Reisetagebuch (2): Frei, endlich frei!

Reisetagebuch (2): Frei, endlich frei!

Motorradherbst mit der Barocca. Heute auf den Spuren Sean Connerys.
Mittwoch, 20. September 2023, in der Nähe von Thun, Schweiz

Ich werde wach, als sich die Sonne über die Berge schiebt. Die V-Strom auf ihrem Parkplatz am Hang zeichnet sich gegen das noch schattige Tal ab, während die gegenüberliegende Bergkette in goldenes Licht getaucht wird.

Das ist so schön, dass ich mich anziehe und dann erst einmal einen Rundgang um den Gasthof mache, um die Landschaft zu fotografieren. Meine Güte, was für ein Panorama!

Heute ist kein Ruhetag, und der junge Gastwirt trägt ein wunderbares Frühstück in die Gaststube. Hausgemachte Konfitüre und Honig, großartig!

Danach mache ich mich fertig und bestücke das Motorrad. Es sind nur 10 Grad, aber die Sonne wird dafür sorgen, dass es bald wärmer wird. Die Barocca ist ganz nass vom Morgentau, aber dafür habe ich das kleine Handtuch im Topcase.

Nachdem der Sattel trockengeledert und die Anzeigen wieder ablesbar sind, kommt das Handtuch in der kleine Haltenetz auf der Satteltasche. Ein wenig Fahrtwind, und das “Handtuch”, eigentlich ein hauchdünner Mikrofaserfetzen, wird wieder trocken sein.

Hinunter geht es vom Berg und dann im Tal bis zum Thunder See. Ich muss zu seinem Westende, und bis dahin ist es eigentlich ein Katzensprung, wenn man gegen den Uhrzeigersinn ca. ein Viertel um den See herumfährt. Was leider nur über die Autobahn geht. Für die ich immer noch keine Plakette habe.

Also in die andere Richtung, nach Thun hinein und mittendurch. Sogar über die Brücken in der Innenstadt geht es. Aber das ist okay, der Verkehr ist nicht dicht und fließt, und Thun ist hybsch.

Wieder aus der Stadt raus, geht es am Thunder See entlang, und hier stoppe ich das Motorrad bei der ersten Gelegenheit und bewundere wieder die Landschaft.

Es braucht einen Moment, bis ich mich wieder losreißen kann.

Überall an den Straßen stehen Wahlplakate mit markigen Slogans. Alle wollen etwas “Auf Kurs halten” oder “Anpacken”. Es tut mir ja wirklich leid, dass ich dabei sofort an negative und stramm rechte Politik denke. Das hat die Schweiz nämlich geschafft: Mein Bild von ihr so nachhaltig zu schädigen, das ich automatisch immer denke, es geht dabei gegen vermeintliche Gefahren durch Auslander als Ausrede für repressive und nationalistische Politik. Ebenfalls komisch an den Wahlplakaten: Ich kann Politiker mit Namen wie “Ueli Gfell” nicht ernst nehmen. Aber gut, ich habe mit Schweizer Ausdrücken eh ein Problem. Ich könnte es auch nicht ernst nehmen, wenn jemand zu mir sagte “Mit Ihrem Töff können sie hier nicht parkieren”, da würde ich einen Lachanfall bekommen.

Am Westende des Thunder Sees liegt die Stadt Interlaken, und ich bin erstaunt, wie klein die ist und wie schnell ich da durch bin. Dann wieder ein See, dieses Mal der Brienzer, und an dessen Südufer sehe ich schon die mächtigen Berge aufragen, in die die V-Strom wenig später über ein tief eingeschnittenes Tal hineinfährt.

An dessen Ende beginnt die Straße sich in Kurven die Bergflanken hinaufzuwinden, nicht ohne fantastische Ausblicke auf die steinernen Berggipfel zu erlauben.

