Kein Reisetagebuch (3): Meine toskanischen Großeltern, das Kaninchen und ich*

Kein Reisetagebuch (3): Meine toskanischen Großeltern, das Kaninchen und ich*

Kein Reisetagebuch. Es passiert nichts weltbewegendes. Es werden keine interessanten Orte besucht. Das hier ist nur ein Tagebuch. Heute mit schlechtgelaunten Rauchern, gutgelaunten Rentnern, einem Kreuzverhör und einem Karnickel.
(* Ich hasse diese Sorte von 2004er-Titeln. Dem Blog fehlte zur Vollständigkeit aber noch einer. Demnächst: “Der 49jährige, der aus einem Fenster stieg und…” )

Montag, 15. Juli 2024
“Das müssen´se sich mal vorstellen, das geht doch nicht! Im-Po-ssi-bi-le!”, verstehe ich noch, der Rest der Tirade geht in einem Hustenanfall unter. Ich widme mich weiter meiner Torta di Caffé und einem Cornetto, während sich das Paar am Nebentisch ordentlich die Lunge abhustet.

Die beiden kommen aus Mailand und müssen Mitte 60 sein, sehen aber viel älter aus. Rauchen macht sowas mit der Haut, und beide rauchen Kette und haben permanent schlechte Laune, das lässt einen altern. Gestern Abend schon saßen sie neben der Hütte, rauchten eine nach der anderen und schimpften über Gott und die Welt vor sich hin. Menschen ohne einen Funken Lebensfreude. In Deutschland wäre die Diagnose: AFD-Wähler.

“Also ICH habe ja aufgehört zu rauchen”, sagt Rosanna angesichts des Hustenanfalls und guckt fröhlich in die Runde. Das ist natürlich genau das, was schlechtgelaunte Raucher unter keinen Umständen hören wollen.

“Guck mich nicht an”, sage ich zu Rosanna, “Ho smesso di fumare dopo 13 anni” Ich habe auch nach 13 Jahren aufgehört.
“Ist aber schon ein Bißchen her, oder? Du hast noch nie geraucht, wenn Du hier warst”, sagt Rosanna.

Aus Rücksicht auf die Raucher sage ich nichts weiter. Die verziehen trotzdem die Gesichter und bölstern nochmal los.

Rosanna eilt in die Küche der Blockhütte und kommt mit einem Päckchen wieder, das sie mir überreicht. Ich halte ein Tellerchen mit schön verpackten Keksen in der Hand.

“Mit besten Empfehlungen von Annamaria”, sagt Rosana. Annamaria ist Giuliettas Mamma.
“Wow, danke!!”, sage ich begeistert. “Was bin ich Euch schuldig?”

“Nichts. Von Dir nehmen wir doch kein Geld, und mal ehrlich… Sie backt die Kekse doch sowieso, egal ob sie jemand isst oder nicht. Und jetzt freut sie sich, dass sie deinen Großeltern eine Freude machen kann”.

Ich muss lachen. “Das sind aber nicht wirklich meine Großeltern, das wisst ihr, oder?”, sage ich.
“Ich habe keine italienischen Wurzeln. Das sind einfach supernette alte Leute, die sich irgendwann selbst zu meinen Großeltern erklärt haben. Die haben mich adoptiert, sozusagen.”

Rosanna schürzt die Lippen und wackelt mit dem Kopf. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie das Konzept “Familie, mit der man nicht blutsverwandt ist” ablehnt. Immerhin ist sie glühende Verehrerin von Matteo Salvini, dem faschistoiden Rechtsausleger. Der hat unter anderem deutsche Seenotretter einbuchten lassen, alle Migranten zu Verbrechern erklärt und finanziert wird seine Partei von den Russen. Das persönliche Wirken von Salvini habe ich schon selbst gesehen, in dem entvölkerten Dorf Riace. Auf ihrer Facebook-Seite hast Rosanna stolz etliche Fotos gepostet, die sie zusammen mit Salvini bei seinen Wahlkampauftritten zeigen. Wie überall, so tun auch in Italien die Rechtspopulisten so, als ob blutsverwandte, heterosexuelle und mit Kindern versehene Familie heilig sei.

Wenn man Rosanna so erlebt, ist sie eine bodenständige, manchmal etwas bratzige, aber die meiste Zeit über eine sehr freundliche und gut gelaunte Frau. Leider kann man über die sozialen Medien in ihren Kopf gucken, und in dem verehrt sie den Abschaum der Menschheit.

