Reisetagebuch (7): Internationale Beziehung
Motorradherbst mit der Barocca. Heute mit einer Wirtschaftswunderstory, einer emotionalen Achterbahnfahrt und Postkartenidylle.
Montag, 09. Oktober 2023
Mitten in den Bergen in einer muckeligen Holzhütte einem warmen Bett aufwachen.
Noch ein wenig weiterdösen.
Als es hell wird vor die Blockhütte treten und einen Spaziergang durch den Sonnenaufgang machen.
Meine Güte, ist das schön.
Mir geht es gut.
Giulietta ist schon früh aufgestanden, bereits um kurz vor Sechs meine ich ihren Jeep Renegade gehört zu haben. Das “kleine Auto” – zumindest wenn man als “normales” Auto einen hausgroßen Dodge Ram fährt.
Jetzt, um kurz nach sieben, ist es nicht mal kühl. Fünfzehn Grad sind es noch, obwohl es schon Oktober ist und wir hier auf 1.000 Metern sind. Ich strolche um die Blockhütte herum und wandere ein Stück den Berg hinauf freue mich daran, wie das Sonnenlicht durch die Bäume schimmert. Was für ein wunderschöner Morgen!
Die Zimmer der Hütte haben alle einen Ausgang nach draußen und einen nach innen, zu einem großen, zentralen Raum mit Tischen und einer Küche. In diesem Gemeinschaftsraum werkelt heute Morgen Rosanna herum, die Gulietta mit dem Gastbetrieb hilft. Die Hälfte des Raumes wird von einer Küche eingenommen, in der ab elf Uhr Giulies Mama steht und den ganzen Tag und kocht oder Eis herstellt oder backt.
Oder sie backt.
Oder sie backt noch ein wenig mehr.
Die Ergebnisse türmen sich überall im Raum: Gläser mit Keksen, Platten mit Kuchen, Bleche mit Konfekt und Pizza, Körbchen mit Croissants und Schalen mit Plätzchen türmen sich auf dem Tresen, auf Beistelltischen und jeder verfügbaren Ablage.
Es ist so unglaublich viel Frühstückskram, dass ich staunend davor stehe und fast vergesse, Rosanna guten Morgen zu sagen, die ob meiner Verblüffung ein Grinsen nicht verbergen kann.
Um mich nicht direkt ins Zuckerkoma zu befördern, beginne ich vorsichtig an einem Keks herumzunagen, während Rosanna mir einen Espresso Doppio zubereitet.
Ich bin, wie wir gestern Abend schon festgestellt haben, der einzige Übernachtungsgast, und Rosanna ist langweilig. Sie beginnt zu plaudern. Übers Wetter und den Herbst und Gott und die Welt. Ich kenne das schon und weiß: Wenn man nicht aufpasst und rechtzeitig dazwischengeht, übernimmt Rosanna gleich beide Seiten des Gesprächs, und man kommt gar nicht mehr zu Wort.
Dann fällt mir ein, dass sie mir eigentlich auch etwas Interessantes erzählen könnte, und es superviel gibt, was ich über diesen besonderen Ort hier gar nicht weiß. Wie kommt man eigentlich darauf, hier, in den Bergen, eine Fischfarm zu bauen?
Das der Klimawandel dafür sorgt, dass hier oben die Verhältnisse zur Zucht von Mittelmeerfischen inzwischen besser ist als am Mittelmeer, habe ich verstanden, aber man geht ja nicht durch die Berge, guckt sich eine Wiese an und sagt: Hier will ich jetzt einen Teich bauen. Man braucht ja auch Land und finanzielle Mittel. Also, wieso wurde hier gebaut?
Rosanna grient und beginnt zu erzählen, und das sehr schnell. Was ich verstehe ist: “Na, weil das alles hier schon Giulies Schwiegervater gehörte. Der war ein Freund von Fidel Castro und hat die Region hier geliebt und viel Land sehr billig gekauft, weil hier halt niemand hinwollte. Dann hat er Tourismus erfunden und alle so: Hu!” sagt sie und wirft die Arme in die Luft.
