Reisetagebuch: Kein Reisetagebuch

Reisetagebuch: Kein Reisetagebuch

Freitag, 12. Juli 2024
“Stoooooooop! Frana!”, Erdrutsch, ruft der Polizist und winkt mich von der Ausfahrt des Kreisels weg. Ich kann´s echt nicht glauben, dass ich jetzt wirklich abdrehen soll. Über 700 Kilometern bin ich jetzt schon gefahren, und jetzt, hier, zweieinhalb Kilometer vom Ziel entfernt, geht es nicht weiter. “Einen Schritt vor dem Ziel ist genau der Moment, in dem man den Boden unter den Füßen verliert”, zitiert der Popkulturzausel, der mietfrei in meinem Hinterkopf wohnt, den bekannten Archäologen Henry Jones, Jr.

Ich ziehe die V-Strom wieder in den Kreisverkehr und fahre in eine andere Richtung aus, dann lenke ich das Motorrad an die Straßenseite und tippe auf Annas Bildschirm herum. Es steht noch ein wenig Wasser auf dem Display, der letzte Regenschauer ist nicht lange her. “Route ändern. Umleitung. Nächste zwei Kilometern vermeiden”, gebe ich ein und zu meiner Erleichterung findet das Garmin Zumo einen anderen Weg.  Ich starte den Motor und folge den Anweisungen, die es mir ins Ohr quatscht.

Es geht einen Berg hinauf. Die Straße führt im Verlauf wohl zu einem Pass und ich hoffe, dass die Umleitungsstrecke nicht plötzlich über einen Rückeweg führt oder einen unbefestigten Abhang hinunter oder sowas. Das Garmin routet gerne mal exotisch. Aber es hat einen Grund, dass das 11 Jahre alte Navigationsgerät trotz seiner gelegentlichen Seltsamkeiten jetzt in der neuen V-Strom 800 steckt. Anna hat ein paar Tricks im Ärmel, die aktuelle Navis nicht mehr beherrschen. Reifendrucküberwachung, zum Beispiel. Oder die Anzeige von Wetter entlang einer Route, oder ein animiertes Regenradar.

Anna kann das, und auf ihrem Display konnte ich genau verfolgen, dass der starke Regen, in dem wir ab Fulda für eine Stunde gefahren sind, zwar extrem unangenehm war, aber nichts gegen die beiden Unwettergebiete mit Hagel, zwischen denen wir in Bayern und Baden-Württemberg elegant durchgewitscht sind. Bis zu den Alpen war das Wetter  OK,  aber dann setzte wieder Regen ein. Aber halt nur normaler Regen, nichts gegen den Starkregen, der in Österreich heute schon gefallen ist.

“Bundestraße zum Reschenpass gesperrt, Erdrutsch”, verkündeten Displays an den Tunneln bei Innsbruck. Gut, da wollte ich auch gar nicht hin. Ich bin die alte Brennerstraße bis Sterzing gefahren, und jetzt, kurz hinter dem Ort, geht es nicht weiter. Dabei ist mein Hotel quasi in Sichtweite. Nunja.

“Lernst Du halt wie das ist, mit mir unterwegs zu sein”, sage ich zur V-Strom, während die Maschine über eine schmale Straße in einen Nadelwald hineindonnert. “Unwetter, Umleitungen, …schon auf der ersten Fahrt bekommst Du das volle Programm mit”.

Der extreme Mix passt gut, denn das hier ist immerhin die Testfahrt für das neue Motorrad. Ich bin nur unterwegs, um die neue Suzuki auszutesten. Rede ich mir zumindest ein.

Tatsächlich habe ich auch eine Pause gebraucht. Ja, das hier ist eine kurze Pause vom Alltag. Aber kein richtiger Urlaub. Das hier ist keine Reise. Deshalb gibt es auch kein Reisetagebuch. Ich komme ja nicht an neue und interessante Orte. Aber “Pausentagebuch” klingt doof, deshalb wird es einfach gar keinen Blogeintrag dazu geben. So.

