Reisetagebuch (3): Schweres Wetter
Donnerstag, 21. September 2023, Veruno bei Mailand
Die Nacht ist unruhig. Im Zimmer ist es stickig und warm. Unruhig werfe ich mich in den Laken hin und her und schrappe immer haarscharf an der Grenze zum Schlaf entlang, ohne aber wirklich in ihn einsinken zu können.
Um vier Uhr halte ich es nicht mehr aus und öffne die Fenster, wohlwissend, das ich nun Mückenfutter werde. Die Nachtluft, die ins Zimmer strömt, ist auch warm, aber nicht ganz so schlimm wie im Zimmer, und langsam dämmere ich ein.
Der unruhige Halbschlaf dauert aber nicht lange, schon um sechs Uhr bin ich wieder wach, weil Flugzeuge durchs Zimmer dröhnen. Zumindest hört es sich so an. WTF? Warum sind die so laut? Klingt, als ob hinterm Haus ein Flughafen wäre.
Mit der Vermutung liege ich gar nicht mal falsch. Tatsächlich liegt Malpensa, der große Flughafen von Mailand, nur 16 Kilometer Luftlinie entfernt. Hätte nicht gedacht, dass man den so krass hört.
Ich schlurfe zum Fenster und blicke hinaus. Für heute ist Weltuntergang mit sintflutartigen Regenfällen angesagt, aber der zeigt sich noch nicht. Es ist wolkenverhangen und nieselt, aber da lugt eine fahle Sonne durch die Wolken und produziert ein gelbes Licht, was den Himmel irgendwie ungesund aussehen lässt.
Um 7:30 stehe ich wirklich auf und schlendere zum Frühstück. Ein Espresso Doppio, dann ein wenig Kuchen.
Ich eumele zurück in das Haus mit den Hotelzimmern, packe gemütlich meine Sachen zusammen, dann trage ich die Koffer zum Motorrad. Als das startbereit ist, fahre ich aber noch nicht los, sondern setze mich auf den Balkon. Es hat aufgehört zu nieseln, was ich ebenso erstaunlich wie gut finde. Das wird aber nicht so bleiben. Im Gegenteil, für die ganze Region bis runter nach Genua, wo ich heute hin muss, gibt es schwerste Unwetterwarnungen.
Starkregen, mit über die Ufer tretenden Flüssen und Erdrutschen, das ist für heute angesagt.
Anstatt mir den Tag über entspannt Pavia anzusehen, wie ich es eigentlich vor hatte, und dann gemütlich nach Genua zu dödeln, werde ich alles daran setzen, die Hafenstadt auf direktem Weg und so schnell wir möglich zu erreichen. Problem ist nur: Das dauert, wenn alles klappt, nicht besonders lang. Binnen vier Stunden kann ich da sein, die Fähre fährt aber erst heute Abend um 19:00 Uhr, ab 16:00 Uhr soll Boarding sein.
Was mache ich in der Zwischenzeit? Ich bin nicht gut im sinnlos Pause machen… Egal. Erstmal in Genua ankommen ohne weggespült zu werden. Die Wetterapp zählt für Genua allein acht Unwetterwarnungen auf. Schönen Dank auch. Nunja. Wenn ich übermorgen auf Gli Ulivi ankomme, dann habe ich es geschafft. Dann beginnt der Urlaub. Bis dahin ist Kampf.
Als gegen kurz nach Neun die Putzfrau vor der Tür steht, steige ich in den Fahreranzug. “Maximum Armor!”, denke ich, als die Lichter am linken Ärmel anfangen zu blinken. Der Weg heute wird keine einfache Fahrt, und irgendwie ist es beruhigend zu wissen, dass mich im Fall der Fälle diese Kleidung aktiv schützen wird.
Dann lege lege ich sorgfältig die Regenkombi an, gehe dann bereits bepackten Motorrad, wringe mich in die dicken Handschuhe und sage zur Barocca: Wir haben schon Schlimmeres überstanden”, und dieses Mal meine ich das auch so. Nach dem Starkregen in den Bergen im vergangenen Jahr kann uns nix mehr.
Es geht los, über kleine Straßen und vorbei an endlosen Reisfeldern. Noch regnet es nicht, aber jeden Moment muss es los gehen. Der Himmel ist grau, bestimmt beginnt gleich das angekündigte Unwetter.
