Reisetagebuch (6): Wahre Schönheit
Motorradherbst mit der Barocca . Heute geht es zurück auf´s Festland, und ich entdecke wahre Schönheit und bin glücklich.
Samstag, 07. Oktober 2023
Meine Sachen habe ich gestern Abend schon gepackt, heute morgen brauche ich nur noch die Koffer an das Motorrad klippen und ein letztes Mal den Bungalow ausfegen. Ich blicke noch einmal in die kleine Küche, dann seufze ich und ziehe die Tür hinter mir zu.
Das waren jetzt also 14 Tage auf Sardinien, heute geht es zurück auf´s Festland.
Porto Torres, der Abfahrtshafen, liegt ganz im Norden der Insel, ich bin gerade noch im mittleren Osten. Das ist aber kein Problem – selbst mit den irren Umwegen, die ich heute fahren werden, bin ich in fünf Stunden dort, und das Schiff wird erst heute Abend fahren.
Darum gehe ich es gaaaanz gemütlich an. Von Bari Sardo aus dödele ich durch das Hinterland der Ogliastra und dann nach Norden, bis zum Hafenort Arbatax. Hier bestaune ich die roten Klippen, für die der Ort so bekannt ist.
Dann geht es die SS125 entlang durch das Gennartu Gebirge. Die Straße hier ist die Haus-Rennstrecke der Touris und normalerweise sehr voll, aber jetzt, fast schon Mitte Oktober, ist es hier zumindest ein wenig ruhiger.
Hinter dem Gebirge führt die Straße unvermittelt durch ein zerklüftetes Gebiet voller Marmorsteinbrüche. Maschinen, Straßen, Bäume – alles weiß überpudert, was endzeitlich und zugleich sehr cool aussieht.
Danach geht es einmal um die Nordspitze Sardiniens herum, durch San Teodoro und Olbia, vorbei an Santa Teresa Gallura und natürlich auch wieder vorbei an Castelsardo, in dessen Nähe Gli Ulivi liegt. Ach, schön war es da.
Auf der Fahrt im Norden entdecke ich sogar den Toilettenbaum wieder. Das ist ein Nadelgewächs an einer kleinen Haltestelle. Sieht von außen völlig normal aus, aber im Inneren ist es hohl und wirkt wie ein großer, geschützter Raum an einem Abhang. Das wird halt gerne als, nunja, Toilette benutzt.
In Porto Torres läuft mir ein LÜDL über den Weg. Die kleine Hafenstadt ist eng bebaut, und deshalb hat der Discounter seinen Parkplatz auf dem Dach. Dort steht ein feuerwehrroter 2012er Toyota Aygo.
Ich verziehe das Gesicht, als ich das Fahrzeug sehe. Es erinnert mich daran, dass ich seit neuestem genau so ein Ding besitze – und mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland wohl oder Übel um den Verkauf des Legendären Gelben AutosTM kümmern muss. Oder will ich das LGA weiterfahren und das rote Spielmobil da einfach eingelagert lassen? Ich schiebe den Gedanken weg, der ist mir gerade unangenehm.
Ich kaufe ein wenig Abendessen ein, dann mache ich mich auf dem Weg zur Anlegestelle der Fähre.
Vor dem Hafentor ist die Fahrzeugschlange schon lang. Es ist Samstag, es ist Mitte Oktober, jetzt endet die Saison und die Touristen verlassen die Insel. Ab nächster Woche wird der Fährverkehr eingestellt oder zumindest stark eingeschränkt.
Gegen 16:00 Uhr ist Einlass, nach dem Check von Ticket und Pass bekomme ich eine von zwei Zufahrten zu den Anlegestellen zugewiesen. Kaum dort angekommen, druckt ein Angestellter der Reederei auf einem tragbaren Drucker die Bordkarten. Ein mobiler Checkin, quasi. Das Schiff ist die Allegra, wie schon auf der Hinfahrt.
Die Verladung startet unmittelbar darauf und ist unspektakulär und schnell. Das Personal kümmert sich um die Verzurrung. “Das war das letzte Mal”, verspreche ich der Barocca, die Fährüberfahrten hasst und dieses Jahr schon die sechste ertragen muss.