Warum auch. Immerhin bin ich mehr oder weniger heute morgen einfach auf die V-Strom gestiegen und losgefahren. Gut, nicht ganz so spontan, aber fast.

“Jetzt links abbiegen“, sagt Anna, und zu meiner Freude geht es hier nicht eine Schlammpiste den Berg hinab. Es handelt sich um eine schmale Straße, die in mehren Kurven zu einigen Wohnhäusern hinab und zwischen ihnen hindurch führt.

Hinter den Häusern führt die Dorfstraße einmal durchs Wipptal und auf der anderen Seite auf die breite Durchgangstraße, und zwar hinter der Straßensperre. Sehr gut!

Gegen 16:00 Uhr und damit rund neun Stunden und 720 Kilometer nachdem ich in Götham gestartet bin, kommt die V-Strom vor dem Hotel Larch zum Stehen.

Hier mache ich gerne Station auf dem Weg nach Süden, die Etappe ist genau richtig lang und das familiengeführte Hotel liegt direkt an der alten Brennerstraße, kurz hinter Sterzing.

Die Gastwirtin begrüßt mich ernst und sorgenvoll. “So ein Unwetter hatten wir bislang selten”, sagt sie. “Der kleine Bach hinterm Haus ist ein Strom geworden und hat den Hang fortgerissen. Auch die Straße nach Brixen runter ist dicht, da können sie morgen nicht lang. Wollten Sie zum Abendessen ins Motorradrestaurant?”

Ich nicke. Das “V-Motor-Bar&Grill” liegt zehn Minuten zu Fuß die Straße runter. “Die haben auch gerade zu kämpfen, das ist nicht offen”, sagt die Gastwirtin und empfiehlt eine Pizzeria an der Sporthalle von Sterzing. Ich bedanke mich für den Hinweis und frage, ob ich gleich bezahlen kann. Die Gastwirtin nickt und sagt “Aber nur Bar, die Datenleitungen sind ausgefallen”.

Ich bringe meine Koffer ins Zimmer, dann schwinge ich mich gleich wieder auf´s Motorrad. Die Straße nach Süden ist von den Erdrutschen geräumt, nur Reste von Erde und große Pfützen erinnern daran, dass die Straße hier vor wenigen Stunden noch dicht war. Als ich mich dem “V-Motor” nähere, sehe ich schon, was Sache ist: Schlamm ist anscheinend einmal hinten ins Restaurant rein und vorne wieder rausgegangen. Helfer haben das Inventar vor das Gebäude geschleppt, alles ist verschlammt.

Später lese ich, das 70 Prozent aller Häuser im Örtchen Trens durch Erdrutsche und Muren beschädigt wurden. Eine echte Katastrophe, und ich bin dem Unwetter nur knapp entgangen.

Auf Essen gehen habe ich keine Lust mehr, bin auch zu müde dazu. Ein großer Spar-Markt versorgt mich mit einem belegten Toast und einem fertigen Salat, das reicht für heute Abend. Hauptsache, nicht noch einmal raus.

Als ich wieder im Hotel bin, stelle ich fest, dass der  Helm First Blood abbekommen hat – anscheinend war das Insekt, was hier zerschellt ist, mit Kirschsaft gefüllt. Oder ich wurde von einer fliegenden Kirsche getroffen.

Die Nacht ist unruhig. Donner rollt durchs Tal, und mächtige Schläge und das Prasseln des Regens lassen mich immer wieder aus dem Schlaf hochschrecken. Dabei zieht das Schlimmste weiter nördlich vorbei.

Die V-Strom steht wie unter einer Dusche, so heftig ist das Gewitter.

Tour des Tages: Von Götham nach Sterzing, 720 Kilometer in rund 9 Stunden.

Am nächsten Morgen scheint alles wieder vergessen.