Über die Po-Ebene zufahren ist jetzt schon end-langweilig, und dabei bin ich noch gar nicht richtig darauf. Das hier ist noch Alpen-Vorland, aber schon sehr, sehr platt. Im italienischen heißt das Ding hier übrigens Pianura Padana, was zwar exakt das selbe bedeutet, aber definitiv besser klingt als “Po-Ebene”
Schell erreiche ich Novara, eine Trabantenstadt auf der Höhe von Mailand. Die lässt sich gut umfahren, und danach wird es richtig langweilig. Felder, so weit das Auge reicht. Ab und an führt die Strada Statale durch kleine Dörfer, die immer gleich aussehen: Ein paar Wohnhäuser, ein Alimentari, ein Café mit Tabaccheria, ein Reifenhändler, dann wieder Felder, Felder, Felder und eine Straße, die schnurgerade bis zum Horizont führt.
Ich kann praktisch spüren, wie die Reifen der V-Strom immer platter gefahren werden. Aber vielleicht sollte ich das hier genießen, denn gleich wird es ja Unwetter geben.
Also, bestimmt gibt es gleich Unwetter. Der Himmel sieht zwar aus, als wäre er blau, aber das ist bestimmt nur eine Finte, um mich in Sicherheit zu wiegen. Ich gare in meiner Regenkombi und den dicken Handschuhen vor mich hin. Es ist warm, und vereinzelt kommt sogar die Sonne raus. Gleich geht es los mit dem Regen, ganz sicher.
Felder. Dorf. Tabaccheria, Reifenhändler, Felder.
Mehr Felder.
Dorf. Reifenhändler, Wohnhäuser, Tabaccheria, Felder.
Felder, Trecker überholen, (das ist zumindest ein wenig Abwechselung) Dorf, Reifenhändler.
😴
Mittlerweile sengt die Sonne vom Himmel, und ich komme mir vor wie eine Folienkartoffel. Ich habe gerade mal die Hälfte der einhundert Kilometer über die Po-Ebene geschafft, als ich es nicht mehr aushalte. Regen hin oder her: Aktuell bin ich klatschnass von innen, weil ich mich totschwitze!
Im nächsten Dorf halte ich an, reiße mir die Regenkombi vom Leib und trinke gierig eine halbe Flasche Wasser.
Dann wechsele ich die dicken, regenfesten Handschuhe gegen die ungefütterten Sommerhandschuhe, und mit offenen Lüftungsklappen an der Motorradkombi geht es weiter. Aaaaaah, tut der Fahrtwind gut!
Dann wechsele ich die dicken, regenfesten Handschuhe gegen die ungefütterten Sommerhandschuhe, und mit offenen Lüftungsklappen an der Motorradkombi geht es weiter. Aaaaaah, tut der Fahrtwind gut!
Das Piemont wird zur Emilia Romagna, und es geht auf die Berge des Appenin zu, an deren Fuß die Po-Ebene endet. Genau an diesem Übergang liegt der Ort Nova Liguria, und hier nehme ich die Gelegenheit war, und steuere einen LÜDL an. Ins Einkaufskörbchen wandert ein Stück frische Pizza und ein Salat-Sandwich sowie ein Feierabendbier, das ich mir heute sicher noch verdienen werde.
Als das Motorrad gerade vom Parkplatz des Supermarkts rollt, fallen erste Tropfen. Die Vorboten des Unwetters, jetzt wirklich, zweifellos. Der Himmel ist jetzt nicht mehr blau, sondern dunkelgrau. Gleich beginnt es. Ich finde eine stillgelegte Tankstelle, unter deren Vordach ich die Regenkombi wieder anlege. Hm, eigentlich könnte ich auch gleich den Übernachtungsrucksack packen und PFFFFFFFFH
Hä? Was macht hier “PFFFFFH”? Es ist ein Zischgeräusch, als wenn irgend etwas unter Druck entweicht.
Ich horche am Motorrad, aber das macht nicht Pfffffh. Das Geräusch kommt aber aus meiner unmittelbaren Nähe. Ich lausche an den Reifen, dann an den Koffern, und dann an dem Einkaufsbeutel aus Ultrasil, den ich gerade in der Hand halte. IEEH! Da kommt das her!