“Hä?”, mache ich und meine das auch so.
Rosanna holt tief Luft und beginnt dann die ganze Geschichte zu erzählen. So schnell wie Rosanna spricht, muss ich öfter nachfragen und mit eigenen Worten wiederholen, was ich gehört habe, um sicher zu sein, dass ich es auch richtig verstanden habe. Weil das eine typische Wirtschaftswundergeschichte ist, die heute so nicht passieren kann, schreibe ich sie hier auf.
Girolamos Geschichte
Girolamo, der Schwiegervater, war hier in den Bergen im zweiten Weltkrieg ein Widerstandskämpfer. Nach Kriegsende wurde er als Held geehrt und begann mit Futtermitteln zu handeln. Das lief so gut, dass er mit einem Freund eine Firma dafür gründete. Bald dehnte sich das Geschäft auf Zubehör für die Landwirtschaft aus, und kurz darauf verkaufte man komplette Maschinenausstattungen für Bauernhöfe und sogar schlüsselfertige Farmen, inklusive Tierbestand.
Girolamo reiste häufig geschäftlich nach Osteuropa, was damals ungewöhnlich war, weil das hinter dem eisernen Vorhang lag. Geholfen hat ihm wohl, dass er trotz der erfolgreichen Unternehmungen auch Mitglied der sozialistischen Partei war, so richtig Don Camillo & Peppone-Style. Durch diese Reisen kamen Kontakte ins sozialistische Kuba zustande, und irgendwann reiste er dort hin, und es kamen Geschäfte zustande. Girolamo lieferte von nun an Agraranlagen und Bauernhöfe nach Kuba.
In den Fünfzigern setzte sich diese Wirtschaftswundergeschichte fort, und Girolamos Unternehmen wuchs um eine Textilfabrik, die den Frauen in der Region – auch den Alleinstehenden!- Arbeit und faire Einkommen garantierte. Keine Selbstverständlichkeit in dieser Zeit und vor allem in dieser Region, wo Frauen sich gefälligst um die Familie zu kümmern hatten.
Weil auch die Textilfabrik sehr profitabel war, kam eine Immobiliensparte hinzu, und Girolamo begann Land zu kaufen, und zwar dort, wo er groß geworden war – eben den Bergen hier ringsum, in dieser abgelegenen Region am Rand der Emilia-Romagna. In dem Bestreben, die Gegend wirtschaftlich zu beleben, begann er Skipisten und Hotels ins Nichts zu bauen und dann dieses Nichts als Wintersportgebiet zu vermarkten. Das war mühsam und funktionierte erst nur so mittel, aber es funktionierte – gerade im vergangenen Jahr erst feierte das Dorf, das sich Girolamo für seine Skipisten ausgesucht hatte, sein siebzigstes Jubiläum als Skiort – Als Skiort, der fast ausschließlich italienische Besucher hat, schlicht, weil ihn ausländische Touristen nicht kennen.
Das Geschäft mit der Agrarausstattung lief weiterhin super, und Girolamo reiste mindestens einmal pro Jahr nach Kuba, wo er mittlerweile einen persönlichen Freund in Fidel Castro gefunden hatte. Die beiden teilten eine Leidenschaft für´s Angeln, und es gibt eine Anekdote, dass Girolamo nach einem anstrengenden Angelausflug auf einer Luftmatratze in einer Badebucht vor Havanna einschlief und auf´s Meer getrieben wurde, woraufhin Castro die kubanische Marine einsetzte, um den Vermissten zu finden.
Die Siebziger und Achtziger stellten die internationale Beziehung mit Kuba auf eine harte Probe. Der Staat war nicht mehr solvent, hatte kaum noch Devisen und zahlte daher manchmal einfach in Naturalien. Noch heute erzählt man sich, das im nahegelegenen La Spezia ein Schiff mit einer besonderen Zucht kubanischer Rinder ankam, was die örtlichen Zerlegebetriebe vor eine Herausforderung stellte, weil sie sich angeblich nicht sicher waren, ob es sich bei den Tieren um Rinder oder Kamele handelte.