Samstag, 13. Juli 2024
“Die Straße nach Brixen ist immer noch zu”, sagt die Gastwirtin, als ich zum Frühstück gehe. Am Nebentisch erzählt ein junger Mann aus Berlin, dass sein Porsche Cayenne wegen des Regens völlig verrückt spielt. “Der zeigt alles mögliche an! ABS ausgefallen, Traktionskontrolle ausgefallen, Bremskraftverteilung defekt!”, erzählt er aufgeregt, um dann fortzufahren “ADAC weiß auch nicht, was man machen kann. Fährt aber ganz normal. Wir ziehen das jetzt durch!”

Mutig. Oder dumm. Ich mache mir eine geistige Notiz, das ich vor denen weg sein will. Aber lustig, das Nobel-SUVs durch Regen kaputt gehen. Darf man wohl nur bei schönem Wetter fahren.

Ob die V-Strom 800 wohl anspringt und keine Zicken macht? Die hat ja auch so modernes Elektronikgedöns verbaut. Der Gasgriff ist ein Potentiometer und hat keine Bowdenzüge mehr, der Starter ist komplett digital und auch die Instrumente sind nur noch ein Display. Für mich ist das alles neu, und ich bin erst einmal misstrauisch. Die japanischen Motorradhersteller haben es nicht so mit Digital. Und immerhin war es Suzuki, die bei der erste Version der Vorgängerin ein Abflussloch vergessen hatten, so dass bei Regen die Zündkerze unter Wasser stand und die Kiste ausging.  Schnell trinke ich meinen Espresso doppio aus und gehe zum Motorrad.

Die Sorge war unbegründet, ein Antippen des Startknopfes reicht, und der Anlasser läuft exakt so lange, bis der Motor angesprungen ist – und das ist quasi augenblicklich. Sie hat die Sintflut in der Nacht also überstanden. Gutes Motorrad.

Zum Glück regnet es jetzt nicht mehr. Tatsächlich scheint sogar die Sonne, aber es hängen noch Wolken in den Bergen auf der anderen Seite des Tals.

“Strada Statale 12 ist gesperrt. Wechsel zu neuer Route”, meldet sich Anna im Helm. “Ok, dann los”, sage ich und steuere das Motorrad auf die Straße hinaus.

Die neue Route führt zunächst nach Sterzing hinein, dann den gleichen Weg, wie wir gestern auch zum Hotel gefahren sind. Allerdings biegen wir nicht ins Dorf hinab, sondern folgen der schmalen Straße immer weiter und immer höher hinauf in die Berge. In einem Waldstück treffe ich auf die Wolken, die ich gerade noch vom Tal aus bewundert habe, und die hier wie dichter Nebel über der Straße hängen. Es wird kalt und klamm und dunkel, als ich hineinfahre, aber zum Glück hält das nicht lang. Schon nach wenigen Minuten komme ich auf der anderen Seite der Wolke heraus und fahre in der Sonne weiter.

Von oben kann ich nun auf die Wolken hinabblicken.

Die schmale Straße windet sich jetzt in abenteuerlichen Kurven an der Wand eines steilen Einschnitts entlang, und ich stelle fest, das ich wie eine Karre Mist fahre. Ein um andere Mal muss ich stark in die Bremsen gehen, weil ich mich in der Geschwindigkeit verschätze oder nicht genug Schräglage drauf habe und so weit nach links rüber gerate, dass ich im Gegenverkehr hängen würde. Und den gibt es durchaus hier oben, mehrfach kommen mir Autos entgegen.

“Konzentrier Dich”, schelte ich mich selber und rufe mir die diversen Fahrtrainings ins Gedächtnis. Nicht träumen oder Landschaft angucken, sondern auf die Straße konzentrieren. Kopf drehen. In die Kurve schauen. Paradoxen Lenkimpuls einsetzen. Auf Abstände achten.

Es macht KLICK, und plötzlich geht das Kurvenfahren wesentlich einfacher und ich stelle fest, dass die 800er spielend einfach durch die Kurven zu bewegen ist. Das die Kiste mit der ganzen Zusatzausstattung und Gepäck gerade rund 260 Kilo auf die Waage bringt, ist nicht zu merken.