Wenig später dröhnt Musik über das Schiff. Das Oberdeck der Allegra ist mit bunten Lichterketten geschmückt, eine kleine Bar hat geöffnet und die Passagiere tanzen zur Musik auf dem Hubschrauberlandeplatz, sitzen in kleinen Gruppen auf dem Deck und machen Picknick oder lehnen an der Reling.
Langsam versinkt die Sonne hinter den Hafenanlage. Als die Allegra gegen 18:45 Uhr ablegt, wird es schon dunkel.
Tschüss, Sardinien, schicke ich der Insel einen stummen Abschied. Bis irgendwann mal wieder.
Sonntag, 08.10.23
Es ist halb sechs, als der Weckruf durch die Gänge des Schiffs schallt. Ich gehe nach draußen und sehe erst einmal: Gar nichts. Wo immer wir sind, wir sind noch weit vom Land entfernt. In der Dunkelheit und dem Nebel über dem Wasser kann ich nicht mal Leuchttürme ausmachen.
Im Motorradanzug lege ich mich wieder auf´s Bett und mache nochmal die Augen zu.
Eine Dreiviertel Stunde später gleitet die Allegra langsam in den Hafen von Genua.
Es ist bereits hell geworden, als die Fahrzeuge der Passagiere aus dem Schiff quellen und aus dem Hafen heraus und auf die Schnellstraße zuckeln. Ich reihe mich da ein und überhole die Urlaubsrückkehrer, die entweder so tiefenentspannt oder noch so müde sind, dass sie nicht mal die Mindestqualifikation an Geschwindigkeit im Stadtverkehr in Genua erfüllen. Und es ist nicht so, als ob die Genueser das nicht mitbekämen, die sind nämlich auch am Sonntag morgen um Sieben schon unterwegs.
Kurz vor dem neuen Hafen ziehe ich die Barocca weg von der Schnellstraße und hinein in das Labyrinth rund um die Altstadt. Nicht in die Altstadt hinein, das ginge ja auch gar nicht – Genua hat die größte und älteste Altstadt Europas, die ist ein Irrgarten aus Fußwegen. Nein, ich fahre durch die Straßen, die von klassizistischen Stadthäusern gesäumt sind, an deren orangefarbenen Fassaden die Salzluft nagt und einen Eindruck von Beautiful Decay hinterlässt, romantisch-schönem Verfall. Zugleich wirkt alles leicht tropisch, überall wachsen Palmen und ranken Kletterpflanzen. Gott, ist das schön. Ich liebe diese Stadt.
Wie es in Genua üblich ist, sind die Häuser sehr hoch, mindestens fünf hohe Stockwerke. Weil alles an Berghänge gebaut ist, sind teilweise Häuser auf Häuser gebaut, und dazwischen verlaufen Brücken und Tunnels. Manchmal hat man drei, vier fünf Schichten Genua übereinander, und ob dieser Vertikalität schwenken Navigationsgeräte gerne mal die weiße Fahne und setzen sich zum Weinen in die Ecke.
Zum Glück kenne ich mich gut genug aus, um ohne Hilfe durch dieses dreidimensionale Labyrinth zu finden. So, DA ist die Kirche mit den griechischen Säulen und HIER ist der große Tunnel der DORT an dem großen Kreisel endet und jetzt immer geradeaus über den Berg und HA! – DAS ist das zweite Tal mit dem großen Kanal, der im Frühjahr die Schneeschmelze ins Meer leitet.
Ich steuere das Motorrad den Kanal entlang und an hässlichen Gerwerbebauten vorbei auf die Berge zu, bis linkerhand ein riesiger, klassizistischer Bau auftaucht.
Über eine Brücke lenke ich die V-Strom dorthin und bin überrascht, wie belegt der winzige Parkplatz vor dem Bau schon ist. Immerhin, die Barocca findet noch einen Platz, aber schon wenig Minuten später ist sie links und rechts von Vespas zugestellt und nach vorne von einem Kleinbus, der eine Jugendfußbballgruppe einsammelt. Was man halt Sonntags morgens um acht so macht.
Ehrfürchtig betrete ich die heiligen Hallen, zum allersten Mal durch den Haupteingang. Der reguläre Eingang führt durch die Seitenmauer und ist gesäumt von Blumenlädchen und man kommt an der Verwaltung vorbei. Der Haupteingang ist monumental groß und ehrwürdig. “Auf den Boden spucken verboten” steht auf einem alten Metallschild, das wohl noch aus der Zeit des Kautabaks stammt.