Meistens schickte Castro aber kubanisches Kunsthandwerk, häufig wunderschön gestaltete und wertvolle Möbel. “Und das ist der Grund”, sagt Rosanna, “Warum das Skihotel im nächsten Dorf eine Innenausstattung aus edelsten kubanischen Möbeln hat, echtes Tropenholz und Kunsthandwerk.” Aha.
Girolamo starb Ende der Achtziger, aber Castro schickte noch jahrelang Weihnachtsgeschenke an die Hinterbliebenen. Girolamos Sohn hatte die Begeisterung seines Vaters für das Angeln und die Fischzucht geerbt. Er machte sein Hobby zum Beruf und wurde ein auf Fische spezialisierter Tierarzt, der selbst forscht. Heute ist er ein bekannter Ichthyologe, ein Spezialist für mediterrane Süßwasserfische.
Er setze dann auf einem Grundstück der Familie, hier in den Bergen, die Idee seines Vaters um, seltene Fische zu züchten und ihre Arten zu erhalten. Später heiratete er Giulietta, und die beiden bauten erst die Fischfarm auf, dann den Betrieb für die Touristen.
“So kam das, und deswegen sind wir heute hier”, schließt Rosanna. Eine faszinierende Geschichte, wie ich finde.
Draußen fährt ein Jeep vor, und mir wird das Herz schwer, als mir einfällt, dass ich mich verabschieden muss.
Nachdem ich meine Sachen gepackt habe, strolche ich über das Gelände der Fischfarm. Ich finde Giulietta bei der kleinen Bar am Eingang des Besucherareals, wo sie sich mit den ersten Café-Gästen des Tages unterhält, einer Gruppe älterer Frauen aus dem nahegelegenem Dorf, alle mit Nordic Walking Stöcken unterwegs.
Als sie mich den Berg hochkommen sieht, unterbricht sie das Gespräch, kommt mir entgegen und ruft fragend “Partenza?”.
Ich mache mit weit ausgestreckten Armen eine angedeutete Verbeugung und eine “Geht leider nicht anders”-Geste und dazu eine “Ich will hier ja eigentlich auch nicht weg”-Miene.
Giulie verzieht das Gesicht und wirft mir einen tadelnden Blick zu. Aber dann lächelt sie und nimmt mich in den Arm, vielleicht einen Wimpernschlag länger als für eine Verabschiedung nötig. Als sie sich von mir löst, hält sie die Hände für einen Moment um meinen Nacken geschlungen und blickt mir direkt in die Augen. “Bis zum nächsten Mal. Und es wäre schön, wenn Du nicht immer nur für eine Nacht vorbeikommen würdest”, sagt sie und haucht mir zum Abschied ganz sanft einen Kuss auf die Wange.
Dann dreht sie sich um und eilt zu ihren Gästen zurück. Ich nicke und gehe in die andere Richtung, zum Motorrad.
Die V-Strom fliegt über den Asphalt, quert Brücken über Schluchten, in denen wilde Bergflüsse sprudeln, und schraubt sich dann eine Passstraße hinauf.
Der Grund dafür, dass ich los musste, ist ein ganz simpler: Der Besuch bei Giulietta war quasi spontan, aber für die nächsten Tage habe ich schon ein Zimmer in der Toskana angemietet.
Ich weiß allerdings nicht, was mich da erwartet – ich vermute, ein karges Zimmer und eine durchgelegene Matratze in einem kühlen Steinhaus. Die Gastgeber hatten sich im Vorfeld gemeldet und in recht rüdem Ton darauf hingewiesen, dass ich pünktlich zu sein hätte und daran denken solle, dass ich bei ihnen keinerlei Mahlzeiten zu erwarten habe. Das macht keinen guten Eindruck.