Die Baumgrenze bleibt zurück, und jetzt fährt das Motorrad in einer Welt aus Stein und gelblichen Gras durch ein grandioses Alpenpanorama. Der Höhenmesser klettert binnen 30 Minuten von 600 Metern, dem Niveau des Tals, auf 2.400 Meter, als die V-Strom den Sustenpass überfährt. Hier oben müssten Gletscher sein, aber davon ist nichts zu sehen.

Zu sehen sind Wasserfälle, die im Sonnenlicht funkeln.

Motorradfahrer gibt es hier oben auc, viele davon, obwohl es unter der Woche ist. Nur wenige fahren wirklich gut. Ich beschließe vorsichtig zu sein, und gerade, als ich den Entschluss gefasst habe, sehr defensiv zu fahren, kommt mir schon die nächste Gruppe Moppeds entgegen, die Köpfe und Oberkörper auf meiner Fahrspur.

Immer tiefer geht es in die Berge hinein, und plötzlich sind nicht mehr die Motorradfahrer die gefährlichsten Verkehrsteilnehmer, sondern die flachen Supersportwagen, die ihre Besitzer (und ja, es sind ausnahmslos Männer) hier um die Kurven scheuchen und ein ums andere Mal auch mich und das Motorrad bedrängen oder an Stellen überholen, die nicht einsehbar sind. Die Alpen als Spielplatz und Freizeitpark für Egoisten.

Ich muss mir wirklich Mühe geben, um mich von dem Gedanken los zu reißen und mich wieder für die Schönheit der Landschaft zu öffnen.

Ich kurve einmal im Tal um das Massiv der Gössneralp herum. Das fühlt sich hier an wie ein Tal, liegt aber auch schon auf 1.500 Metern. Genau im Süden des Massivs geht es dann wieder in Serpentinen den Berg hinauf, und hier beginnt es zu regnen. Ich halte an einer kleinen Aussichtstelle, an der ein Schild steht. Was steht da drauf? “Nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Würtemmberg” – diese Scheißaufkleber sind auch wirklich überall. Nein, das meine ich aber nicht. Was steht da oben? James Bond Street?

Tatsächlich. Aber warum? Wieso steht das hier? Ich blicke ins Tal hinunter und versuche mich zu erinnern, ob ich diese grüne Idylle in irgend einem Bondfilm schon einmal gesehen habe, aber mir fällt keiner ein.

Zum Glück steht ein wenig weiter ein Schild, und plötzlich wird mir klar, warum ich das hier nicht erkannt habe: Hier wurde “Goldfinger” gedreht, und der war noch in Schwarz-Weiß – zumindest in meiner Erinnerung. Any, hier hat Sean Connery den Gert Fröbe verfolgt, der als Auric Goldfinger einen goldenen Rolly Royce in die Schweiz schmuggelte.

Auf der Straße, über die ich gerade gefahren bin, hat Bond mit seinem silbernen Aston Martin DB5 dem Ford von Tilly Masterson die Reifen aufgeschlitzt.

Ts, das ist ja was. Wer hätte gedacht, dass ich hier auf sowas stoße, nur weil ich… was wollte ich nochmal? Ach ja, die Regenkombi. Ich ziehe die Regenkombi über. Hätte sich eh angeboten, es wird langsam arg kühl hier oben.

Über die Bond-Serpentinen klettert das Motorrad immer höher den Berg hinauf. Eine nette Begegnung sind die Rindviecher hier. Warum der Motorradfahrer allerdings hier nicht weiterfährt, weiß ich nicht. Er setzt sich auch nicht in Bewegung, als die Straße bis auf zwei Rinder wieder frei ist, und so überhole ich im Schrittempo… nur, um ihn wenige Minuten später wütend hupend wieder im Rückspiegel zu haben. Habe ich ein ungeschriebenes Schweizer Gesetz verletzt oder sowas?

Egal. Ich rege mich nicht auf, und das auf der nächsten Passhöhe wieder Dutzende Motorradfahrer stehen und sich in Siegerposen vor dem Alpenpanorama fotografieren, als hätten sie gerade eine besondere Heldentat vollbracht, ignoriere ich ebenfalls. Hier hochzukommen, das ist mit einem Motorrad nun echt keine Leistung. Die Straße ist perfekt ausgebaut und sowohl Kurven als auch Steigung sind handzahm, man muss praktisch nichts tun, um hier hochzurutschen.