Mach einer halben Stunde komme ich auf dem Penser Joch an, halte und nutze den Augenblick für einen Blick aus 2.211 Metern Höhe hinab ins Tal. Sehen tut man nur zu einer Seite etwas, die Südseite versteckt sich in Wolken.

Ich fahre weiter, hinab in ein kleines Tal, das nach einer Stunde vor den Toren von Bozen endet. Ich bin parallel zum Brennertal gefahren und um Franzensfeste und Brixen herumgesteuert.

Ab hier kenne ich die Straße auch wieder. Durch Trient und Rovererto geht es vorbei an endlosen Apfel- und Weinfeldern, bei denen ich mich immer Frage, wie hoch die mit Schadstoffen belastet sind, so unmittelbar neben der Brennerautobahn.

Der Gardasee bleibt zurück und mit ihm die letzten Ausläufer der Alpen, dann geht es in die Po-Ebene. Wie immer ist es hier Strunzlangweilig. Plattes Land, alle 800 Meter ein Kreisel, es ist zum verrückt werden doof. Und es ist heiß. Genervt mache ich in einem Dorf Pause und trinke erstmal was. Ich kann die Augen kaum von der neuen V-Strom abwenden.

Das mit der langweiligen Landschaft wird erst besser, als ich hinter der Stadt Reggio Emilia in die Ausläufer des Appennin komme, der hier Appennino Tosco-Emiliano heißt, weil er in der Region Romagna Emiliana und der Toskana liegt.

Über einen Bergkamm geht es superenge Kehren hinauf, die eine irre Steigung aufweisen – es ist, als würde man mit dem Motorrad eine Wendeltreppe hinauffahren. Aber mittlerweile habe ich mein Karre-Mist-Fahren abgelegt, mir fehlte lediglich wieder ein Bisschen Übung und heute Morgen die Konzentration. Jetzt bewege ich die Suzuki durch die absurden Kehren, als würde ich das jeden Tag machen.

Vom Bergkamm aus kann ich über die Landschaft sehen. Mein Gott, ich liebe das hier. Alles nicht spektakulär, aber wunderschön.

Kraftvoll zieht die V-Strom den Berg hinauf. Das der Motor ordentlich zu tun hat und die Außentemperatur mittlerweile auf über 30 Grad gestiegen ist, macht sich erst bemerkbar, als ich das Motorrad an einem Ortsschild stoppe, um ein Foto zu machen. Der Lüfter springt an, und die V-Strom pustet heiße Luft aus allen Verkleidungsöffnungen.

Das hier ist wirklich DAS Canossa, mit dem legendären Gang. Auf die Burgruinen zu steigen, dazu habe ich heute aber keine Energie und auch nicht die richtigen Klamotten an – in den schweren Stiefeln steige ich nicht den steilen Burgberg hinauf.

Stattdessen wende ich und fahre weiter in die Berge hinein, und nach einiger Zeit sehe ich einen riesigen Tafelfelsen, der sich wie ein Fremdkörper aus der Landschaft erhebt. Das ist der Pietra di Bismantova – jetzt ist es nicht mehr weit! Ich bin ein wenig aufgeregt.

Das Tal, durch das ich jetzt fahre, ist die Terre de Matilde – eine Erinnerung an Matilde von Canossa, die vor 1.000 Jahren über Toskana und Lombardei herrschte und heftig im Streit der Päpste mitmischte. Außerhalb Italiens kennt sie kaum jemand, in Italien wird sie seit den 90ern als Powerfrau gefeiert und von der Geschichtswissenschaft eingehend beforscht.

Nach rund einer Stunde komme ich in einem, Leserinnen dieses Blogs bekannten, winzigen Bergdorf an und halte kurz am Straßenrand, um mich ein wenig frisch zu machen. Kaum habe ich den Deckel des Topcase geöffnet und eine der Wasserflaschen aus der Halterung gezogen,  hält schon eine Gruppe Motorradfahrer neben mir.