Karge Steinhütte mit unfreundlichen Gastgebern? Oder doch lieber hier bleiben, an diesem echt besonderen und schönen Ort? Mit jedem Kilometer, den sich das Motorrad von der Hütte entfernt, wird der Drang stärker, sofort umzukehren. In einer Haltebucht am Rand der Passstraße stoppe ich die Barocca, stelle den Motor aus und ziehe das Handy aus der Jackentasche, um zu checken, ob in der Hütte heute noch ein Zimmer frei ist und ob Umkehren eine echte Option wäre. Dann halte ich inne.
Was mache ich hier eigentlich?
Liegt da echt ein Segen drauf?
Für einen Moment bin ich unentschlossen.
Zusammengesunken sitze ich im Sattel der V-Strom und blicke auf die Berggipfel ringsum, ohne wirklich etwas wahrzunehmen.
Dann stecke ich das Telefon weg, starte den Motor und fahre weiter.
….Never wanna hear you say goodbye…
Die Bergstraßen der apuanischen Alpen sind eine Schau. Eben war ich noch in der Emilia Romagna, aber einen Pass weiter bin ich schon in der Toskana, und drei Dörfer später in Ligurien. Die drei Provinzen überlappen sich in dieser Gegend jeweils mit schmalen Streifen.
Ich kenne die Strecke durch die Berge schon und mag die sehr gerne. Man ist hier meist allein, die Straße ist schön und die Aussicht häufig spektakulär, auch wenn ich die heute kaum wahrnehme.
Terra Dementia sind dagegen die vielen Orte und Siedlungen kurz vor La Spezia. Die Täler hinter der Hafenstadt sind recht dicht bebaut, und ein Ort sieht hier aus wie der andere. In Ceparana donnere ich mit 55 Stundenkilometern in eine Videokontrolle der Carabinieri und merke erst anschließend, dass hier eigentlich Tempo 40 ist und sogar die Durchfahrt verboten war. Man Man Man, gestern in Genua gelasert worden und heute gefilmt, das wird im Nachgang ein teurer Urlaub. Ich ärgere mich über mich selbst und über die Cops und alle anderen Verkehrsteilnehmer sowieso.
Mit zunehmend schlechter Laune geht es durch die Berge und auf die Küste zu. Was ist denn hier los heute? Die Autos schleichen allesamt vor sich hin, jeder elende Radfahrer dödelt in Schlangenlinien über die Fahrbahn, die Sonne blendet, der Asphalt ist voller Schlaglöcher und diese Bäume da am Straßenrand, DIE NERVEN AUCH!! GRRRRR.
Die Straße wird immer kurviger und steiler, bis sie schließlich über einen Bergkamm hinab nach Levanto führt. Als die V-Strom gerade ohne Rücksicht auf Verluste den Berg hinabdonnert, vibriert das Telefon in der Jackentasche.
An einer Stelle, wo ich ohnehin die Aussicht genießen will, halte ich an und gucke, wer da was will. Es ist das Blog, das geklingelt hat. Lukra weist darauf hin, dass Suzuki gerade die Straßenversion der V-Strom 800 vorgestellt hat.
Huch! Wie cool ist das denn?? Eine V-Strom 800 ohne Mumpitz? Mit anderen Worten: Suzuki hat endlich, endlich exakt mein Wunschmotorrad gebaut!? Und die soll schon ab November verfügbar sein? Na, das glaube ich im Leben nicht, aber trotzdem werde ich mir das mal sehr genau ansehen. Die 800er könnte als Nachfolgerin der 650er interessant sein. Uh, hoffentlich habe ich das nicht zu laut gedacht – nicht, dass die Barocca das noch mitbekommt.
Ich stecke das Telefon weg und fahre weiter. Meine Gedanken haben jetzt etwas Neues, mit dem sie sich beschäftigen können, das hilft ein wenig.
Der kleine Ort ist ein Einstieg in die Erkundung der Cinque Terre, der fünf winzigen und farbenfrohen Dörfer, die hier in den Felsen der Küste kleben und die auf keiner Postkarte aus Italien fehlen dürfen. Levanto ist aber auch der Ort, wo es das beste Fruchteis der Welt gibt.