Anscheinend hat die Bierdose, wie auch immer das passiert ist, ein Loch bekommen, und da zischt der Inhalt raus. Angewidert schütte ich den Inhalt des Beutels in eine Mülltonne. Goodbye, Feierabendbier, Good Bye, Abendessen.
Den nassen Einkaufsbeutel will ich nicht einfach wegwerfen, der war teuer. Ich stecke ihn in einen Müllsack. So, und wohin damit? Wenn ich das Ding in einen der Seitenkoffer stecke, dann geht der Biergestank sicher nie wieder aus dem Gepäck. Na, dann fährt der halt außerhalb mit! Ich binde den Bierbeutel oben auf der Satteltasche fest, da kann er stinken, wie er will!
Mit leicht schlechter Laune und Biergeruch in der Nase fahre ich weiter und bemerke kaum, dass die Straße entlang mehrerer Kreisel durch ein ganz seltsames Gebiet führt. Links und rechts befinden sich unglaublich riesige Parkplätze, auf einer Fläche, groß wie ein Stadtteil.
Mittendrin stehen Gebäude, die entfernt mediterran und gleichzeitig unglaublich fake aussehen. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht mitbekomme und auch nicht weiß: Das hier ist die zweit-meistbesuchte Attraktion Italiens, gleich nach dem Kolosseum in Rom. Und die liegt zwischen Nova Liguria, das mit 28.000 Einwohnern kaum mehr als ein Dorf ist, und den Bergen des Appenin, wo praktisch sofort nichts ist. Wer jetzt sagt: Hä? – ja, so habe ich auch geguckt.
Das hier ist das Serravalle Designer-Outlet. Über 250 Luxusmarken und Fashion-Brands haben hier Outlet Stores, vom Prada-Täschchen bis zum Gucci-Düftchen bekommt man hier alles, was unnütz und sehr, sehr teuer ist, nur billiger.
Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass in Italien Luxusmarken in großen Einkaufszentren zusammengefasst werden, aber sinnvollerweise liegen die in der Nähe von vielbefahrenen Straßen oder großer Städte. Am Brenner ist so ein Outlet, oder in den Bergen hinter Florenz. Aber hier?
Stellt sich raus: Hier, diese Stelle im Nirgendwo, war wohl extrem billiges Bauland, was dazu geführt hat, dass die Investment-Firma MacArthur-Group hier 1999 angefangen hat zu bauen. Dann wurde das Ganze vermarktet als “Luxus-Outlet, das sowohl von Mailand als auch von Genua in 40 Minuten erreichbar ist” was eine glatte Lüge ist, von Mailand braucht man eineinhalb bis zwei Stunden, von Genua mindestens eine Stunde, aber damals gab es noch kein Google Maps, und so sammelten sich die Luxusmarken hier an. Zeitweise war sogar Ferrari vertreten, bis ihnen aufging, dass das nicht wirklich Sinn ergibt – um einen Ferrari zu kaufen, muss man ECHT reich sein, nicht nur so tun.
Wie auch immer, das Konzept funktioniert seit über zwanzig Jahren. Auf der Liste der meistbesuchten Orte in Italien steht auf Platz 1 das Kolosseum mit sieben Millionen Besuchern pro Jahr, Platz 2 ist dieses Ding hier, Serravalle, mit fünf Millionen. Unter den Top 10 finden sich auf Platz 6 noch die Ausgrabungen von Pompeji und auf Platz 10 die Uffizien in Florenz, alle anderen Plätze werden von Designer-Outlets belegt. Im Rennen um die Besuchergunst muss sich die Kultur dem Kommerz geschlagen geben, auch in Italien.
Während der schönsten Kurven setzt der Regen noch einmal eins drauf, und jetzt ist es wirklich Starkregen. Den spüre ich sogar durch die Schichten aus Regenkombi und Fahreranzug, er trommelt auf den Helm und schiebt sich durch die Visierdichtungen. Ich spüre regelrecht die Last des Wassers auf meinen Schultern, es ist, als wenn ich durch einen Wasserfall kreuze. “Heavy Rain”, denke ich, und drücke den kleinen Folientaster am Lenker bis zum Anschlag und drehe damit die Pumpe des Ölsystems hoch. Die Kette der V-Strom wird ja auch gerade im Regen geduscht, und um sie zu schützen, bekommt sie mehr Öl.
