Reisetagebuch (13): Old York

Reisetagebuch (13): Old York

Sommertour mit der Barocca durch Irland, Schottland und England.
Samstag, 10. Juni 2023, Springhead Station, Northern Pennines

Wooooooah habe ich gut geschlafen. Ist halt auch totenstill, hier draußen im Nirgendwo. Ich recke und strecke mich, dann schwinge ich die Beine aus dem Bett. Vor dem Fenster, das direkt über dem Haupteingang des ehemaligen Bahnhofsvorsteherhauses liegt, erstreckt sich menschleere und erstaunlich graue Landschaft. Davon muss ich ein Foto machen!

Ach verdammt, die haben hier diese komischen Schiebefenster. Na, was solls. Ich schiebe die Riegel an den Seiten des Fensters zurück und will das Fenster hochschieben. Das geht überraschend schwer, und das kann nicht allein daran liegen, dass das moderne, mehrfach isolierte Fenster sind. Ich schaue nach oben und sehe ungläubig, wie die obere Scheibe anfängt, langsam nach unten zu rutschen. Soll das so? Das ergibt doch gar keinen Sinn!

Kalter Wind faucht durch das Fenster, das jetzt schon halb offen ist. Mist Mist Mist! Ich klettere aufs Fensterbrett und versuche mit beiden Händen die Scheibe wieder nach oben zu schieben, aber das gelingt mir nicht. Habe ich das Fenster irgendwie falsch bedient?

Ich renke mir fast den Rücken aus, aber ich bekomme die Scheibe nicht wieder nach ganz oben, und einrasten will sie auch nirgends.

Na egal, erstmal schnell das Bild machen, und dann frage ich gleich Rose wie man das hier wieder zubekommt. Ich bin zu dumm ein Fenster zu bedienen – darf man auch keinem erzählen. Aber nun, hier das Bild:

Rose ist in der kleinen Küche am Gange, die an den Gastraum grenzt, und kommt sofort mit einem Kaffee um die Ecke. “Äh, Rose, ich weiß nicht wie ich das Fenster…” “Mach Dir keine Gedanken! Das ist kaputt. Nachher kommt einer aus dem Ort, der mir hier hilft, der wird das hochdrücken und zumachen. Und dann muss ich das mal reparieren lassen.”

Uff, gut, dann habe ich das zumindest nicht kaputt gemacht. Mit dem Wissen schmeckt das Frühstück gleich nochmal besser.

Rose und ich unterhalten uns noch gut eine Stunde – wie es mit Springhead Station weitergehen könnte, und was sie vielleicht mit ihrem Leben machen möchte. Als wir uns verabschieden, sage ich “Vielleicht bis nächstes Mal”. Rose guckt mich mit feuchten Augen an und sagt “Dann bin ich vielleicht nicht mehr hier”. “Ja, vielleicht”, sage ich und schwinge das Bein über den Sattel der V-Strom und starte den Motor.

Die Strecke durch die North Pennines ist schlicht und ergreifend beeindruckend. Karge, nur mit gelbem Gras bewachsene Hügel und Berge bis zum Horizont, dazwischen, in den Tälern und Senken, Wiesen und manchmal kleine Seen.

Warum querte das Schaf die Straße?

Alte Silbermine.

Um das hier so lange wie möglich zu genießen, fahre ich einen weiten Bogen durch die Landschaft und nehme dann noch eine Fahrt über die Hügelkette mit.

Etwas unentspannt wird es, als ich eine Stelle erreiche, ab der die Straßendecke für 20 Kilometer neu gemacht wurde. Zum krönenden Abschluss haben die Bauarbeiter eine Zentimeterdicke Schicht Rollsplit aufgetragen, und auf dem um die Kurven zu fahren macht überhaupt keinen Spaß.

Die maximal erlaubte Geschwindigkeit sind 20 Meilen pro Stunde, in echter Geschwindigkeit ungefähr 30 km/h. An die halte ich mich tatsächlich auch, aber einem Subaru, der von hinten ankommt, ist das zu langsam. An einer gut einsehbaren Stelle überholt er mich, und als ich das mitbekomme, klappe ich schnell das Helmvisier zu. Und tatsächlich, als der Wagen gerade an mir vorbeigezogen ist, knallt es an meinem Helm. DIESER PENNER! Ich zeige dem davonfahrenden Wagen wütend den Mittelfinger.

Genau vor meinem linken Auge hat ein großes Schotterstück das Visier getroffen und ein Stückchen ausgeschlagen. Schiet, genau im Sichtfeld, rege ich mich auf. Damit ist das Visier wirklich hin. Für meinen geliebten Nolan N104 gibt es keine Helmvisiere mehr zu kaufen, und das vorletzte, dass ich besitze, hat der Wichser gerade ruiniert. Dann rege ich mich wieder ab, weil ich froh bin, dass es das Visier getroffen hat, und nicht die teure Brille oder mein Auge. Aber trotzdem: Wenn dick Schotter auf der Straße liegt, dann überholt man nicht! Die Steinchen fliegen echt überall hin und richten wer weiß was an!