Immerhin, das Panorama ist toll. Man sieht die Abfahrt des Furka-Passes, und im Hintergrund auch den Grimselpass.

Ich mache kurz ein Bild, dann fahre ich weiter. Die PAsshöhe interessiert mich nicht sonderlich, aber ein Stückchen weiter, da liegt… AH! Da ist es schon! Das Hotel “Belvedere” ist ein Schmuckstück, und da ist es!

Hier hoch zu kommen, ist keine Heldentat, schrieb ich. Das war 1964 noch anders, in “Goldfinger” ist die Straße hier nicht geteert und besteht nur aus Erde und lockeren Steinen:

Das Belvedere ist heute geschlossen. Gegenüber lag der Gletscher der Rhône, aber der ist heute nur noch eine Pfütze und wird nur von Motorradfahrern und Reisebussen angefahren, zu sehen gibt es da nichts mehr. Der Hauptgrund, warum hier niemand mehr übernachten möchte, ist aber der motorisierte Reiseverkehr. Als das Hotel gebaut wurde, hielten hier Pferdekutschen. 1980 hatte sich der Verkehr hier oben bereits verzweihundertfacht, und niemand wollte mehr in einem Hotel wohnen, um das permanent Autos pötterten. Heute, wo Motorräder und Sportwagen mit Klappenauspuffen hier oben wahren Akustikterror betreiben, wäre es gar nicht mehr auszuhalten. Aber wer weiß, vielleicht erlebt das schöne, alte Hotel mit der Elektromobilität eine Renaissance?

Über Serpentinen wieder hinab ins Tal, vorbei ander großen Felswand, wo früher der Rhône-Fall war, und dann durch ein Tal mit Orten wie Goms, Fiesch und Mörel-Filet (ich denke mir das nicht aus!) bis nach Brig. Den Ort kenne ich nur vom Bahnhof, jetzt nutze ich ihn, um mal kurz zu halten und die Regenkombis wieder zu verstauen. Der Regen ist auf der anderen Seite des Furka-Passes zurückgeblieben, und jetzt, 1.800 Meter tiefer, ist es auch wieder ordentlich warm.

Anna rechnet schon wieder Autobahn, was ich hier aber schnell austreibe. Es gibt hier einen anderen Weg, das weiß ich, soll sie sich mal ein wenig Mühe geben, den zu finden! Und tatsächlich, wenig später geht es eine Landstraße hinauf in die Berge und nach Süden. Die Ganterbrücke ist beeindruckend groß:

Überraschend gibt es hier viel Verkehr, vor allem Wohnmobile und Camper, die hier extrem langsam die Berge hochkriechen. Das ist nicht allein auf ihr hohes Gewicht oder eine zu geringe Motorisierung zurück zu führen – die Fahrer gucken sich schlicht die Landschaft an. Überholen ist kaum möglich, die Strecke ist unübersichtlich – wären nicht die ganzen Schlafwandler hier unterwegs, ich hätte auf der kurvigen Strecke richtig Spaß. Dort, wo es übersichtlich ist und überholen zumindest denkbar, warnt Anna vor Blitzern. So aber hänge ich hinter Campern fest, die nur die Hälfte der erlaubten 80 km/h fahren. Ach man, das fühlt sich an wie in einem Gefängnis. Muss nicht bald die italienische Grenze kommen? Nach der hätte zumindest dieses Blitzerelend ein Ende.

Meine Laune wird nicht besser, als es zu regnen beginnt. Haltestellen, wo ich schnell die Regenjacke überziehen könnte, gibt es nur wenig, und die stehen voller Camper. Bei Simplon verschwindet dann die Welt im Nebel, und die Wohnmobile fahren noch langsamer und bremsen bis zum Stillstand. Dabei ist das Tal hier so eng und tief und die Straße führt durch so viele Galerien und Tunnel, dass Anna sogar den Satellitenkontakt verliert und uns inmitten eines Berges vermutet.

