Reisetagebuch (5): Die anatomischen Wachsmodelle des Clemente Susini

Reisetagebuch (5): Die anatomischen Wachsmodelle des Clemente Susini

Motorradherbst mit der Barocca auf Sardinien. Achtung: Heute gibt´s Innereien und Geschlechtsteile.

Sonntag, 01. Oktober 2023, Bari Sardo
Um kurz nach 08:00 Uhr sitze ich schon im Sattel der V-Strom und fahre mit ihr auf der Landstraße SS125 gen Süden. Es ist kühl, gerade mal 12 Grad, und Morgennebel hängt in den Bergen rechts und links der Straße.

Es ist das erste mal seit…. wieviel Tagen? Das ich wieder ernsthaft Motorrad fahre. Mir war einfach nicht danach. Am Strand liegen oder auf der Veranda sitzen und lesen oder schlafen, das habe ich hinbekommen. Motorradtouren ins Umland, um Sardinien zu erkunden? Eher nicht. Da sind mir auch zu viele andere Motorradfahrer unterwegs.

Nach rund zwei Stunden bin ich in Cagliari, der großen Hafenstadt im Süden Sardiniens, und steuere das Motorrad einen Berg hinauf, der nur aus übereinandergestapelten Gebäuden zu bestehen scheint. Das ist die Altstadt von Cagliari, die so vertikal ist, dass sie teils über Aufzüge miteinander verbunden ist.

Auf dem Berg liegt die alte Zitadelle, die in ihren Burgmauern Teile der Universität von Cagliari beherbergt.

Eine ampelgeregelte Einbahnstraße führt mitten durch die Burg, und am Rand dieser Straße gibt es einen Motorradparkplatz, auf dem die V-Strom – wie schon im vergangenen Jahr – einen Platz findet.

Im vergangenen Jahr war ich hier, weil ich eine ganz spezielle Ausstellung sehen wollte. Die war aber dummerweise geschlossen, und im Nachgang wendete ich mich an den Ausstellungsleiter, einen hochrangigen Dottore der Universität, um ihn zu fragen, ob das dauerhaft sei.

Zu meinem Erstaunen antwortete der Mann tatsächlich und beteuerte, dass die Schließung nur temporär sei, bedauerte, dass ich vor verschlossener Tür stand und bot an, mich persönlich durch die Ausstellung zu führen, wenn mich mein Weg noch einmal nach Cagliari führen sollte. Das meinte er auch wirklich ernst, als ich mich vor einigen Wochen wieder meldete, erinnerte er sich an das Versprechen und bot an, es einzulösen.

Dass das nun doch nichts wird, liegt allein an mir – gestern war lange Nacht der Museen in Cagliari, und der Dottore hat bis um zwei Uhr morgens gearbeitet. Hätte ich mir nicht ausgerechnet diesen Sonntag am frühen Morgen ausgesucht, hätte er sein Versprechen wahr gemacht. Dafür nochmal ein dickes Dankeschön.

So trete ich allein durch das Tor der Zitadelle, und dieses Mal ist die Tür zum anatomischen Institut nicht verschlossen.

An der Tür hängt eine Warnung: “Ausstellungsstücke können empfindsame Personen schockieren”.

Dies Warnung gilt auch für diesen Text und die folgenden Bilder!


Endlich darf ich die Treppe, an deren Fuß ich vergangenes Jahr warten musste, selbst hochsteigen und die heiligen Hallen betreten. Wobei… das Plural ist unangebracht, es handelt sich nur um EINE heilige Halle, in der Tische mit Vitrinen verteilt sind.

“Der Eintritt ist frei, gehen Sie ruhig hinein”, sagt eine freundliche Wachfrau, die hinter einem Tresen sitzt. Ich betrete den Ausstellungsraum und besehe mir die Exponate. Es sind “Cere Anatomiche”, anatomische Modelle aus Wachs.