Ich habe eh Probleme mit den tiefen und unangenehmen Einblicken, die Social Media häufig erlaubt. Mir fällt es schwer damit umzugehen, wenn ich Menschen im echten Leben EIGENTLICH mag, aber die ganz schlimme Dinge denken oder Einstellungen haben. Und ich rede hier nicht von “Butter unter die/das Nutella oder nicht”, das ist mir völlig egal. Soll jede:r machen wie er will. Der Spaß hört aber auf, wenn es menschenverachtend und gegen Minderheiten geht oder jemand generell völlig abdriftet.

Andrea aus Livorno ist so ein Fall. Mechaniker. Wahnsinnig netter und interessanter Mensch, hat 2016 die ZZR mit einer Lichtmaschine aus SEINER ZZR gerettet, danach hatten wir noch ein paar Mal freundschaftlichen Kontakt. Aber leider, leider: Seine Facebook-Seite ist seit der Pandemie voll mit dem kompletten Programm an Verschwörungstheorien: Impfstoffe sind Gift, die 5G-Masten um Livorno seien von Bill Gates finanziert um Menschen fernzusteuern, die Regierung tauscht die italienische gegen afrikanische Bevölkerung, Chemtrails verursachen den Klimawandel, den es nicht gibt aus und Elektrofahrzeuge sind eine Verschwörung der Grünen.

Natürlich hat er erst stolz die 5-Sterne-Bewegung gewählt, dann Salvini. Wie soll ich jemandem gegenübertreten und freundschaftlich plaudern, wenn ich weiß, das hinter seiner Stirn so etwas passiert? Das geht für kurze Zeit und wenn es rein geschäftlich bleibt, da bin ich Profi. Aber befreundet sein oder Kontakt halten möchte ich mit so jemandem nicht.

Das ist schade, denn hätte ich Andrea und Rosanna nur im echten Leben kennengelernt, ich hätte sie als wertvolle Menschen in meines gelassen. Wären sie mir zuerst online begegnet, wir würden nie etwas miteinander zu tun gehabt haben. So ist es ein Mischdings, was sich oft komisch anfühlt.

“Dann mache ich mich mal auf den Weg”, sage ich, bedanke mich noch einmal und lasse Rosanna mit den hustenden Rauchern allein.

Vor der Blockhütte belädt ein hagerer, sonnenverbrannter Mann mit dichtem Vollbart den Dodge Ram. Fäden hängen aus seinem Cap, Flecken zieren Jeans und T-Shirt. Offensichtlich ein Helfer auf der Farm, vielleicht der Vorarbeiter. Ich grüße freundlich. Er hört das, reagiert aber nicht und würdigt mich keines Blickes.

Wenig später sitze ich im Sattel der V-Strom, die durch den kleinen Ort in der Nähe rollt. Für heute habe ich mir einen besonders schönen Weg ausgesucht, der… “Für Motorräder gesperrt” ist??
Sollen ditte??


Ich drehe ab, weil ich es halt gewohnt bin, Schildern zu gehorchen. Aber dann fällt mir ein: Es gibt aus diesem Kaff im Nirgendwo keine alternativen Wege. Es gibt die EINE Straße von Osten nach Westen, und dann eben diesen einen Weg nach Süden.
Den ich nicht fahren darf.

Und nun? Nach Osten bis in die Po-Ebene, und dann über Bologna und Florenz nach Süden? Oder nach Westen, bis La Spezia und dann Autobahn? Beides doof.

Hm. Ich glaube, ich gucke mal WARUM der Weg gesperrt ist. Zu enge oder kaputte Straßen machen der V-Strom ja nichts.

Ein zweites Mal fahre ich den “für Motorräder verbotenen” Weg an und rolle an den Hinweisschildern vorbei. Die schmale Straße führt hinab in das Flusstal, der Weg ist aber völlig in Ordnung.

Warum dürfen Moppeds hier nicht fahren? Ist das hier Naturschutzgebiet, und Motorräder sind zu laut dafür? Nun, die V-Strom ist von Haus aus leise und hat funktionierende Schalldämpfer, die ist leiser als der Fiat Panda, der mir gerade entgegenkommt. Die röhrt nicht, die hat keinen Klappenauspuff. So mag ich das auch. Ich brauche keine Lautstärke aus einem Verbrennermotor, um mich meiner Potenz zu versichern. Im Gegenteil, ich freue mich schon darauf, wenn Elektromotorräder endlich reisetauglich werden.

