkauf schon gelohnt.
Von Falkirk aus geht es nach Süden, zwischen Glasgow und Edinburgh hindurch und in eine ländliche und bergige Region. Felder leuchten sattgrün im Sonnenlicht, und durch die Mähmaschinen, die die Hecken an den Straßenrändern schneiden, duftet es nach frisch geschnittenem Gras und Kräutern.
Das ist ein völlig entspanntes Fahren. Hier ist kaum etwas los, und die V-Strom tuckert über die schmale Straße durch diese wundervolle Landschaft, die einfach ein Augenschmeichler ist. Das ist sowas wie ein Handschmeichler, nur für die Augen.
Ich behalte den Tacho der Barocca ganz genau im Auge, und schließlich stoppe ich die Maschine und sage feierlich: “Alles Gute zum Hundertsten, alte Dame!”
Dann mache ich noch ein Beweisfoto: Hier, in Schottland, ist meine V-Strom den 100.000sten Kilometer gelaufen. Das ist der 65.000ste mit mir.
Dann fahre ich weiter. Weiter geht´s nach Sünden, vorbei an Lockerbie und bis an die Grenze zwischen Schottland und England. Hier liegt das Örtchen Gretna Green. Der winzige Weiher hat eine lange Geschichte, und damit wird heute Kasse gemacht. Unter den mißtrauischen Blicken von Menschen in dunklen Anzügen drehe ich eine Runde über den Parkplatz der Gretna Green Hall, “The Original Marriage House, built 1710”, wie auf dem Schild steht.
Hochzeiten, dafür ist Gretna Green bekannt. Seit 1753 galt in England das Gesetz, das Minderjährige nur mit Zustimmung ihrer Eltern heiraten durften. In England, nicht aber in Schottland. Deshalb kamen minderjährige Paare nach Schottland, und Gretna Green war nicht nur das erste Dorf hinter der Grenze, hier durfte auch der Dorfschmid Trauungen vornehmen. Das Las Vegas des 18. Jahrhunderts, sozusagen. Es kam wohl immer wieder zu dramatischen Szenen, wenn nachgereiste Eltern in letzter Sekunde die Hochzeit ihrer Kinder zu verhindern suchten, aber wenn der Hammer gefallen war – das machte der Schmied, um die Zeremonie zu besiegeln – war es zu spät.
Auch heute noch wird in Gretna Green am Fließband geheiratet, bis zu 5.000 Trauungen pro Jahr werden hier durchgeführt.
Ich stelle die V-Strom im Schatten eines Backsteinhauses ab und erkunde das Gelände der ehemaligen Schmiede.
Die gibt es noch, aber darum herum ist die “Gretna Green Experience” entstanden, komplett mit “Expierience Shop”, Foodhall, Skulpturengarten, Riesenparkplatz und einem Kaufhaus, in dem es alles gibt, was man sich an schottischen Souvenirs vorstellen kann, von Kleidung mit Tartanmuster über Whiskey bis zu Gummi-Gallowayrindern.
Das Angebot wird gerne angenommen, ständig kommen Reisebusse voller Rentner an, die zum Kaffeetrinken in den Foodcourt gekarrt und anschließen durch das Kaufhaus geschoben werden. Doch, die Schmiedfamilie hat hier ein ordentliches Business aufgezogen, und das schon seit etlichen Generationen.
Ich würde der Balkonsitterin gerne einen Whiskey mitbringen, stelle aber fest, dass der in Deutschland weniger kostet als wenn ich ihn hier kaufe, und gehe mit leeren Händen.
Von Gretna Green aus geht es nach Südosten, wieder in ein bergiges und dünn besiedeltes Gebiet. Das hier sind die North Pennines, ein Area of Outstanding Natural Beauty, und ja, das ist nicht gelogen. Vor einem Jahr bin ich hier schon einmal lang gekurvt, aber da hatten Regen und dichter Nebel nur ahnen lassen, wie schön die Landschaft ist. Im strahlenden Sonnenschein sehe ich nun, wie weit und schön sie wirklich ist.