Grimmig fahre ich immer weiter. Jetzt ist es richtig anstrengend, das Motorrad durch die Kurven zu bewegen, denn die werden an vielen Stellen regelrecht von kleinen Bächen und Schlamm überspült. Zum Glück dauert dieser Spuk nur 20 Minuten, dann geht die Intensität wieder zurück auf normalen Regen.
Ich komme in einen Ort mit hohen Stadthäusern, die in beige gestrichen sind und grüne Fensterrahmen haben. Auch ohne auf Annas Display zu schauen, weiß ich, wo ich bin, denn diese spezielle Architektur und Farbgebung würde ich überall erkennen. Ich bin in Genua, oder zumindest in einem Vorort davon.
Zehn Kilometer sind es nun noch bis zum Hafen. Die Straße führt durch ein dicht bebautes Tal, das sich nach und nach weitet uniforme Wohnblöcke und hässliche Industriegebiete ziehen sich an den Hängen entlang. Ja, das ist Genua!
Als ich unter der neuen Brücke hindurchfahre, die die eingestürzte ersetzt, wird der Regen ohne Vorwarnung wieder heftiger, und ein Sturm setzt ein. Wolken ziehen so tief und schnell über die Stadt, dass im Nu die Gebäude am Talrand nicht mehr zu sehen sind. Äste und Blätter werden über die Straße gewirbelt, und die Barocca wird ordentlich durchgeschüttelt. Um die Maschine aufrecht zu halten, muss ich mich teils richtig aus dem Sattel lehnen. Am Schlimmsten ist es an den zahlreichen roten Ampeln. Ich muss die Beine steif machen, um das Motorrad im Stand stützen zu können. Halt durch, wir sind fast da, raune ich dem Motorrad durch zusammengebissene Zähne zu.
“Fast da” ist aber noch nicht ganz da, und wer Genua kennt weiß, dass das hier eine sehr vertikale Stadt ist – Straßen verlaufen in Tunnels oder unter oder über Brücken, vielspurig, als hätte sie jemand verknotet. Aber mit Annas Hilfe bekomme ich das hin, steuere die V-Strom über Hochstraßen und darunter durch und Rampen hinab in Tunnels.
…und dann bin ich tatsächlich im Passagierhafen! Ich habe es geschafft! Ich habe auf Anhieb die Einfahrt gefunden. Das war es jetzt? Das war doch viel zu einfach! Langsam rollt die V-Strom auf das Hafentor zu. Boah, wir sind in Sicherheit! Ich kann es kaum glauben! Wir haben dem schweren Wetter ein Schnippchen geschlagen und quasi problemlos und sofort ans Ziel gekommen! GESCHAFFT!
“EY! Sollen ditte?”, ruft plötzlich ein Wachmann. Er trägt einen Regenponcho und eine Langwaffe, und natürlich ruft er auf italienisch, aber der genueser Zungenschlag ist so hart und knapp wie Berlinerisch im Deutschen. Und die Menschen hier sind ähnlich spröde drauf wie in der deutschen Hauptstadt.
“Ich will zu einer Fähre”, sage ich. “Zufahrt erst ab 15 Uhr, wa”, sagt der Sicherheitsmann. “Es regnet in Strömen, kann ich wenigstens hier vor dem Tor warten?”, frage ich. Jetzt wieder raus in das Stadtgewühl, bei dem Wetter, das wäre Höchststrafe.
“Nix. Dit is ne Zufahrt, da könn´se nicht parken. Da könnt ja jeder kommen”, entgegnet der Wachmann schroff und verhängt damit besagte Höchststrafe. “Sie drehen jetzt da vorne um und dann sehn´se zu, dass Land jewinnen. Nach 15 Uhr könn´se wiederkommen.”
Ich sehe auf die Uhr. Das sind noch eineinhalb Stunden. Fuck.
Mir bleibt nichts anderes übrig als das Motorrad zu wenden (was mir noch erbostes Rufen einer Hafenwächterin einbringt, weil sie denkt, ich wollte an der Absperrung vorbeifahren) und durch den Hafentunnel wieder in die Stadt zu steuern.
Unter der Hochstraße, der Sopraelevata, gibt es kilometerlang Zweiradparkplätze – und alle, ALLE sind dicht an dicht mit Motorrollern belegt. Wundert mich nicht, in Genua gibt es nur rudimentären ÖPNV, bevorzugtes Fortbewegungsmittel durch alle Alters- und Berufsgruppen sind die Motorroller.