In Deutschland kennt man medizinische Wachsmodelle meist als “Moulagen”, aber deren Schwerpunkt liegt meist in der Dermatologie. Um 1880 entstanden, sind Moulagen täuschend natürlich geformte Nachbildungen oder Abformungen von Gesichtern und Gliedmaßen, die Krankheitsbilder der Haut aufweisen. So konnten Studierende früher aus nächster Nähe und dreidimensional die Pusteln, Pickel und Beulen studieren, die Krankheiten wie Syphilis, Lepra, Masern oder Pocken verursachen. Alte Moulagen aus dem 19. Moulagen stehen heute wieder hoch im Kurs, weil sie teils Krankheitsbilder dokumentieren, die es heute so nicht mehr gibt, wie z.B. Hauttuberkulose.

Die Cere Anatomiche sind älter und gehen tiefer, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind häufig Nachbildungen von inneren Organen, Blutkreisläufen, Nervensystemen oder ganzen Körpern.

Entstanden ist die Kunst dieser anatomischen Modellierung in Italien, und zwar schon um das Jahr 1680 herum. Ihren Höhepunkt hatte sie ab 1775, als die medizinischen Institute in Florenz eigene Werkstätten dafür einrichteten und Künstler engagierten. Einer der Besten seiner Zunft war Clemente Susini. Viele Ergebnisse sind noch heut in der Ausstellung “La Specola” gibt noch heute, 250 Jahre später, zu bestaunen. Die habe ich schon besucht, und nach Florenz gibt es noch eine bedeutende Ausstellung in Wien und eben diese Sammlung von Susinis Werken, hier in Cagliari.

Staunend betrachte ich die Nachbildungen von Füßen und Händen. Das sind Ein- und Anblicke, gegen die kein 3D-Computermodelle in dieser Form rüberbringen kann. Das Zusammenspiel von Muskeln und Nerven, die Bänder und Sehnen an den Knochen… Wahnsinn, wie detailliert das alles ist.

An der Grenze zwischen Anatomie und Pathologie schrammen die Körpermodelle entlang. Ich finde die völlig faszinierend, auch wenn die natürlich leicht gruselig wirken können.

PENIS!

Faszinierend auch die Nachbildung einer Schwangerschaft in verschiedenen Stadien. Die Künstler haben sich sogar die Mühe gemacht, das Modell mit Schamharen auszustatten.

Überhaupt, der weibliche Körper.

Jedes Exponat ist auf italienisch, englisch, deutsch und spanisch nahezu fehlerfrei beschrieben und durch kleine LED-Tentakelstrahler perfekt ausgeleuchtet. Diese Ausstellung ist klein, aber von allerhöhester Qualität.

Schwer beeindruckt und sehr zufrieden, dass ich das hier sehen konnte, verlasse ich Cagliari wieder. Es ist zwar Sonntag, aber der Stadtverkehr ist schon wieder erheblich, und ich sehe zu, dass ich Land gewinne und zwei Stunden später wieder am Strand liege.

Montag, 02. Oktober 2023
Zum ersten Mal seit zwei Wochen habe ich wirklich Lust auf eine Motorradtour, und greife mir schon früh am Tag die V-Strom. Einfach drauf los fahren, das sardische Hinterland erkunden, dabei nach Möglichkeit die Lieblingsrennstrecken der anderen Motorradtouristen meiden.

Das führt zu netten Begegnungen im Hinterland. Ich entdecke Rinderherden in trockenen Flußbetten, kleine Schweinchen, die quiekend von der Straße in die Büsche springen und umgekehrt, und große Radioantennen oder -Teleskope.

Sardinien hat echt viel zu bieten, und wenn man ein wenig abseits der SS125 unterwegs ist, ist man auch ziemlich allein. auch nett: Streeatart in einem Dorf, in dem die Bewohner angeblich besonders alt werden: Sie halten die Tod durch gutes Essen fern, sagt die Hausmalerei!

Dienstag, 03. Oktober 2023
Über diesen Tag möchte ich lieber nicht reden.

Mittwoch, 04. Oktober 2023
Noch eine kleine 244-Kilometer-Runde durchs Hinterland. Zwischendurch fällt mir auf, dass Anna keinen Strom mehr bekommt. Zurück am Bungalow wühle ich in der Elektrik der Barocca herum und finde einen Kabelbruch an dem Zusatzrelais, das Navi, Heizgriffe und Zusatzscheinwerfer steuert. Das ist zum Glück schnell behoben.