“Wir können sie aus Rookhope abholen, warte Sie dort im Pub”, hatte die heutige Gastgeberin geschrieben, aber ich bin ganz sicher, dass ich den Ort auch selbst finde. Rookhope besteht auch nur aus gefühlt fünf Häusern, ist aber das letzte Dorf vor einer Bergkette. Auf die fahre ich zu und einen ziemlichen Anstieg hinauf, den sich erstaunlicherweise auch etliche Radfahrer hochquälen. Da habe ich es eindeutig bequemer.
Nach fünf Kilometern lenke ich die V-Strom von der Straße und auf einen Schotterweg, der über eine Bergkuppe führt. Ein böiger Wind weht über die Karge Landschaft, treibt Staubwolken vor sich her und reisst am Motorrad, aber da sehe ich schon das Ziel: Einen alten Steinbruch, und davor ein altes Bahnhofsgebäude. Ich halte davor und stelle den Motor ab. “Springhead Station B&B and Tearooms”, steht auf einem Schild am Gebäude. Ja, hier wollte ich hin.
Ich entriegele das Tor in der Natursteinmauer und schließe es schnell wieder hinter mir, als ich sehe, dass ein Karnickel versucht, hinter mir durchzuschlüpfen. Das Haus selbst ist verschlossen, aber neben einem Keypad hängt ein Zettel mit dem Code. Als ich den eingebe, summt die Tür und springt auf. Es fühlt sich seltsam an, einfach so das Haus zu betreten, aber was soll ich machen?
Hinter dem Windfang der Haustür liegt ein schmaler Raum, in dem Tische und Stühle stehen, wie in einem Restaurant. Unverputzte Natursteinmauern, eine offene Holzdecke und ein Holzfußboden verströmen ein heimeliges Gefühl nach Wärme und Geborgenheit – ein Eindruck, der durch den Kaminofen in einer der Wände noch verstärkt wird.
Meine Stiefel hallen über den Holzfußboden, als ich ein paar Schritte in den Raum mache und “Halloooo?” rufe. Dann höre ich in einem Nebenraum eine Person, und eine breitschultrige und kurzhaarige Frau Mitte 60 tritt durch eine Tür. “Ach, Sie müssen der Übernachtungsgast sein, richtig? Ich bin Rose! Schön, dass Sie Springhead Station gefunden haben! Kommen Sie, ich zeige Ihnen ihr Zimmer!” Sprichts und flitzt eine Treppe hinauf.
Springhead Station ist, wie der Name schon andeutet, früher mal ein Bahnhof gewesen, und folgerichtig tragen auch die Zimmer die Namen von Bahnhöfen. Ich übernachte in “Burnhill Station”, einem modernen Zweibettzimmer, dessen einzige Marotte es ist, dass das Licht im Badezimmer mit einem Bewegungsmelder gekoppelt ist, so dass immer wieder das Licht ausgeht, während ich dusche.
Nachdem ich sauber bin, mache ich einen kleinen Spaziergang über die umliegenden Hügel. Schilder künden von einem Radwanderweg, der hier langführt – das erklärt die zahlreichen Radfahrer!
Alles hier ist einsam und leer. Meine Güte, hier gefällt es mir.
Der Wind ist immer noch streng, und kalt. Als ich wieder in das B&B komme, bin ich ziemlich durchgefroren.
“Na, Abendessen?”, fragt Rose. “Wäre das möglich?”, frage ich erstaunt, damit hatte ich nicht gerechnet. Aber kurze Zeit später steht ein dampfender Teller Suppe vor mir, und dazu gibt es ein “Golden Plover”-Ale, das hier in der Nachbarschaft gebraut wird, wie die Gastwirtin stolz erzählt.