Beziehungsweise es gab dort das beste Fruchteis, denn nachdem ich die V-Strom auf der Strandpromenade geparkt und aus der Eisdiele dort ein Fruchteis geholt habe, muss ich enttäuscht feststellen, dass es nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Ich war früher regelmäßig jedes Jahr hier, zuletzt vor der Pandemie, weil das Eis jeden Weg der Welt wert war.
Heute schmeckt es zwar nicht so schlecht wie der lieblose Kram, der Touristen z.B. in Florenz serviert wird, aber es ist leider auch meilenweit entfernt von seiner früheren Klasse. Ach, das Eis von Giulies Mama ist definitiv besser.
“Wieder ein Ort, den ich nicht mehr zu besuchen brauche”, denke ich, als ich den leeren Eisbecher in einen Mülleimer werfe.
Als kleine Rache will mich Levanto nicht wieder weglassen. Die normale Ausfahrt aus dem Ort ist gesperrt, die Umleitung führt über eine extrem schmale Gasse einen sehr steilen Berg hinauf und durch eine Glasfaserbaustelle, bis sie in einer Sackgasse über dem Meer endet. Hier geht es nicht mehr weiter.
Ich muss umkehren und mich nochmal durch die Baustelle und an einem entgegenkommenden Lieferwagen vorbeiquetschen. Dabei muss ich den Drang unterdrücken, laut zu schreien – dieses Feststecken in dieser engen Gasse an einem Berg macht mich ernsthaft wütend, und als ich da raus bin gebe ich Gas. Scheiß´ auf Geschwindigkeitsbegrenzungen, ich bin sauer und will hier weg!
Ich jage die V-Strom im Tiefflug über eine Bergstraße oberhalb von Monterosso al Mare, dem ersten der Cinque-Terre-Dörfer, zurück nach La Spezia. Die Route gibt es laut Anna gar nicht, und das Navi fordert lautstark, dass wir sofort umkehren. Wütend schalte ich die Audioverbindung ab – ich bin sicher, dass ich mich hier besser auskenne als das renitente Garmin. Tatsächlich kommen wir kurz darauf wieder bei Ceparana aus den Bergen raus. Dieses Mal ohne gefilmt zu werden.
Um schnell Strecke zu machen, geht es auf der Autobahn nach Süden, an Carrara vorbei, und kurz vor Livorno ins Hinterland der Toskana.
Das ist hier, auf der Höhe von Livorno und um Volterra herum, besonders hübsch. Es gibt wenige Orte, auf denen die Toskana so aussieht wie auf den Postkarten. Bauernhäuser mit Zypressengesäumten Auffahrten auf sanft rollenden Hügeln gibt es eigentlich nur an zwei Stellen in der ganzen, großen Region: San Quirico d´Orcia, südlich von Siena, und hier, bei Volterra. Da Volterra auf einem Berg liegt, kann man aus 500 Metern Höhe weit über das umliegende Land schauen.
Von dort finde ich die Strecke quasi mit geschlossenen Augen. Über einen Bergrücken geht es durch Castel San Gimignano (nicht zu verwechseln mit der überlaufenen Touristenfalle San Gimignano), um Colle di Val d´Elsa herum, dann auf der Schnellstraße an Monteriggioni und Siena vorbei und über Taverna d´Arbia und Asciano ab in die Crete Senese.
Die Crete ist eine Aneinanderreihung von Feldern auf Hügeln zwischen Bergkämmen. Im Frühjahr muss das zauberhaft aussehen, ab Juni ist alles golden und recht trocken, aber im Herbst… nun, im Herbst ist die Toskana nicht schön. Das besondere an der Toskana sind Luce & Colori, Licht und Farben. Das Licht ist im Herbst oft sehr gedämpft, weil es viel Nebel und bedeckten Himmel gibt. Vor allen Dingen aber: Das Land verliert seine Farben!