Das hier ist Staglieno. Eigentlich ein Friedhof, zugleich das größte Freiluftmuseum für humanistische Bildhauerei der Welt, und für mich einer der schönsten Orte, die ich kenne. Mein Weg führt mich immer wieder hier her, wenn Lebensabschnitte enden oder beginnen. Demnächst stehen tiefe Entscheidungen an, und für all das – Einschnitte, Beginn und Ende – steht Staglieno. Nicht auf eine traurige Art. Als Friedhof ist das hier zwar ein Ort der Trauer, aber die hier Bestatteten haben sich meist als junge, kräftige Menschen in Statuen portraitieren lassen. Das führt zu dem seltsamen Effekt, dass dieser Ort der Trauer das Leben zelebriert und wertschätzt, und damit überaus positive Vibes versprüht.
Unklar, wie lange Staglieno in dieser Form noch erhalten bleibt. Mittlerweile gibt es weltweit Vereine, die die Erhaltung der Statuen finanzieren, während gleichzeitig die Gebäude und Kolonnaden zerbröckeln und verfallen.
Ich kenne mittlerweile die Statuen so gut, dass ich ihre Stile einzelnen Bildhauern und ihren Werkstätten zuordnen kann.
Die Gestaltung der Statuen ist… absolut verblüffend. Viele weisen Details auf wie Wimpern oder durchbrochene Häkelkleidung, wo ich mich schon frage, wie man sowas um 1860 herum aus Stein hauen konnte.
Ich drehe nur eine Runde durch die Hauptkollonaden. Dort stehen die schönsten Kunstwerke, und auch einige der bekanntesten, wie den gefallenen Engel. Der ist berühmt geworden durch das Album von Joy Division, “Love will Tear us Apart” – das Poster des Albums hing 10 Jahre in meinem Wohnzimmer, und durch puren Zufall entdeckte ich den Engel dann hier – und in echt ist sie noch viel schöner als auf Bildern.
Ja, Staglieno ist ein Monumentalfriedhof, und eine Monument der Schönheit.
Aber genug davon, über Staglieno habe ich schon öfter geschrieben und sogar Videos gedreht. Wer die sehen möchte: Hier sind sie.
Zu mehr als den ebenerdigen Kolonaden nehme ich mit heute keine Zeit. Man kann einen ganzen Tag auf dem weitläufigen Gelände verbringen, Staglieno zieht sich bis hinein in ein Tal und einen Berghang bis in einen Urwald hinauf, aber heute steige ich schon nach einer Stunde wieder in den Sattel der V-Strom und fahre gegen 09:30 Uhr weiter den Kanal entlang nach Norden.
Wieder überrascht es mich, wieviel an einem Sonntag morgen schon in Genua los ist. Die Straße ist voll, und auch die Polizei ist schon unterwegs und kontrolliert die Geschwindigkeit – was mir erst auffällt, als ich mit deutlich erhöhtem Tempo an einer Laserkamera vorbeizische. “Ho Preso l´autovelox”, wie die Italiener sagen, ich habe den Blitzer mitgenommen. Shit.
Der Kanal folgt dem Verlauf des Tals, das immer enger wird und schließlich in die Berge hinter Genua führt.
Die Landstraße wird schmaler, aber auch hier ist viel los, zwischen den langsam fahrenden Sonntagsfahrern knattern Gruppen von Motorrädern auf die Berge zu. Im Ort Ferrada fahrte ich bei Nonna Lallas Haus vorbei, halte aber nicht an. Die alte Dame muss mittlerweile 90 sein, wer weiß, ob die mich noch erkennen würde – falls sie noch lebt. Hier war ich zuletzt 2016, als die Lichtmaschine der ZZR kaputt war und ich mit ihr die Straßen hoch und runter gewetzt bin, um sie irgendwie in Gang zu bekommen.
Kurz hinter Ferrada lotst Anna mich nach Norden, in die Berge. Hier ist jetzt super wenig Verkehr, nur wenige Familienkutschen schaukeln auf dem Weg zu einer Sonntagswanderung durch die Buttnik.