Motorradfahren ist ja etwas sinnliches, im wahrsten, äh, Sinne des Wortes. Im geschlossenen und klimatisierten Auto bekommt man ja vieles gar nicht mit. Landschaft riecht, immer. Landschaft hat Temperatur, und die ändert sich oft ganz subtil und wenn es harsch wird, schwitzt man sich zu Tode oder friert wie ein Schneider. Und natürlich bekommt man auch Wind und Wetter mit, gelegentlich schwappt letzteres auch mal in den Stiefeln rum. Hören tut man aber leider meist nichts, wegen der Windgeräusche am Helm bei schnellerer Fahrt, aber eben auch wegen der Motorengeräusche. Ich freue mich schon darauf, wenn die weitgehend wegfallen und ich geräuschlos Pässe hoch und runterflitzen kann.

Der Weg führt hinab ins Flusstal der Secchia und über eine Brücke. Auf der anderen Seite schraubt er sich in moderaten Kehren den Berg wieder hinauf, wo er auf eine Strada Statale stößt.

So, und wo genau war jetzt das Problem? Warum war der jetzt für Mopeds gesperrt?

Immerhin: Die Ausblicke von der Verbotsstraße sind voll schön, man kann auf das Bergkaff neben der Farm gucken. In der Berglandschaft sieht der Ort aus wie eine Modelleisenbahnanlage.

Weiter geht es durch die bewaldeten Berge, über kleine Kurvenstraßen, die mal durch Wälder, mal durch Wiesen voller Klee führen. Ein Bergkamm stellt die die Grenze zwischen Emilia-Romagna und der Toskana. Als ich den quere, weiß ich, wo ich bin. Das hier ist die Gegend der Garfagna. Auf dem Pass ist es noch kühl, um die 20 Grad. Ich sauge noch einmal tief die frische, würzige Luft in die Lungen. Ab jetzt geht es hinab in die Toskana, und dort wird es richtig heiß werden.

Die Garfagna ist abgelegen, aber ordentlich besiedelt.

Der Ort Barga besteht fast nur aus britischen Expats, die hier ihren Lebensabend verbringen. Der ganze Ort hat sich auf die britische Invasoren eingestellt, er scheint nur aus einer Bar an der nächsten zu bestehen, dazwischen Spirituosengeschäfte und Esoterikläden, wo manche der Aussiedler selbstgetöpferte Kunst feilbieten. Es gibt sogar eine britische Telefonzelle, englisch benamste Geschäfte (“Wine not?”) und einen echten Pub.

Wirft man in Barga einen Ziegelstein in die Luft, fällt er auf einen Briten. Noch. Nach dem Brexit mussten etliche Briten dem Lebensabend in den sonnigen Bergen der Toskana entsagen und zurück in den Nieselregen der Armutsinsel.

Die V-Strom tuckert durch Borgo a Mozzano mit seiner Teufelsbrücke

….danach kenne ich den Weg quasi auswendig – leider. Denn der führt erst einmal nach Lucca. Rom ist die ewige Stadt, Lucca ist der ewige Stau.

Zu allem Überfluss verfahre ich mich auch noch auf die Autobahn und muss 70 Cent Maut bezahlen.

Dann ziehen Pisa und Collesalvetti vorbei und das weite Tal bei Orciano Pisano. Das besteht aus sanften Hügeln mit Feldern, die schon gemäht sind. Golden leuchten die in der Sonne, und Heurollen liegen darauf.

Das hier ist die Landschaft, in der ich mich zum allerersten Mal, vor 14 Jahren, in Italien verliebt habe. Die weite Ebene wird begrenzt von Bergkämmen, auf denen sich inzwischen Windränder drehen. Das sieht ganz harmonisch aus. “Freiheitsenergie”, denke ich. Das einzige, was Christian Lindner je Gutes getan hat: Er hat erneuerbaren Energien den Begriff “Freiheitsenergie” verpasst.

Die Landschaft ist aufgeheizt, das Thermometer am Motorrad zeigt 42 Grad an. Anna, die Internettemperatur anzeigt, kommt immerhin noch auf 38 Grad. Die Luft riecht wie verbrannte Sägespäne und lässt sich kaum atmen. Es ist, als ob man an einem Föhn nuckelt.

Fünfzig Kilometer weiter halte ich an der Straße, ziehe mein völlig nasses Merinoshirt aus und ein trockenes Hemd an. Wir wollen ja einen guten Eindruck machen. Das Hemd ist schwarz, damit man die bestimmt gleich kommenden Schweißflecken nicht sieht.

Das Telefon summt.

“Ti aspettiamo 😘😘”, steht in Whatsapp.
“Vengo. Venti minuti”, schreibe ich zurück und stecke das Telefon weg. Mal keinen Stress hier. Pünktlichkeit in Italien, wo kommen wir denn da hin.