Erst als ich aus den North Pennines raus bin, geht es weiter nach Süden. Die ländlichen Dörfer und die Felder bleiben zurück, die Straße führt durch zunehmend dichtere Besiedlung, dann durch uniforme Vororte und schließlich hinein in die Stadt York. Hier ist viel Verkehr, frie eParkplätze gibt es nirgendwo, und ich bin froh, dass ich auf Anhieb den Bezahlparkplatz finde, den ich mir im Vorfeld ausgeguckt hatte.

Als ich mich der Schranke des Parkplatzes nähere, geht die sofort auf. Ein Schild weist darauf hin, dass das hier ein Ticketloser Parkplatz ist und das Kennzeichen gescannt wurde. Pffh, dass das mit Motorrädern funktioniert, glaube ich erst, wenn ich es sehe!

Bis es soweit ist, schließe ich den Helm und mische mich unter die zahlreichen Fußgänger, die in Richtung Innenstadt tapern. Immer an er Stadtmauer entlang dauert es nicht lange, bis es in eine Fußgängerzone geht.

Hier finden sich kleine Geschäfte und ein Pub am nächsten, meist mit launigen Namen wie dem “Fetten Dachs”.

Herne würde ich das York Minster sehen, die große Kathedrale, aber angesichts der langen Schlange vor dem Portal belasse ich es bei der Außenansicht. Es ist mit fast 30 Grad viel zu heiß, um hier eine Stunde lange in der brezelnden Sonne herumzustehen, und außerdem soll ein Ticket über 20 Pfund kosten. England ist halt komisch: Museen kosten nichts, aber für Kirchen wird Eintritt verlangt.

Nein, da schlendere ich lieber ein wenig weiter durch die pittoreske Innenstadt. Alte Fachwerkhäuser gibt es hier zu sehen, mit altehrwürdigen Gescäften darin. Sogar Käthe Wohlfahrt ist hier vertreten!

Meine Güte, hier ist wirklich kein Durchkommen. Keine Ahnung, ob das hier jeden Samstag so ist, oder ob heute etwas Besonderes los ist, aber die Menschenmenge in der Innenstadt ist wirklich, wirklich heftig. Man schiebt sich mehr aneinander vorbei, als das man hier flanieren könnte. Und das bei den Temperaturen! Nein, das macht keinen Spaß, und schon nach ganz kurzer Zeit biege ich wieder ab in die Richtung, in der ich das Motorrad vermute. Viel mehr als zwei Straßen habe ich jetzt von York nicht gesehen, aber das reicht mir.

Durch den Park des Yorkshire Museums und vorbe an den Überresten der Kirche von St. Olav geht es zurück zum Parkplatz.

Natürlich funktioniert das mit dem Ticketlosen Kassenautomaten nicht.

Selbst wenn der das Kennzeichen der V-Strom gescannt haben sollte, abrechnen lässt es sich nicht. Die Barocca trägt das Kennzeichen “Gö V-137”, da ist ein Umlaut drin. Umlaute kann der Kassenautomat aber nicht. Weglassen darf man sie aber auch nicht, das Kennzeichen “Go-V137” hat der Automat, so behauptet er, noch nie gesehen, so ein Fahrzeug stünde nicht auf seinem Parkplatz.

Ich schaue noch drei Mal nach Aushängen, ob Motorräder vielleicht von den Parkgebühren befreit sind. Sind sie nicht. Am Ende zwinge ich den Automaten drei Pfund für “Go-V137” zu nehmen, dann gehe ich zur V-Strom, drücke mir den Helm auf den Schweißnassen Kopf und versuche mich an der Ausfahrt.
Was erwartungsgemäß nicht klappt.

Die Schranke bleibt unten, als das Motorrad davor steht. Genervt drücke ich den “Hilfe”-Knopf an der Schrankensäule und warte.

Ich höre, wie am anderen Ende ein Telefon läutet, aber niemand geht ran. Nach 30 Sekunden ist es aber plötzlich still. Ist eine Verbindung zustande gekommen? “Hello? HELLO!”, rufe ich laut und mit dickem, deutschen Akzent, “EI AM HIER AT ZE CAR PARK AND ZE BARRIER WON´T OPEN! BUTT EI PAID FOR ZE PARKING! I DO NOT UNDERSTAND!”

In Italien und Frankreich geben Pförtner praktisch sofort auf, wenn sie merken, dass sie es mit einem schlecht sprechenden Deutschen zu tun haben. Die sparen sich einfach jede Diskussion, öffnen die Schranken und legen wortlos auf.

Keine Ahnung, ob mich hier überhaupt jemand hört, aber plötzlich geht die Schranke auf. “Geht doch, Arschloch”, denkt mein innerer Jamiri, dann und steuere ich das Motorrad runter vom Parkplatz und wieder hinein in das Verkehrsgewühl.