Die V-Strom kurvt Serpentinen hoch, quert kleine Pässe auf 1.000 Metern und schruppt wieder hinab in malerische, kleine Täler. Die Berglandschaft hier, an der Grenzen zwischen Ligurien und der Emilia-Romagna, ist wirklich einfach schön, und immer wieder bestaune ich die Täler mit den felsigen Flussläufen oder Berghänge, in deren dichten Urwald manchmal Pumpspeicherwerke oder Kapellen gebaut sind.
Unterwegs wird die Dichte der Motorradfahrern enorm hoch, und ich kann es verstehen – die Strecken hier sind ein Moppedtraum.
Nach rund 130 Kilometern geht es aus den Bergen heraus und in die Po-Ebene. Die ist langweilig, und ich suche und finde einen LÜDL mit einer Tankstelle nebendran. Futter für das Motorrad, und für mich.
Nachdem wir beide voll sind, geht es weiter Richtung Parma. Die weltberühmte Stadt kenne ich noch nicht. Ich sehe auf die Uhr und wäge ab – Parma besuchen oder lieber früher bei Giulietta sein? Ich entscheide mich für Letzteres, biege kurz vor der Stadt ab und fahre wieder zurück auf die Berge zu.
Dooferweise verfehle ich das Tal, das mich direkt zur Unterkunft gebracht hätte, um wenige Kilometer und fahre eine Parallelstraße. Na gut, nicht schlimm, muss ich halt irgendwann über die Berge und ins Nachbartal – denke ich, und stelle kurz darauf fest, dass das in dieser Region viel einfacher gesagt als getan ist.
Überall gibt es Straßensperrungen, und ich muss immer wieder Umleitungen folgen, die im Nichts enden. Einmal muss ich sogar umdrehen und 10 Kilometer zurück fahren. Anna gibt direkt auf und möchte bis ganz zurück nach Parma, aber so schnell kapituliere ich nicht und fahre einfach nach Kompass über Feldwege und winzige Sträßchen, vorbei an einzelnen Bauernhäuschen und verstreuten Weilern.
Die Region des “Appennino Tosco-Emiliano” ist sehr dünn besiedelt, sehr bergig und unglaublich schön – besonders heute. Es ist ein sonniger Tag, und obwohl wir Mitte Oktober haben, ist es heiß.
Mehr als einmal denke ich “Jetzt habe ich mich völlig verfranzt”, aber irgendwie geht es immer weiter, und nach einer letzten Schussfahrt einen Feldweg hinab stoße ich auf die SS63 – genau DIE habe ich gesucht!
Der Rest ist ein Kinderspiel, und eine halbe Stunde später bin ich dort, wo ich hinwollte. Kurz hinter einem winzigen und echt abgelegenen Bergdorf steuert die Barocca in eine Einfahrt, die versteckt in einer Hecke liegt. Das Motorrad rollt einen kleinen Berg hinab, bevor ich sie neben einer Blockhütte wende und abstelle.
Das ist meine Unterkunft heute. Eine Fisch-Hütte. Der Name ist Programm, denn hier werden seltene Fischarten gezüchtet. Mitten in den Bergen, auf 1.000 Metern Höhe – weil der Klimawandel, der hier schon lange bekannt ist und an dem schon vor 30 Jahren niemand gezweifelt hat, die Mittelmeer-Fische in den Flüssen der Ebene aussterben lässt.
Ich steige aus dem Sattel und stelle den Helm auf ein kleines Tischchen neben der Tür, hinter der mein Zimmer liegt, dann wandere ich an Zuchtbecken mit Babyfischen und Strömungsbecken mit Flusssimulationen und an einem künstlichen Weiher mit großen Fischen vorbei und einen Anstieg hinauf bis zu zwei kleinen Holzhütten.
Eine der Hütten ist zu einer Seite offen und bietet mehreren Tischen und einem kleinen Lädchen Platz, in der anderen ist eine Bar untergebracht, vor deren Außentresen Leute stehen und sich etwas zu Essen und zu Trinken holen.
“!!!”, höre ich meinen Vornamen, und im nächsten Moment stürmt eine blonde Frau hinter dem Tresen hervor und aus der Tür der Bar, fällt mir um den Hals und haucht mir ein Küsschen auf jede Wange.