“Hai bisogna di aiuto?” fragt der erste.
“Nein, ich brauche keine Hilfe, danke”, sage ich. 
“Aiutarti?”, fragt da schon der nächste.
“Nein!”, sage ich etwas lauter, da ruft einer von weiter hinten “Was für Hilfe braucht er denn?”.
“Ich brauche GAR KEINE HILFE, vielen Dank! Zischt ab! Fahrt weiter! Vai! Vai!”, rufe ich und lache. Meine Güte. Was sind die hilfsbereit hier.

Wenige Minuten später steuert die V-Strom  in eine Einfahrt, die versteckt in einer Hecke liegt. Das Motorrad rollt einen kleinen Berg hinab, bevor ich sie neben einer Blockhütte wende und abstelle.

Die Blockhütte ist meine Unterkunft heute. Eine Fisch-Hütte. Der Name ist Programm, denn hier werden seltene Fischarten gezüchtet. Mitten in den Bergen, auf 1.000 Metern Höhe.

Ich steige aus dem Sattel und stelle den Helm auf ein kleines Tischchen neben der Tür, hinter der mein Zimmer liegt. Ah, der Schlüssel steckt schon. Ich nehme ihn an mich und betrachte den Schlüsselanhänger. Der ist neu. Ein handgeschnitzter Fisch, auf den jemand mit Edding die Ziffer “3” gemalt hat.

Dann wandere ich an Zuchtbecken mit Babyfischen und Strömungsbecken mit Flusssimulationen und an einem künstlichen Weiher mit großen Fischen vorbei und einen Anstieg hinauf bis zu zwei kleinen Holzhütten.

Eine der Hütten ist zu einer Seite offen und bietet mehreren Tischen und einem kleinen Lädchen Platz, in der anderen ist eine Bar untergebracht, vor deren Außentresen Leute stehen und sich etwas zu Essen und zu Trinken holen. Die Bar ist gut besucht heute.

“!!!”, höre ich meinen Vornamen, und im nächsten Moment stürmt eine, äh, rothaarige (?!) Frau hinter dem Tresen hervor und aus der Tür der Bar. Vor mir steht Giulietta, und sie strahlt.

Damit meine ich nicht nur das Strahlen ihrer grau-blauen Augen oder dieses Lächeln, das nicht von dieser Welt zu sein scheint. Nein, sie strahlt auch von Innen heraus, wie es nur ganz wenige Menschen tun, die wahre Schönheit in sich tragen. Dieses Strahlen wirkt sich um alles um sie herum aus. In Giuliettas Gegenwart wird alles besser, um sie herum alles heller, Menschen werden durch ihre bloße Anwesenheit freundlicher. Alles schon erlebt.

Vor mir steht die schönste Frau, die ich in Italien kenne. Sie sieht ein wenig aus wie Gillian Anderson, mit den roten Haaren sogar noch mehr. Und sie redet sehr schnell und überschüttet mich gleich mit einem Satz Schnellfeueritalienisch. Ich verstehe “Du bist in Italien… Dein Zimmer, die zwei…!”, sagt sie, strahlt mich an und hält die offenen Arme ausgestreckt.

Ich bin erstmal völlig irritiert, dass Giulietta mit so etwas Technischem anfängt, und abgesehen davon: “Mein Zimmer ist die drei”, sage ich.

“Was?”, sagt Giulie und fügt etwas hinzu, das ich wieder nicht verstehe.
“Was?”, sage ich. Dann halte ich etwas hilflos den Holzfisch mit der “3” hoch.
“Ja genau”, sagt sie.
“Was?” sage ich schwach. Ich verstehe gar nichts mehr.