Die Barocca schwimmt im dichten Stadtverkehr mit. Ich fahre in Richtung des neuen Hafens, dort kenne ich eine versteckt gelegene Parkmöglichkeit. Dooferweise finde ich aber auf die letzten Meter die Zufahrt dahin nicht, und muss wohl oder übel weiter die Schnellstraße in Richtung des Vororts Boccadasse entlangfahren. Irgendwann biege ich in ein Wohnviertel ab, aber auch hier: Keine Parkplätze. In Genua ist jeder Quadratmeter zugebaut, zugestellt oder zugeparkt.
Dann, endlich, als ich fast schon wieder aus der Stadt bin, finde ich einen ausgewiesen Zweiradparkplatz mit genug Raum, um die breite V-Strom abstellen zu können. Himmel sei Dank!
Gegenüber des farbenprächtigen Corso Italia, dem berühmten Fußweg am Meer entlang, parke ich die Maschine und steige ab.
Es hat aufgehört zu regnen, vorerst, und ich steige aus der Regenhose. Eine Stunde verdödele ich Zeit, dann mache ich mich an den Rückweg – und prompt fängt es wieder an zu regnen. “Egal”, denke ich mir – wenn alles glatt geht, bin ich in 10 Minuten wieder am Hafen, für den kurzen Schauer brauche ich keine Regensachen anziehen.
Es geht natürlich nicht alles glatt. Eigentlich müsste ich nur auf die Schnellstraße fahren und der bis zum Hafen folgen, aber dooferweise ist die Schnellstraße gerade dicht – wegen Klimademonstrationen. Und nun?
Die V-Strom schwimmt in einem Schwarm aus Motorrollern mit und biegt in ein Wohnviertel ab, in dem nach wenigen hundert Metern allerdings nichts mehr geht. Alle Querstraßen münden auf die bestreikte Hauptstraße ein, und der stehende Querverkehr blockiert die Nebenstraßen, durch die ich gerade komme.
Als ob das nicht reicht, dreht unvermittelt der Regen wieder auf “Urwaldusche”. So sitze ich hier, mitten im Wohnviertel, im Stau, unter mir wird das Motorrad immer heißer und gleichzeitig fühle ich, wie die Hose meines Anzugs immer weiter durchnässt. Klar, die hat zwar eine Regenmembran im Inneren, aber kalt und klamm und nass wird die Außenschicht trotzdem.
Irgendwann nutze ich jede Lücke im Querverkehr um weiter zu kommen, schlängele mich an Autos vorbei und fahre an einer Stelle sogar unter einem Baugerüst auf dem Bürgersteig hindurch. Mit einem Motorroller geht sowas natürlich einfacher als mit der Barocca, deren barockes Hinterteil fast 1,5 Meter breit ist.
Hinter der Demo komme ich wieder auf die Hauptstraße, und nun sind es wirklich nur noch zehn Minuten durch das Gewirr der Tunnels und Brücken von Genua.
Mir fällt ein Motorradfahrer in Neonklamotten auf, der sich an mein Heck gehängt hat. Will wohl auch zum Hafen. Eine letzte Rampe, dann noch durch einen Tunnel, hier an der Ampel links, dann nach rechts und …Ha, ich habe die Zufahrt zum Hafen wiedergefunden! Ein Gefühl des Triumphs und der Erleichterung durchströmt mich, als ich die V-Strom am Straßenrand stoppe und meine Papiere aus der Innentasche der Regenjacke sortiere.
In dem Moment hält der Neonfarbene neben mir und fragt auf Deutsch, aber mit heftiger, österreichischer Färbung, ob ich wohl auch auf ein Schiff wolle. Ich nicke. Und auf welches?
“Die Allegra von Grande Navi Veloce”, antworte ich. “Ich bin auch GNV! Also mich haben die drei Mal umgebucht, da schaun´s! Ich war erst auf der “Allegra” und dann auf der “Excelsior” und jetzt haben sie mich auf die “Rhapsody” gebucht.”