Das ist so dicht, das ich zwei Mal einen Spurwechsel verpasse und Anne einen weiten Bogen durch ein Wohngebiet rechnen muss, dann geht es plötzlich zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Rechterhand sehe ich das Münster über die Häuser ragen, und dann ist plötzlich die Straße vorbei – sie endet einfach an zwei Betonpollern. Und nun? umdrehen wird kaum was bringen, und so fahre ich die Barocca einfach zwischen den Pollern durch. Keine so dolle Idee, denn jetzt befinde ich mich auf Fahrradspuren in einem verkehrsberuhigten Viertel. Ach Mensch, das gibts´ doch nicht! Schlimmer gehts ja kaum.

Aber natürlich geht es noch schlimmer, wie ich sofort merke. Noch eine Straßenecke weiter und die Barocca rollt inmitten der Fußgängermassen daher. Die Briten lassen sich tatsächlich auch überhaupt nicht beirren, als wäre es das normalste von der Welt, dass ein Motorrad in Schrittgeschwindigkeit in ihrer Mitte dahinrollt. Ich kann unter dem Helm spüren, wie meine Ohren vor Scham am glühen sind.

Zum Glück dauert das nicht lang, schon nach wenigen hundert Metern, die sich aber hinziehen wie eine Ewigkeit, kann ich die V-Strom wieder zwischen zwei Pollern durchlenken und bin zurück auf einer Straße, die offen für Kraftfahrzeuge ist. Bloß weg hier!

Es dauert noch fast eine halbe Stunde, bis endlich die Vororte von York im Rückspiegel verschwinden. Erleichtert halte ich an einer Tankstelle und mache noch einmal das Motorrad voll, dann geht es weiter nach Südosten.

Bis in die Hafenstadt Hull ist es nur noch ein Katzensprung. Von hier bin ich schon im vergangenen Jahr mit dem Schiff zurück nach Europa gefahren, und umso leichter ist es jetzt, den Weg auf das Dach des Docks von P&O-Ferries zu finden. Dieses Mal bin ich nicht der erste, das Dach steht schon voller Motorräder. Vor mir stehen Biker aus den Niederlanden, hinter mir kommt eine Gruppe aus Mettmann (dieser Name!) an.

Im vergangenen Jahr bin ich mit der “Pride of Hull” gereist, dieses Mal ist es das Schesterschiff “Pride of Rotterdamm”, dass mich zurück in die Heimat bringen wird. Beide sind identisch, und nachdem ich die V-Strom sicher verzurrt habe, mache ich es mir auf dem Restaurantdeck am Heck des Schiffes mit einem Heineken gemütlich.

Das waren also zehn Tage Irland, plus noch ein Erledigung von Unfinished Business in Schottland und England. Von dieser Tour wird mir sicher Dublin in Erinnerung bleiben, als quirlige Metropole, die man aber nur zu Fuß und mit Öffis erkunden kann. Da habe ich echt einiges richtig gemacht. Was ebenfalls bleiben wird ist das Wissen um überlaufene Touristenorte, aber auch wunderbar einsame und weite Landschaft im Nordwesten der Insel.

Ja, ich bin einmal um die Insel rumgefahren, vom Landesinneren habe ich wenig gesehen. Das war aber auch Absicht. Ich würde nicht soweit gehen wie ein Reisereporter der sinngemäß schrieb “Irland ist wie ein Gemälde, dessen Rahmen reizvoller ist als die Leinwand”, aber tatsächlich finden sich in der Inselmitte hauptsächlich unspektakuläre Seen und ländliche Gebiete, wirklich ungewöhnliche Landschaft findet sich halt eher an den Küsten.

Was mir auch in Erinnerung bleiben wird, ist die entsetzliche Trockenheit. Die Dürre seit Dezember hat Spuren hinterlassen, sowohl in Irland, das stellenweise eher staubig und gelb statt grün und lebendig war, als auch in Schottland, wo kurz nach meiner Abreise Gebietsweise das Wasser rationiert werden wird.

Ansonsten ist Irland einfach das bessere Großbritannien. Nette Leute, schlechtes Essen, urige Pubs, Linksfahrgebot und seltsame Stromstecker gibt es auch hier, aber dabei hat man den Komfort, sich in der Europäischen Union zu bewegen – inklusive dem metrischen System und dem Euro als Währung.

Apropos Großbritannien: Auch über England habe ich noch einmal viel gelernt, durch die Geschichte Irlands und was die Engländer mit der Bevölkerung und dem Land alles angestellt haben. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar, und ich habe nun ein tieferes Verständnis dafür, was die Menschen durchlitten haben und wie die oft negative Darstellung der Iren in den Einwanderungsländern zustande kam.

Alles in allem eine wirklich gute Tour, und worauf ich besonders stolz bin: Nicht ein Mal bin ich auf der verkehrten Straßenseite gefahren! Darauf noch ein Heinecken!

Tour des Tages: Von den North Pennines über York nach Hull, rund 315 Kilometer.

Die Gesamte Tour: 5.853 Kilometer in 14 Tagen, von Deutschland aus in die Niederlande, dann durch England und Wales bis nach Irland, dort einmal außen rum und dann über Nordirland, Schottland, England und die Niederlande wieder zurück.

Und hier das ganze Reisetagebuch Irland in der Übersicht:

2 Gedanken zu „Reisetagebuch (13): Old York

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