Gestrandet auf der mentalen Couch

Gestrandet auf der mentalen Couch

Wenn ich in Siena bin, habe ich dort mein eigenes Appartement bei einer sehr netten Familie. Schon bei meinem ersten Besuch, vor sieben Jahren, haben sie mich spontan zu einer Familienfeier eingeladen, und seitdem ist der Kontakt nie abgerissen.

Die Dame des Hauses schrieb gerade auf Facebook eine bemerkenswerte Reflexion ihrer Erfahrungen mit Gästen in den letzten Jahren. Die möchte ich gerne dokumentieren, bevor sie im Strom der Timelines untergeht. Hier eine gekürzte Fassung, übersetzt aus dem Italienischen:

Nach fast 10 Jahren mit den unterschiedlichsten Arten von Gästen in unserem Haus bin ich, nicht ohne einen Hauch von Bitterkeit, zu der Erkenntnis gekommen: Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen TOURISTEN und REISENDEN.

Leider sind die Ersteren in der Mehrheit. Den Touristen ist der Sinn des Reisens abhanden gekommen. Die Sehnsucht nach Entdeckungen, nach Neuem, danach, Hinauszugehen in die Welt, sich an die Fremde anzupassen und sich vielleicht anfangs unwohl und fehl am Platz zu fühlen.

Das sind die Leute, die nur interessiert wie schnell das WLAN ist, wie smart der Fernseher, ob die Klimaanlage sie in die Eiszeit pusten kann und ob es Essenslieferdienste vor Ort gibt. Sie bleiben mental auf ihrer Couch.

Das sind dieselben, die behaupten, sie würden sich nach einem Eintauchen in die Toskana sehnen – aber ohne dabei von ihren Gewohnheiten und ihren Routinen abzuweichen. An einem halben Tag besichtigen sie ALLE Kunststädte der Region, kommen zurück und verbringen den Rest der Zeit damit, Selfies mit Rotweingläsern in der Hand zu machen – mit Rotweinglas in der Hand am Pool, mit Rotweinglas in der Hand mitten im Obstgarten, Rotweinglas in der einen und ein Stück Pizza in der anderen Hand… Vielleicht umklammern einige von ihnen das Rotweinglas sogar noch im Schlaf…

Touristen sind der Mittelpunkt ihrer eigenen Welt, das Drumherum ist ihnen nicht wichtig. Sie könnten statt in der Toskana genauso in Texas oder Kuala Lumpur sein… Was zählt, ist der Selfie mit dem Rotweinglas. Touristen sind kaum daran interessiert mit den Menschen zu interagieren, mit dem Ladenbesitzer im nächsten Dorf, mit dem Einheimischen neben ihnen an der Bar. Sie nehmen das Leben um sich herum nicht wahr. Hauptsache, alles ist schick, schnell und für ihre Selfies gut.

Und weiter:

Und dann sind da noch die Reisenden: Die Schönheit der Menschheit!

Sie sind durstig nach Landschaften und hungrig nach Geschichten und Erlebnissen. Sie sind diejenigen, die keine Zeit für Fernsehen oder Computer haben. Ihre Tage beginnen früh, weil sie ihre Augen mit der unendlichen Schönheit füllen müssen, die unser Land zu bieten hat. Sie sind bereit für das Unerwartete, das Ungeplante, das plötzliche Gewitter, das Dorffest, das sie in seinen Bann zieht. Sie reisen mit leichtem Gepäck, in jeder Hinsicht, und nehmen mit, was auch immer jeder neue Tag ihnen bietet.

Beindruckt hat mich eine fast 80jährige Dame. Sie reiste allein mit ihrem Auto aus Frankreich an und hatte einen Angriffsplan zur Eroberung der Toskana im Gepäck, der eines Feldherrn würdig gewesen wäre, und den sie mit grimmiger Entschlossenheit verfolgte.

Eines Abends erzählte sie mir, das ihre Kinder ihr ein Netflix-Abo geschenkt hätten. Sie meinte dazu nur: “Fernsehen kann ich immer noch, wenn mich meine Füße nicht mehr tragen. Bis dahin führt das Leben die besten Filme auf, hier draußen, sogar mit den überraschendsten Drehbüchern und der besten Besetzung.”

Halten wir uns also immer vor Augen, dass wir REISENDE sein können – Das Leben sorgt ohnehin dafür, das wir irgendwann als TOURISTEN auf unserer eigenen Couch stranden.

Gute Reise Euch allen.

4 Gedanken zu „Gestrandet auf der mentalen Couch

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