Was mir dabei auch auffällt: Die Salzluft tut der V-Strom nicht gut. Suzukis haben eh´ den Ruf, nur beim Anblick von Salz sofort zu rosten, weshalb man sie erst fahren sollte, wenn das Wintersalz vollständig von den Straßen weg ist.

Tatsächlich blühen die Alu-Teile der V-Strom weiß, die Auspuffanlage und einige Schrauben dagegen rostrot. Na, da wird zu Hause einiges an Arbeit anstehen. (Zuhause wird mir ein befreundeter Kawasaki-Händler erzählen, dass er gerade einen Garantiefall an der Backe hat. Pensionär hat sich eine Kawa gekauft, hat Winterflucht betrieben und nach einem halben Jahr auf Sardinien war die Kiste überall angerostet. Salzluft ist also nicht nur für Suzukis schlecht. Ich finde das seltsam – Japan ist doch eine Inselnation, wieso gehen japanische Motorräder in Salzluft kaputt?)

Nachts wenig Schlaf, Arbeit im Kopf und Wut im Bauch.

Donnerstag, 05. Oktober 2023
Rumgewurschtelt, dann die Esel und die Ziegen besucht.

Dann wird mir klar, dass die Tage des Faulenzens und Rumwurschtelns auf Sardinien so langsam zu Ende gehen. Ich muss mir jetzt ernsthaft mal überlegen, wie die Fahrt ab hier weitergehen soll.

Abends sitze ich mit hochgelegten Füßen auf der Veranda des Bungalows, starre in die Wipfel der Eukalyptusbäume und überlege, wo ich als nächstes Station machen soll. Die übernächste Station steht schon fest, aber wo es hingehen soll, wenn ich wieder auf dem Festland bin, weiß ich noch nicht genau. Marta? Zu na dran am Fährhafen, und auf Genua City habe ich gerade keine Lust. Nonna Lalla? Ebenso. Franca? Vermietet seit diesem Jahr keine Unterkünfte mehr, I Papaveri ist Geschichte. Cecilia? Ist gerade selbst in Urlaub. Monia? Zu weit weg, genau wie Maria.

Hm. Leicht amüsiert stelle ich fest, dass meine Innere Landkarte von Italien landauf, landab mit Frauen als Fixpunkten gebaut ist. Gut, mit Ausnahme von Marco, in den Marken. Aber sonst: Frauen.

Dann durchzuckt es mich wie ein Blitz: Giulietta! Eigentlich auch zu nah dran, aber… ich schmeiße das Routenplanungsprogramm an… also, wenn ich hier einen Stop einlege und dort den Tag über lang kurve und dann da lang… Ja, das kann klappen! Eine halbe Stunde und eine Whatsapp-Konversation später habe ich meine nächste Unterkunft auf dem Festland. Hach, das wird super.

Freitag, 06. Oktober 2023
Rumgewurschtelt, dann ein letztes Mal an den Strand.

Abends sitze ich ein letztes Mal auf der Terrasse vor dem Bungalow, gucke Serien auf dem Notebook, genieße die warme Nachtluft, trinke ein Ichnusa und denke, dass ich hier eigentlich kaum weg möchte. Fast drei Wochen bin ich nun schon unterwegs und zwei Wochen davon hier auf Sardinien. Jetzt bin ich richtig angekommen im Urlaub, und irgendwie auch in einem anderen Leben.

Aber morgen geht es weiter, und irgendwie ist das auch OK, denn jetzt habe ich wieder Kraft und Energie für Neues. Für unterwegs sein, für die Straße.
Und ich freue mich auf Giulietta, die schönste Frau Italiens.

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0 Gedanken zu „Reisetagebuch (5): Die anatomischen Wachsmodelle des Clemente Susini

  1. Ja ja, am Strand von Torre di Bari kann man schon mal die Zeit vergessen. Und der riesige, blutrote Mond, der abends aus dem Meer emporstieg – irre schön.

    Jetzt machst Du´s aber spannend! Giulietta…

  2. Hirnwirr: Heutzutage würde sowas wohl aus dem 3D-Drucker fallen – und damit die handwerkliche Kunst völlig wegfallen…

    Lukra: Ooooh ja, DEN Mond hatte ich auch. Wunderschön. Giulie taucht übrigens nicht das erste Mal hier im Blog auf 😉

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