Es ist, als ob Farben wirklich nur dem Frühjahr und dem Sommer vorbehalten sind, im Herbst ist die Toskana grau. Der Grund dafür ist die Erde. Außer nördlich von Siena, wo sie Ockerfarben ist, ist das Erdreich grau. Wenn alle Felder umgepflügt sind, hat die Landschaft fast alle Farben verloren und sieht ungastlich und irgendwie deprimierend aus.
Was nicht heißt, das die Landschaft nicht schön ist – die Sanftheit der Hügel, gerundet von Jahrhunderten der landwirtschaftlichen Nutzung und begrenzt durch die hohen Bergketten ringsum, verliert auch im Herbst und Winter nichts von ihrer Faszination.
Um den Ort San Quirico d´Orcia gibt es zwei Bereiche, aus denen fast alle diese Postkartenmotive stammen, die man unweigerlich vor Augen hat, wenn man an die Toskana denkt. Von Bauernhäusern gekrönte Hügel mit zypressengesäumten Auffahrten? Sonnenblumenfelder mit romantischen Wegen hindurch? Das liegt fast alles hier, ziemlich komprimiert auf einem recht kleinen Gebiet. Und obwohl ich schon so häufig in der Toskana war, habe ich das hier noch nicht wirklich erkundet.
Gut, heute werde ich da auch nicht zu kommen. Ich muss ein wenig Gas geben, sonst gibt es Mecker von den Gastgebern.
Bagno Vinoni ist ein Dorf mit heißen Quellen, um die leider Luxusressorts entstanden sind. Um hier, in der Postkartentoskana übernachten zu können, in so einem Ressort oder in einem der luxussanierten Bauernhäuser mit den Zypressenauffahrten zu nächtigen, muss man hier in 2023 zwischen 200 und 500 Euro auf den Tisch legen. Ich werde heute 41,50 Euro zahlen und bin echt gespannt, welche Bruchbude ich dafür beziehen werde. Sehnsüchtig denke ich an die Hütte in den Bergen zurück.
Hinter Bagno Vignoni geht es eine kleine Landstraße hinauf. Die Gegend ist, trotzdem sie bei Touristen so beliebt ist, dünn besiedelt. Dörfer und Weiler sind uralt und winzig, alleinstehende Bauernhäuser eher die Regel als die Ausnahme.
So, wo ist nun meine Unterkunft? Ah, und da ist es – ein Bauernhaus. Wie alle hier aus Naturstein, aber das hier ist nicht als Gebäude zu erkenne. Viel mehr ist es eine Ansammlung zusammenhängender, kleiner Anbauten. Sieht so aus, als hätte man immer, wenn man noch ein Zimmer brauchte, einen weiteren Anbau gemacht – und jedes mal in einer anderen Höhe und einer anderen Himmelsrichtung. Das fängt ja gut an.
Ich stelle die V-Strom vor dem Haus ab. Ein Hofhund dreht darüber beinahe durch, aber der ist hinter einem Zaun und hält mich nicht davon ab zu klingeln.
Nach einem Moment geht über mir, an einem der Anbauten, eine Tür auf, und eine kleine, untersetzte Frau in den Sechzigern mit Arbeitsschürze kommt mit Trippelschritten an den Absatz der Treppe. “Ja?”, fragt sie kurz angebunden und guckt misstrauisch herab.
“Guten Abend, mein Name ist Sil Encer. Bin ich hier richtig im Agriturismo San Stefano?”, parliere ich in meinem höflichsten Italienisch drauf los. Die Frau nickt, sagt aber nichts. Ich bleibe weiterhin supernett, auch wenn mich diese Stieseligkeit nervt. “Angenehm ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe für heute Nacht ein Zimmer reserviert.” Keine Reaktion. “Und sie sind?”, frage ich weiter, nur um eine Antwort zu bekommen. “Carla”, presst die Frau hervor. Worte sind offenbar nicht ihre Freunde.