Ich bin immer leicht überfordert bei diesen “Küsschen hier/Küsschen da”-Begrüßungen, weil ich mir NIE merken kann, auf welcher Seite man anfängt, und ich immer Angst habe, die Person vor Konfusion versehentlich auf den Mund zu küssen. Bei dieser Person nicht, aber das geht auch gerade so schnell, dass ich gar nicht dazu komme, mir über fehlplatzierte Küsse Gedanken zu machen.
Vor mir steht Giulietta, und sie strahlt.
Damit meine ich nicht nur das Strahlen ihrer grau-blauen Augen oder dieses Lächeln, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Nein, sie strahlt auch von Innen heraus, wie es nur ganz wenige Menschen tun, die wahre Schönheit in sich tragen. Dieses Strahlen wirkt sich um alles um sie herum aus. In Giuliettas Gegenwart wird alles besser, um sie herum alles heller, Menschen werden durch ihre bloße Anwesenheit freundlicher. Alles schon erlebt.
“Giulie!! Come si fa?”, rufe ich, “Ci conosciamo da sei anni, e ogni anno tu diventi più bella!” Wie machst Du das nur? Wir kennen uns jetzt seit sechs Jahren, und Du wirst von Jahr zu Jahr schöner!
Sie lacht und boxt mir auf die Schulter. Dabei meine ich das völlig ernst. Als ich Giulia das erste Mal begegnet bin, habe ich sie für Ende Zwanzig gehalten, und heute sieht sie aus wie Mitte Dreißig – dabei sind wir genau ein Jahrgang, wir sind beide Ende Vierzig.
Aber egal in welchem Alter – Vor mir steht die schönste Frau, die ich in Italien kenne. Sie sieht ein wenig aus wie Gillian Anderson. Also, nicht nur ein wenig. Giulie sieht sehr genau so aus:
“Komm, ich zeig Dir Dein Zimmer”, sagt Giulietta. Ich schaue zu den Gästen, die vor der Bar auf sie warten und sage “Nee, lass, ich kenne mich ja aus, reicht, wenn Du mir den Schlüssel gibst”. “Ach was!”, ruft sie, greift meine Hand und zieht mich davon. Ich werfe einen entschuldigenden Blick über die Schulter zu den wartenden Gästen, mache eine “Sorry, wer kann sich dagegen schon wehren”-Geste und ernte freundliches Lachen und verständnisvolles Nicken.
Nebeneinander marschieren wir den Weg hinab zurück zur Hütte, wo die V-Strom steht.
Giulietta bewegt sich schnell, mit den weit ausholenden Schritten von jemandem, der top fit und energiegeladen ist. Die Frau ist ein echtes Phänomen – Ich weiß von früheren Treffen, dass sie ein Energiebündel ist und zupackt, wann immer nötig. Das Leben in den Bergen und die Arbeit auf einer Fischfarm plus Gästebetrieb sind hart, und mir ist es unbegreiflich, wie man gleichzeitig von morgens bis abends arbeiten und trotzdem solch Eleganz und Grazie versprühen kann, wie Giulie es selbst jetzt tut, als sie in Jeans, T-Shirts und Arbeitsschuhen neben mir herläuft.
“Wo kommst Du jetzt her?”, fragt sie. “Die letzten zwei Wochen war ich auf Sardinien”, antworte ich, und sie verdreht theatralisch die Augen und seufzt “Aaaach, Urlaub! Ich bin neidisch!”
“Und wie geht´s Dir? Alles Okay?”, will ich wissen. “Ich sag´s Dir, ich bin müde”, sagt sie. “War der Sommer so anstrengend? Harte Saison? Viele Gäste?”, frage ich, bekomme aber nur noch ein Brummeln und vielsagende und gleichzeitig nicht deutbare Blicke als Antwort.
Als wir an der Hütte ankommen, ruft sie “und HIIIIER sind wir! Dein Zimmer hat auf Dich gewartet!” und stößt die Tür auf. Im Raum steht ein großes Bett aus Naturholz, und alles ist urgemütlich mit Holz verkleidet. Über dem Bett hängt das handgemalte Gemälde einer Forelle. “Wir sehen uns später”, ruft Giulietta und joggt den Berg wieder hinauf, zurück zu den wartenden Gästen.