“Ja genau”, sagt Giulie und versucht es laaaaangsamer und mit einfacheren Worten. “Ich saaaagte: Bentornati a casa! Questa è la tua casa quando sei in Italia. Nella stanza numero tre “, sie deutet auf den Fisch, “e nel cuore della gente qui!” sie deutet erst auf sich, dann macht sie eine ausladende Geste, die alle um sie herum umfasst. Jetzt habe ich es verstanden. Willkommen zurück Zuhause! Das hier ist Dein Zuhause, wenn Du in Italien bist. In Zimmer drei und in den Herzen der Menschen hier.

Ach man. Ich bin am Dialekt gescheitert. Hier spricht man das “T” manchmal wie “D” und verschleift die Wortenden, und so habe ich “due” (zwei) statt “tua” (Dein) verstanden.
Da werde ich so lieb begrüßt und stelle mich so dumm an, dass ich nichts verstehe. Was für ein doofer Start.

Mein Herz ist voller Dinge die ich gerne erwidern würden, aber jetzt blockiert irgend etwas so richtig und ich bekomme keinen zusammenhängenden Satz mehr auf die Reihe.
Toller Start, so mit Missverständnissen und Wortfindungsstörungen.
Wie der letzte Idiot. Plötzlich scheinen alle um mich herum mich anzustarren.

Da schaltet sich mein innerer Beobachter ein: Ey, dein Hirn ist müde und einfach noch nicht auf italienisch eingestellt, aber die Fähigkeit zur Fehleranalyse und Selbstzerfleischung hat es anscheinend noch. Hör auf damit! Nobody here gives a shit, niemand starrt dich an. Jetzt reiss Dich zusammen! 

Giulietta legt den Kopf den Kopf schief. “Wolltest Du nicht dein italienisch verbessern? Davon merke ich aber nichts”, sagt sie mit ernster Miene und schaut enttäuscht. Dann sieht sie mein leicht verzweifeltes Gesicht und schüttet sich urplötzlich aus vor Lachen. Das löst die Anspannung.

“Komm her Du”, sage ich und ziehe sie in meine Arme, “Mi sei mancato. E sono felice di essere tornato”. Ich habe Dich vermisst. Und ich bin glücklich, wieder hier zu sein.

“Anch´io”, sagt sie, sieht mich an und fragt “Du bleibst vier volle Tage?”.
Ich nicke.

“Fünf Nächte?”.
“Du hast doch gesagt, ich soll das nächste Mal länger bleiben”.

Sie lächelt. “Ich bin es nicht gewohnt, das ein Mann auf mich hö-”
“Wie bist Du denn durch den Hagelschlag gekommen??” ruft eine vertraute Stimme. Giulietta löst sich von mir, lacht und ruft “Und hier ist noch jemand, der sich freut Dich zu sehen!”

Giuliettas Mama kommt aus der Küche der kleinen Bar gewackelt umarmt mich und verteilt Küßchen “Caro! È bello rivederti!”, ruft sie, “Genau zur Saison für Fischburger. Und Du kannst neue Sorten Eis probieren! Und eine Torta mit Caffé, und…”. “Mama, er wird sich schon melden, wenn er Hunger hat!”, fällt Giulie ihr ins Wort. Dann dreht sich dann wieder zu mir und fragt “Oder hast Du schon Hunger?” Ich schüttele den Kopf. “Dann geh´ erstmal unter die Dusche, Du siehst aus, als könntest du die brauchen.”

Sie hat recht, ich bin staubig und verschwitzt. Aber vor der Dusche  habe ich noch etwas vor. Es ist erst kurz vor vier, der Tag ist noch lang.  Ich klippe die Koffer vom Motorrad und fahre einige Kilometer zurück in die Berge. Dann lasse ich die V-Strom an der Straße stehen und stapfe einen steilen Berg hinauf.

Eine halbe Stunde schnaufe ich den Anstieg hinauf, für den ich mit den Stiefeln und der schweren Jacke bei der Hitze nicht wirklich geeignet gekleidet bin. Dann sehe ich einen Wegweiser und weiß, das ich richtig bin.