“Kommen Sie mit”, sagt Carla und trippelt die Treppe hinunter und an mir vorbei und um das Haus herum. An der Seite befindet sich eine steile Auffahrt, die nur noch aus wenigen Asphaltbrocken besteht, zwischen die jemand eine Fuhre Sand gekippt hat.
Sie führt mich vorbei an landwirtschaftlichen Gerät, das an einer Böschung liegt, dann geht es unter einem verwilderten Baum hindurch zu einem Anbau, der an einem Anbau unter einem Anbau des Haupthauses liegt. Vielleicht ein alter Stall oder so. Sieht aber von Außen ganz nett aus.
Carla öffnet eine Tür und deutet mir einzutreten. Ich tue, wie mir geheißen und… bin baff. Ich hatte nichts erwartet und mit einem kleinen, steinernen Schlafzimmer mit durchgelegener Matratze gerechnet, aber das hier – das ist eine ganze Wohnung!
Der steinerne Stall hat ein Holzdach mit offen liegenden Balken. Alte Möbel stehen an den Wänden, aber die Technik ist topmodern – neben dem Badezimmer hängt ein Ubiquiti-Mesh-Router. “Woah, alles für mich allein?”, sage ich, immer noch einigermaßen sprachlos.
Carla wringt die Hände. “Gibt halt kein Frühstück, weil sie hier eine komplette Küche haben. Das muss so OK sein.” “Ist es”, sage ich, “Das ist super! Wirklich, ich liebe es!”. Jetzt lächelt sie zum ersten Mal.
Ich hole die V-Strom über die Sandeinfahrt, dann richte ich mich ein.
Als ich gerade alles verstaut habe, und noch einmal an der offenen Wohnungstür vorbeilaufe, sehe ich Carla davorstehen. Ohne Aufforderung und ohne das ich sie bemerke will sie wohl nicht reinkommen oder sich bemerkbar machen.
“Hier, die Rechnung, und ihr Ausweis. Schönen Abend”, sagt sie und trippelt davon. Irgendwie mag ich die Frau. Die ist halt im Herzen Bäuerin, und keine Hotelfachfrau. Ich glaube, wenn ich hier noch ein paar Mal vorbei käme, würde wir Freunde für´s Leben werden.
Ich kenne mich in der Region aus und weiß, dass in Buonconvento, rund 30 Kilometer entfernt, ein guter Supermarkt ist. Dort fahre ich hin und bin über die Preise einigermaßen erstaunt. Die Inflation hat Italien schlimm getroffen, und der Markt hier bietet vor allem Erzeugnisse aus der Region an – das ist alles teuer, aber dafür auch von erstklassiger Qualität.
Nunja, FAST alles:
Wieder an meinem Appartement stelle ich zwei Dinge fest. Erstens: Hier ist es geradezu wunderbar einsam. Ab und an hört man ein Auto oder ein Motorrad die Bergstraße hinaufknattern, aber eigentlich ist hier ringsherum – nichts. Die Wohnung blickt direkt hinaus auf einen Olivenhain, über dem sich in einigen Kilometern Entfernung die Burg von Castiglione d´Orcia erhebt, und im Sonnenuntergang sieht das gerade alles aus wie ein Gemälde.
Zweite Feststellung: Ich habe gar keinen Appetit. Ich packe lediglich ein wenig Salami und Käse auf einen Teller und setze mich mit einem Glas Wein an den Tisch vor dem Haus.
Lange bleibe ich an diesem Abend noch vor dem Haus sitzen. Die Sonne geht unter, der Mond zieht auf und ich sitze da, starre in den Sternenhimmel und seufze ab und an laut und wehleidig wehmütig.
Mein Herz ist voller Vermissen, und es fühlt sich nicht so an, als ob das schnell wieder verschwinden würde.
Tour des Tages: Von den Apuanischen Alpen eine Schleife über Levanto, dann Autobahn bis Pisa, von dort über Volterra nach Siena und bis hinter Bagno Vignoni. Rund 450 Kilometer in ungefähr Sieben Stunden.
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