Der Motorradfahrer wurschtelt mit drei Tickets herum und hält mir die unter die Nase. Ich würdige die keines Blicks. “Wann haben sie denn gebucht?” “Ah gehn´s… im Mai?”, sagt der Gelbe. “Seltsam. Ich habe im vergangenen Januar gebucht und habe nicht eine Änderung erfahren”, sage ich, und schaue nun doch mal auf die Tickets. Die Abfahrtszeit seiner “Rhapsody” heute ist die selbe wie die meiner “Allegra”. Fährt am Ende mein Schiff heute gar nicht? Nein, das kann nicht sein. Keine Ahnung, was bei dem Mann schief gelaufen ist, ich bin sicher, dass bei mir alles stimmt. “Viel Erfolg beim Schiff finden”, sage ich und starte den Motor.
Vom bewaffneten Wachmann ist nichts mehr zu sehen, und nach einer Runde durch einen Kreisel geht es in eine Unterführung. An einem Häusschen bekomme ich eine Boardingkarte für mein Ticket, und der Reedereiangestellt bappt einen Sticker mit dem Zielhafen auf den Außenspiegel der Barocca. Ob der wohl hält, auf dem regennassen Kunststoff?
Weiter gehts, in das Gewirr des Verladehafens hinein, vorbei an Absperrungen, Containern und Zäunen. Als ich nicht mehr weiter weiß, fährt ein weißer Transporter mit Hafenarbeitern an mir vorbei, hupt und bedeutet mir zu folgen.
Ich tue wie mir geheißen und stelle die V-Strom vor einer Absperrung ab. Die dahinterliegende Anlegestelle ist leer. Aber ein Dock weiter liegt eine GNV-Fähre die das Handy als “Allegra” identifiziert.
Ich gehe zu dem afrikanischen Hafenarbeiter, der mich gerade hier hergewunken hat, und frage, ob ich hier richtig bin. Er lacht und sagt nur “Sure, my Friend”. “Wirklich? 19:00 Uhr? Porto Torres?”, frage ich nochmal “Sure, my friend” kommt es wieder wie aus der Pistole geschossen. Ich glaub, der hört gar nicht zu. Ich wechsele von italienisch, was wir offensichtlich beide nicht gut können, ins englische. “Nee ernsthaft, hier, gucken sie mal”, sage ich und halte mein Ticket hin. Endlich wirft der Arbeiter einen Blick darauf, liest und nickt dann. “Ok,sorry, my friend”, sage ich. “Ich bin nicht so oft in Häfen”.
Was fast stimmt. Ich bin nicht so oft in Häfen wie Hafenarbeiter, und tatsächlich bin ich 2021 das allererste Mal mit dem Motorrad auf einer Fähre gewesen. Und 2022 dann schon vier Mal. Und dieses Jahr sechs Mal. Obwohl ich jedes Mal nervös bin, habe ich wohl irgendwie Gefallen daran gefunden. Die Barocca nicht. Die hasst Fährüberfahrten.
Die Barocca steht ganz vorne, in der Poleposition. Dahinter hält jetzt der Neonösterreicher, anscheinend hat man ihn doch auf die Allegra verfrachtet.
Es beginnt wieder stärker zu regnen, aber zum Glück brauche ich den gestern für diesen Zeitpunkt gekauften Regenschirm nicht – am Rand der Wartereihen stehen ein paar alte Pavillionzelte, die den Regen abhalten. Theroretisch kan man auch ins Terminalgebäde gehen, aber da gibt es keine Sitzgelegenheiten, es riecht schon am Eingang komisch und von den Hock-Toiletten fange ich besser gar nicht erst an.
Der Neonmann stellt sich neben mich und beginnt ein Gespräch. Thomas ist aus der Steiermark. Er fährt eine GS mit dem Spitznamen Optimus Prime, weil sie wie ein Transformer aussieht, haha, und spricht schnell und leise, mit starkem Österreichischem Einschlag, so dass ich nicht immer alles verstehe.
Bis hier her sei an einem Tag gefahren, 900 km. Respekt, sage ich.
Ob ich allein unterwegs sei? Ja, weil ich Gruppenfahrten nicht mag. “Geht doch nichts über Gruppendisziplin. Man muss schon ordentlich fahren! Die Schwächsten vorne, die Könner hinten!” Ich gucke erstaunt. Das klingt alles sehr vernünftig, aber ich bleibe misstrauisch. Immerhin ist er ein GS-Fahrer. Gibt es GS-Fahrer, die vernünftig im Kopf sind?