Und dann sehe ich sie: Die Panchina Gigante, die Big Bench.

Sieht auf wie eine normale Parkbank, nur das diese hier doppelt so groß ist. Erwachsene sehen darauf aus wie Kinder. Ein Kunst- und Communityprojekt.

Logo des Projects auf https://bigbenchcommunityproject.org/

Die Dinger stehen überall in Europa rum, besonders viele aber hier in Italien. Das hier ist Big Bench #297. “How to become children again by rediscovering the landscape” ist die Idee dahinter, und es funktioniert: Ganz klein komme ich mir vor, als ich über die Berge schaue.

Zwischendurch checke ich mal das Handy und sehe, was die Unwetter gestern Nacht in der Region angerichtet haben, durch die ich wenige Stunden zuvor gefahren bin.

Auch den Hagelschlag entdecke ich, den Giulies Mama erwähnt hat. Um Mailand herum sind faustgroße Eiskugeln aus dem Himmel gefallen.

Extremwetter, überall. Für Regen habe ich meist einen Plan B, aber ich weiß bis jetzt nicht, was ich mache, wenn ich mal in so einen Eisbrockenregen hinein gerate. Schaudernd stecke ich das Handy weg, rutsche von den großen Parkbank, steige den Berg hinab und gehe zurück zum Motorrad.

Später, nach einer Rasur und einer langen Dusche, sitze ich in dem kleinen Restaurant der Fischfarm, das lediglich eine halboffene Holzhütte ist. Die gegenüberliegenden Berge werden in rotes Abendlicht getaucht, während auf dieser Seite des Tals bereits alles in Schatten versinkt und die Außenbeleuchtung angeht.

Giulie bringt einen Fischburger vorbei, handgemacht von ihrer Mama, stellt ein Ichnusa dazu, lächelt und sagt “A dopo”, bis später, und meint das auch so.

Es fühlt sich wirklich an wie nach Hause kommen.

Tour des Tages: Von Sterzing über Canossa bis in den Apennino Tosco-Emiliano, rund 387 Kilometer.

Am nächsten Samstag: Die Wuschelköpfige

34 Gedanken zu „Reisetagebuch: Kein Reisetagebuch

    1. Die ist alles, was ich mir von ihr erhofft hab, allerdings hat sie einige nervige Eigenarten. Unter anderem wird der Euro5-Motor rechts unangenehm heiß, die Fedeeung muss man mögen und das windschild ist eine Frechheit. Ansonsten: eine würdige Nachfolgerin!

  1. Wasser aus allen Richtungen, das gehört doch immer zu einer Reise. Auch wenn es vielleicht keine neuen Orten sind, es ist ein anderer Zeitpunkt und somit gibt es neue Eindrücke. Aus meiner Sicht ist es ebenso eine Reise. 😉

    Mein Zumo ist auch fast so alt, zwar der das ‘kleinere’ Modell, ohne die fancy Funktionen, aber ich will auch kein Neueres.
    Ich kann es nicht richtig erkennen, wie Du es da an der Lenkerbrücke befestigt hast, ist das einfach eine Schelle?
    Mich würde es da ja stören und hätte eher die Querstrebe über dem Tacho genommen, aber ich suche noch nach einer einfachen Lösung für meine Microblade.

      1. Ja, so ne RAM Mount Murmel hab ich ja dran, aktuell mit Adapter an der Spiegelaufnahme am Bremshebel, weil der frei ist. Schön finde ich das nicht und mit den Stummellenkern fehlt in der Mitte halt Montageraum.
        Unter der Scheibe ist auch kein Platz, wie bei meiner Africa Twin. Ich hab mal was für den Lenkkopf gesehen, aber da gibt es nix von der Stange für mein Modell.
        Zum Glück ist es auch nicht so wichtig, weil ich auf große Reisen mit der AT gehe und die Kleine eher für Tagestouren nutze.