Ich finde die Frau interessant und möchte mehr darüber erfahren, wieso sie gerade hier, mitten im Nirgendwo, in einem alten Bahnhof einen Tearoom aufgezogen hat. “Möchten Sie mir Gesellschaft leisten? Wir sind nur zu zweit hier”, sage ich und deute auf einen Stuhl, aber Lorraine winkt ab. “Ich stehe lieber. Ach, das hier war eine Milleniumsprojekt von meinem Rob und mir. Rob war begeisterter Radfahrer, und ich war bei der National Cycling Society tätig. Der Coast-to-Coast-Radwanderweg führt hier lang, aber der war vor 25 Jahren wenig frequentiert, und Rob meinte: Wenn es mehr gute Gasthäuser entlang des Weges gäbe, dann würde der auch mehr genutzt. Und dann machten wir was völlig Verrücktes, verkauften unsere Wohnung und unser ganzes Hab und Gut und kauften Springhead Station. Das war eigentlich eine Haltestelle für den Steinbruch hier, und das originale Gebäude war ein kleines Haus des Bahnhofsvorstehers, das schon 25 Jahre leer stand und völlig verfallen war. Mehr als ein paar Wände waren nicht mehr brauchbar, alles musste neu gebaut werden. Rob war Bauarbeiter, und er wollte alles selbst machen. Er begann alles umzubauen, das Haus größer zu machen und so auszustatten, dass es für Radfahrer und Wanderer attraktiv ist. Ein B&B für Übernachtungsgäste, aber auch ein Tearoom für Tagesausflügler und Leute, die hier zufällig vorbeikommen. Der Umbau dauerte Jahre, und ich habe es gehasst, die ganze Zeit über in einem Camper zu leben. Aber Rob ließ sich nicht beirren. Für die Erweiterung hat er sogar Steine vom Abbruch einer alten Kirche aus Schottland besorgt, damit alles authentisch bleibt.”
Ich nicke. Man kann sehen, wieviel Arbeit und Liebe hier reingeflossen ist. “Schmeckt ihnen die Suppe?”, fragt Lorraine. “Hervorragend”, sage ich. Die ist echt gut. Graupensuppe mit Karotten und Kartoffeln. “Robs Geheimrezept”, sagt Lorraine. “Er hat sich selbst das Kochen beigebracht, aber seine Rezepte nie jemandem verraten, egal wie oft Gäste danach gefragt haben. Auch unserer Tochter hat er seine Rezepte nicht gegeben, und die ist gelernte Köchin und schmeißt in der Saison hier die Küche.” “Klingt nach einem interessanten Charakter, ihr Rob”, sage ich. “Das war er”, sagt Rose.
“War?”, frage ich. Rose hat plötzlich Tränen in den Augen. Jetzt zieht sie sich doch den Stuhl ran und lässt sich darauf sinken. “Das war er. Vor einem Jahr hat er dann plötzlich angefangen seine Rezepte aufzuschreiben, weil er sich immer öfter nicht mehr an sie erinnern konnte. Da wusste ich, das etwas nicht stimmt. Und dann ging alles plötzlich sehr schnell, und zuletzt lag er nur noch im Schlafzimmer und hat niemanden mehr erkannt, und dann ist er im September gegangen und hat mich hier ganz allein zurückgelassen.” Jetzt laufen die Tränen, und Rose zieht ein Taschentuch aus ihrer Schürze und tupft sich damit die Augen ab.
Ich lasse ihr Zeit und sage dann “Das kann nicht einfach sein”. “Ist es nicht”, sagt sie. “Und ich weiß auch nicht, warum ich das hier alleine und ohne Rob weitermachen sollte. Ich suche jetzt Käufer für Springhead, aber das ist nicht einfach. Das Leben hier draußen ist hart. Es ist einsam, und wenn es im Winter richtig schneit, kommt man hier manchmal wochenlang nicht weg. Und mit den Kaninchen fangen wir besser gar nicht erst an, die Biester nagen alles weg, was schön ist. Man muss verrückt sein, um das hier zu übernehmen. Von denen, die sich das hier bislang angeguckt haben, haben bis auf zwei alle abgewunken. Interesse hatten zwei junge Paare, aber die haben beide weder Geld noch haben die Erfahrung ein Restaurant oder ein Hotel zu führen.” “Das ist nicht gut”, sage ich. “In der Branche muss man das im Blut haben, sonst macht man sich und die Gäste nur unglücklich”. Rose nickt und schneuzt sich die Nase. “Noch ein Ale?”, fragt sie dann.
Wir quatschen noch, bis draußen die Sonne untergegangen ist, dann ziehen wir uns auf unsere Zimmer zurück. Der Nachthimmel ist leider bedeckt. Schade, denn die Gegend ist so menschenleer und damit die Lichtverschmutzung so gering, dass regelmäßig Astronomiegruppen hier her kommen, um den Nachthimmel zu studieren, sagt Rose. Aber heute ist nicht mehr zu sehen als graue Suppe.
Tour des Tages: Von Loch Lomond nach Falkirk, von dort nach Gretna Green und schließlich in die North Pennines, rund 363 Kilometer.