Er zeigt gerne Dinge auf seinem Handy. Hier, Bilder von Lost Places, da, Bilder seiner Tochter, hier Bilder von seinem Motorrad. “Für dieses Bild musste ich eine Treppe hochfahren, deshalb stinkt jetzt die Kupplung, aber das Bild war es wert”. Aha. OK, vielleicht ist er manchmal vernünftig und manchmal hakt es einfach aus? Wer ist so schräg und fährt Treppen hoch um ein Fotos seines Motorrads zu machen?
“Ich besuch übrigens Leute auf der Insel. Wir sind acht Kumpels und machen das immer, einer will da auch ein Haus kaufen nur dafür wir ein, zweimal im Jahr da hinfahren können, aber naja der braucht jetzt erst mal noch ein neues Motorrad”, sagt Thomas erzählt dann, dass der Kumpel bei eine m Ausritt ein Rennen mit einem anderen Kumpel gefahren sei und sich dann in eine Leitplanke gewickelt hätte.
Aber das gehöre ja dazu, irgendwo, ihn selbst habe ein Kumpel bei der Gruppenausfahrt am Hinterrad erwischt und dann habe er, Thomas den Abflug gemacht, aber sie hätten seiner Frau nichts von seinen gebrochenen Rippen erzählt und der Kumpel hätte sein Motorrad anstandslos repariert. Er zählt noch ein wenig weiter auf, wer von der Bande sich wo in Europa schon kaputtgefahren hat. Scheint normal zu sein bei der Truppe, dass mindestens einer der Komiker einen Abflug macht und im Krankenhaus landet. Vermutlich ist es sonst kein gelungener Urlaub. In Gedanken verabschiede ich mich von der Vorstellung, dass es vielleicht doch irgendwo vernünftige GS-Fahrer gibt.
“Ah hier wohnen mir übrigens”, sagt er und wischt auf seinem Handy rum und ich stöhne innerlich auf. Ich sage es in dem Moment nicht, aber er wird auf Sardinien nur 300 Meter von mir entfernt wohnen. In dem kleinen Dorf werde ich der GS-Truppe unweigerlich über den Weg laufen. Warum nur?! Warum??
Gegen 17:30 Uhr beginnt endlich, endlich das Boarding. Ich schwinge mich in den Sattel der regennassen Barocca. Sie darf als Allererste aufs Schiff. Vorsichtig und gerade fahre ich auf die Rampe zu. Die metallene Oberfläche ist nass und sehr glatt.
Die Deckcrew steht nebeneinander am oberen Ende der Rampe. Wie Feldherren stehen sie breitbeinig im Eingang zum Schiffsbug und schauen mir zu. Ich setze zum Einfahren an und gebe konstant Gas, um langsam, zügig und ohne Lenkbewegung die glatte Metallfläche hochzufahren. Die Crewmen machen Platz und ich visiere die Lücke in ihrer Gruppe an, aber als ich fast oben und im Schiffsrumpf bin, setzt sich unvermittelt ein Arbeiter in gelber Warnweste in Bewegung und latscht direkt in meinem Weg. Er ist zwei Meter vor mir, und ich muss eine Vollbremsung machen, um ihn nicht zu erwischen.
Der Typ glotzt mich dullig an, anscheinend hat er mich vorher nicht mal bemerkt. Ein Deckoffizier zieht ihn aus dem Weg, ich gebe Gas und fahre wieder an. Weiter vorn winkt schon ein Arbeiter, dass ich ihm folgen soll. “EY!STOPP!!” brüllt plötzlich jemand, und ein anderer Arbeiter stürmt auf mich zu und schreit wütend “Stopp! Biglietto!” und überzieht mich mit einer Tirade wirklich sehr blumiger und origineller Flüche.
Bei der Verladung der erste zu sein ist immer ein Fluch… alle hinter mir wissen nun wie es läuft. Ich musste es auf die harte Tour herausfinden.
Der Arbeiter vorne ruft “Vai! Vai!”, fahr zu, und das tue ich und fahre wieder an, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung sehe und sofort wieder die Bremse ziehe. Ich merke, wie das Vorderrad wegrutscht, und auch meine Füße finden auf dem glatten Deck keinen Halt. Zum Glück rutscht die Maschine nur für einen Sekundenbruchteil, dann greift der Reifen wieder und die V-Strom steht. Gut so, denn die Bewegung im Augenwinkel ist ein Fiat Punto, der sich irgendwie zwischen die Motorradschlange gemogelt hat und dachte, der Arbeiter, der mich einweist, würde ihm bedeuten zu fahren.