Ich trage meine Sachen in die Hütte. Das ist kein weiter Weg, das Motorrad steht ja unmittelbar vor der Zimmertür.
Eine heiße Dusche später schlendere ich den Berg wieder hinauf und zur Bar, in der Hoffnung, noch eine Kleinigkeit zum Essen zu bekommen.
“Was schwebt Dir denn vor?”, fragt Giulietta. “Hmm… Fischburger?”, frage ich, weil ich mich daran erinnere, dass der beim letzten Mal echt gut war. Giulietta überschüttet mich mit einem Schwall Schnellfeueritalienisch, den ich nicht verstehe. Kapitulierend hebe ich die Hände. “Giulie! Langsamer, bitte! Ich bin nicht so schnell!”.
Sie lacht, greift eine meiner erhobenen Hände und zieht mich zu einer großen Speisekarte, die an der Wand neben dem Bartresen hängt. “Kein Fischburger, aber das hier”, sagt sie. In aller Ruhe lese ich, was die Küche heute noch hergibt. “Hmmmm… Salami-Panino?”, sage ich nach einigem Überlegen. Giulietta nickt, lässt meine Hand los und verschwindet.
Ich suche mir einen Platz in dem kleinen Gästeraum der Bar, und wenig später kommt Giulietta und stellt einen Teller auf den Tisch und dazu ein Ichnusa, DAS Bier Sardiniens. “Brauchst Du Dich nicht umgewöhnen”, sagt sie und lächelt.
Das Panino ist das beste, das ich in meinem Leben gegessen habe. Giulies Mutter schmeißt hier die Küche, und ich habe keine Ahnung, wie die Frau das anstellt, aber sie verwandelt selbst einfachste Dinge wie ein Brötchen mit Wurst in einen lukullischen Genuss.
Zum Nachtisch gibt es noch ein Eis, das ebenfalls Giulies Mama gemacht hat. Die ist nämlich auch eine meisterhafte Patissière, steht den ganzen Tag in der Küche und backt Kekse und Kuchen und hat sogar die Eiswaffeln selbst gebacken. Meine Güte, ist das lecker.
Langsam geht die Sonne hinter den Bergen unter. Die letzten Tagesgäste haben sich verabschiedet, Giulietta und ich sind allein in der kleinen Bar. “Du hast eine Supermama”, sage ich, als ich mit dem glücklichen Grinsen eines kleinen Schuljungen das Eis löffele. Giulietta strahlt. “Das stimmt, meine Mama ist die beste! Und, was hast Du heute noch so vor?”.
Ich zucke mit den Schultern. Wir sind hier mitten in den Bergen, hier gibt es nicht viel, was man abends noch machen könnte. “Früh ins Bett gehen, vermutlich”, sage ich und nicke in Richtung der Hütte. Giulie blickt auf die Uhr, trommelt mit den Handflächen auf die Tischplatte und lächelt. “Ich komme mit. Für heute ist hier Feierabend”.
Später hat sich die Nacht über die Landschaft gesenkt wie eine Decke aus schwarzem Samt, und mir geht es einfach gut.
Ich bin glücklich.
Glücklich, hier sein zu dürfen. Giulietta hat hier wirklich einen speziellen Ort geschaffen, und ich kann es nicht fassen, dass der Zufall oder das Schicksal mich und diese besonderen Menschen hier, in dieser völlig abgelegenen Gegend, zusammengeführt hat.
Ja, ich bin glücklich, und dankbar.
Ich gehe noch einmal vor die Tür der Hütte, wo die V-Strom steht, atme die kühle Nachtluft ein und blicke in den Sternenhimmel.
Tour des Tages: Von Genua nach Ferrada, dann durch die Berge bis Parma, dann wieder zurück. 316 kurvenreiche Kilometer.
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…….”Und, was hast Du heute noch so vor?“.
Ich zucke mit den Schultern. Wir sind hier mitten in den Bergen, hier gibt es nicht viel, was man abends noch machen könnte. „Früh ins Bett gehen, vermutlich“, sage ich und deute in Richtung der Hütte. Giulie blickt auf die Uhr, dann trommelt sie mit den Handflächen auf die Tischplatte und lächelt. „Ich komme mit. Für heute ist hier Feierabend“. “…….
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