So fahre ich vor mich hin, vorne und hinten eingekeilt zwischen Pupskisten, rechts und links steile Felswände, um mich rum nur Nebel, vor mich hin und regne langsam voll.
Dann sehe ich Zollbeamte aus Italien und der Schweiz in Regenponchos, aber die interessieren sich nicht für den laufenden Verkehr, und so quere ich die Grenze nach Italien. “FREI! ENDLICH FREI!”, denke ich, gebe Gas und überhole erstmal eine Reihe von Wohnmobilen, nur um mich dann spontan zu verfahren.

Falsche Abbiegung genommen, und schon drehe ich eine Runde durch den Ort Varzo. Der heißt auf Deutsch übrigens Warzo und es ist klar, warum die Einwohner italienisch präferieren.

Wurscht. Ich heize weiter gen Süden, überhole die gleichen Camper wie eben schon mal, kreuze durch Domodossola und komme dann unvermittelt in der Nähe des Lago Maggiore wieder aus den Bergen heraus. jetzt ist es nicht mehr weit, meine heutige Unterkunft liegt am Südende des Sees. Hier tanke ich, dann suche ich das örtliche Einkaufszentrum auf.

Hier suche ich – einen Schirm. “Ombrellone o parasole?”, fragt die Bedienung. “Regenschirm”, sage ich leicht gequält. Sonnenschirm wäre mir auch lieber, aber danach sieht es nicht aus. Im Gegenteil, morgen soll die Welt untergehen, und mit etwas Pech werde ich mehrere Stunden im Regen neben dem Motorrad stehen müssen. Dafür der Regenschirm.

Bis zur Unterkunft sind es nur noch wenige Kilometer. Im Dorf Veruno liegt ein großes, gut gesichertes Grundstück mit einem erstaunlich noblen Gästehaus. Gärtner mit Laubbläsern sind hier unterwegs, und Rezeptionistin Gianna wird von drei großen Hütehunden begleitet.

Ich stelle die Barocca unter dem Fenster des Zimmers ab, dann mache ich mich auf die Suche nach etwas zu essen. Laut Google und mehreren Schildern gibt es zwei Restaurants im Ort, eine Nobelrestaurant, was ich mir nicht leisten möchte und das auch erst um 20:00 Uhr öffnet, und eine Pizzeria. Na, da bin ich doch richtig!

“Nee, heute Ruhetag”, sagt die blonde Bedienung und fügt hinzu “Watt zu trinken oder ne Packung Kippen kann ich dir wohl erkaufen, wa? Aber essen ist nicht.”

Grml. Warum ist überall, wo ich hinkomme, Ruhetag!? Ich schleiche noch ein wenig durch die Straßen des Dorfes und bin mir schon sicher, dass es heute bei einem Müsliriegel aus dem Gepäck bleiben wird, als ich ein nettes, kleines Lebensmittelgeschäft entdecke. Man beachte das Acrimboldo-Gemälde!

Aus der Theke mit den frisch und handgemachten Sachen nehme ich eine Torta di… ach, vergessen. Ein Stück Pizza und einen Grünkernbratling nehme ich mit.

Das ist auch kalt erstaunlich legger, und während ich das verknuspere, checke ich nochmal die Regenvorhersage für morgen. Mittlerweile ist nicht nur Regen angesagt, sondern wirklicher Weltuntergang. Sturm und “ergiebige Niederschläge” bis 60 Liter pro Quadratmeter, sagt die Unwetterwarnung der Stufe Zwei. Ich seufze und hänge die Airbagjacke ans Ladegerät. Morgen werde ich jeden Schutz brauchen, den ich kriegen kann.

Tour des Tages: Vom Thuner See über den Susten- und den Furka-Pass nach Italien, am Lago Maggiore vorbei und bis Veruno, was neben Mailand liegt. 367 Kilometer.

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