Die Crew wacht nun so langsam auf, verteilt sich besser auf dem Deck und separiert das Auto von den Motorrädern. Es geht eine Rampe hinauf in ein höheres Deck. Das ist zum Glück kein Problem, hier sind Gummimatten ausgelegt. Dann geht es einmal um das ganze Deck herum, bis ich in eine Parkposition zwischen zwei Spanten eingewiesen werde. Beim Absetzen auf den Seitenständer schlägt ein Koffer an, aber mit etwas manövrieren geht es dann doch.
Die Stelle ist eigentlich sehr gut, Problem ist aber: Die V-Strom ist so lang, dass sie von Spante zu Spante reicht, und ich nicht mehr herauskomme aus der Nische dazwischen. also nach rechts absteigen, was bedeutet das linke Bein über den Sattel zu ziehen – was nur geht, wenn recht genug Platz ist. Dort steht aber schon eine Honda eines Schnauzbartträgers. Gut, das ich noch gelenkig bin.
Die Kabine ist recht groß, aber frugal – es gibt nicht mal einen Stuhl. Egal. Ich sterbe vor Hunger, und da der Bier-Incident mein frisches Abendessen vernichtet hat, gibt es jetzt halt ein EPA von zuhause.
Später gehe ich auf´s Oberdeck. Es regnet nicht mehr, und so kann ich dem Treiben im Hafen zusehen. LKW rollen über das Gelände, ein paar Rumänen versuchen mittels eines Lastwagens die verrutschte Ladung eines anderen wieder zurecht zu drücken, Versorgungsfahrzeuge flitzen zwischen den Fähren hin und her.
Thomas schleicht sich an und erzählt im Nuschelton irgendwelche Dinge, dann zeigt er mir einen Chat mit seinen GS-Kumpels. Einer davon hat schon seine Maschine zerlegt und liegt mit vier gebrochenen Rippen im Krankenhaus. “Aber das macht ja einen gelungenen Urlaub erst aus, gell?”
GS-Fahrer, ey.
Ich schaue auf Genua hinaus. Der Leuchtturm steht stolz am Rand des Containerhafens, und die großen Gebäude der Stadtverwaltung sind ganz nahe.
Dann senkt sich die Nacht über die Stadt, und langsam gehen in den Wohnvierteln die Lichter an.
Schließlich legt die Allegra ab, und der neue Hafen gleitet am Schiff vorbei. “La Superba”, “die Herrliche”, wird Genua auch genannt, und ich weiß, warum.
Gott, ich liebe diese Stadt.
Tour des Tages: Von Veruno bei Mailand nach Genua, rund 200 Kilometer, ca. 4 Stunden.
Weiter zu Teil 4: Sardegna!
Zurück zu Teil 2: Frei, endlich frei!
8 Gedanken zu „Reisetagebuch (3): Schweres Wetter“
was sind GS -Fahrer?
BMW GS. Teuer, leisten sich meist ältere Männer als Statussymbol. Ältere Männer mit Geld und Geltungsbedürfnis…. Kannste dir ausrechnen, was da für Gestalten dabei sind.
Räusper, räusper…
Boxer-GS, Reihenzweizylinder-GS, Einzylinder-GS – alle gleich?
Ich glaube, der Motor spielt keine Rolle. Das scheint ein Mindset zu sein 😁
@ Silencer: Ich denke, Du hast einfach nur ein (un)glückliches Händchen für derartige “Aushängeschilder”. 😉
Also so wie ich meine Bonzenschleuder fahre. 🙂
Der GS-Thomas war ja nur mitteilsam und vielleicht etwas trottelig Naiv. Schlimmer sind die überheblichen Besserwisser.
Lukra, Thom: Mag sein, dass mir immer nur die Spezialisten begegnen. Deshlab schreib ich das einfach so auf, wie ich es erlebt habe, dann kann sich jeder selbst ein Bild machen 🙂
Hirnwirr: Du definierst Dich als alter Mann mit Geld und Geltungsdrang? Na, wenn Du meinst, der Schuh passt 😀