        1. Moin Max,

          da ich auch mehrere Motorräder habe, suchte ich nach eine Möglichkeit für die anderen Mopeds eines Navis und bin von einem Kollegen auf Beeline Moto gestossen. Das habe ich jetzt seit März letzten Jahres im Einsatz und bin sehr zufrieden. Man muss nur wissen, dass es ein reines Anzeigegerät ohne Karte und ohne Sprachbefehle ist. Die nutze ich sowieso nicht, weil ich kein COM-System im Helm habe. Vielleicht ist das eine Alternative. Distributor in D ist Tante Louise in HH.

          Gruss
          Lupo

          1. Beeline ist auch autark und läuft offline. Einnmal am Anfang benötigst Du Internet zum Erstellen der Route und dann stellst Du es auf Flugmodus. Es wird nur der GPS-Empfänger des Smartphones genutzt, wie beim Zumo – Internet ist dann nicht mehr notwendig.

          2. Wenn es das GPS des Smartphone nutzt, ist es eben nicht autark. Das Beeline ist einfach nur ein zweites Display für die App.

            Das Zumo braucht kein Smartphone, da ist ja alles im Gerät.

    1. Wasser aus allen Richtungen, da verzichte ich gerne drauf! 😁

      Ich habe tatsächlich eine Schraube der Gabelbrücke durch eine RAM Mount Kugel ersetzt, Sowohl bei der Strom als auch bei der ZZR, die Stummel hat. Ich bediene das Navigationsgerät blind und während der Fahrt, deswegen kam die Montage an. Dieser Quer strebe nicht infrage. Ich weiß, dass viele das mögen, weil sie dann den Bildschirm im Sichtfeld haben, aber da muss man für jeden Knopfdruck anhalten. Also ich zumindest, weil, wie Bernd das Brot so schön sagte: ich habe viel zu kurze Arme. 😁

        1. Ah, jetzt ja. Musste erstmal googeln, wer Siri ist: Apple. Da kann ich nicht mit dienen. Ich besitze kein Smartphone, sondern nutze noch ein Nokia 6310i aus 2002. Leider ist der Akku schon 2019 nach nur 17 Jahren kaputt gegangen. Habe mir jetzt von Reichelt einen neuen für 8 EUR besorgt, alles wieder ok. Dienstlich habe ich ein Smartphone, privat aber nicht.

      1. Das eigene NAS. => Habe ich nicht.
        Der eigene Server. => Habe ich nicht.
        Fremde Server. => Nutze ich nicht.
        WordPress. => Nutze ich nicht.
        Banking. => Nutze ich nicht online.
        Webmailer. => Was ist das?
        Fluglinien. => Dafür habe ich ein Reisebüro. Bessere Preis als das Reisebüro habe ich noch nirgendwo bekommen, wenn ich mal verglichen habe.
        Onlineshopping. => Nutze ich intensiv, aber dazu habe ich noch nie ein Smartphone benötigt.
        Lernplattformen. => Keine Anwendung

    1. Oh je! Na Hauptsache, Dir ist nichts passiert.
      Ich bin aufgrund der eigenen Sicherheit kein Freund von solchen “Minimallösungen”, zumal die “Maximallösungen” – auch im Stadtverkehr – immer mehr werden.

      1. Naja, der Kleine hat mich sicher geschützt UND ist hinterher noch brav gefahren, und das nachdem ihn der Ford Ranger mit mindestens 50 Sachen gerammt hat. Klein und sicher muss sich vielleicht nicht ausschließen.

        Ich bin auf jeden Fall gegen dieses Wettrüsten der Maximallösungen. “Ich kaufe mir ein großes Auto, um über alle rübergucken zu können”. Fünf Jahre später haben alle eine Kiste, für die man eine Einstiegsleiter braucht. Und dann? NOCH größeren Wagen anschaffen? Schwierig. Das ist übrigens Spieltheorie: Jeder versucht seinen eigenen Zustand zu verbessern und verschlechtert damit die Umstände für alle. Passt auf Rollkoffer wie auf SUVs.

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