Zehn Kilometer weiter und zwei Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt zieht die neue V-Strom in eine Einfahrt an der Hauptstraße des Küstenorts San Vincenzo, rund 30 Kilometer südlich von Livorno. Hier lag früher mal “I Papaveri”, “Die Mohnblumen”. Das waren zwei Appartements, von denen ich eines zehn Jahre hintereinander angemietet hatte.

Als ich die V-Strom abstelle, sehe ich mich um. Die Plakate mit den roten Mohnblumen sind verschwunden. Vor der Haushälfte mit den ehemaligen Ferienappartements stehen fremde Autos.

Hier ein Bild aus 2013, als ich noch mit der ZZR unterwegs war.

Ich habe kaum an der Tür geklingelt, als sie schon auffliegt und ein hagerer, älterer Herr im Rahmen steht.
“!!!!, höre ich meinen Vornamen, dann klopft er mir auf die Schulter, sieht mich stolz an und zieht mich an seine Brust.
“Lucio!” rufe ich. “Schön Dich zu sehen!”

“Na, DU hast aber gebraucht mal wieder her zu kommen”, höre ich eine weibliche Stimme. Es ist Francesca, die Gebieterin dieses Hauses. Die kleine Dame hat die Hände in die Hüften gestemmt und schaut grimmig. Ich muss grinsen. Ich weiß, dass sie nicht böse ist. Sie ist eine Seele von Mensch und ein echter Scherzkeks. Früher war ihre Standardverabschiedung “Grüß mir die Merkele”.

“Francesca!”, rufe ich, “Wie machst Du das nur! Wir kennen uns seit 13 Jahren, und Du wirst von Jahr zu Jahr schöner!”
Sie zieht die Augenbraue hoch. “Das sagst du bestimmt zu jeder Frau.”
“Nur wenn es stimmt”, sage ich und lache und jetzt muss sie auch lächeln.

Ich werde herein und an den Küchentisch gebeten. Die beiden haben eine kleine Einliegerwohnung im Keller des Hauses, die sie im Sommer bewohnen. Hier unten ist es angenehm kühl, oben im Haus ist die Hitze nicht zu ertragen.

“Gelato?” fragt Fancesca freut sich, als sie sieht wie ich strahle und nicke. “Ich habe deine Lieblingssorte da”, sagt sie und serviert Amarena-Eis.

Wir bringen uns auf Stand. Vier Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen, nur zwischendurch per Whatsapp Kontakt gehalten, und jedes Jahr zu Weihnachten kam ein Päckchen mit Torta di Siena an und eines mit Spezialitäten von Cron&Lanz machte sich auf den Weg nach Italien.

Gesundheit? Geht so, Krebs ist ein Arschloch, aber mit Strahlentherapie unter Kontrolle. Jetzt könne man beruhigt an Altersschwäche sterben.

Die Appartements? “Verkauft”, sagt Lucio. “Ich bin 88 Jahre alt, da reicht es irgendwann mit der Arbeit”. “Und ich bin 84 und habe auch nicht mehr jeden Tag Lust auf Gäste”, sagt Francesca, “Zumal die in den letzten Jahren komisch geworden sind”.

Verständlich, dass die beiden aufgehört haben, aber für mich auch schade. Ich war immer gerne Gast in diesem Haus. Hier habe ich schöne und ruhige Zeiten verbracht. Eine Woche auf I Papaveri halfen dabei, die vom Jahr erschöpften Akkus wieder aufzuladen. Einfach Rumgammeln, eine Zeitlang einfach hier leben und einen Haushalt führen, das ging auf I Papaveri perfekt. Nebeneffekt: Ich kenne San Vincenzo und den umliegenden Teil der Toskana, von Pisa bis nach Florenz wie meine Hosentasche.

Die Verständigung läuft fast flüssig, nur ab und an muss ich ein Wort nachschlagen, und Francescas Scherze und Wortspiele verstehe ich selten auf Anhieb. Wir reden über Gott und die Welt, darüber, was in Deutschland für Obst wächst (nur langweiliges Kram, keine Feigen, keine Pfirsiche, keine Aprikosen) vor allem aber über Politik, Lucios Lieblingsthema.

Die Toskana ist sehr sozialdemokratisch eingestellt, quasi das Kalifornien von Italien. Für weltoffene Menschen wie Francesca und Lucio ist die aktuelle Regierung, die aus Rechtspopulisten wie Salvini und der Faschistin Meloni besteht, ein Grauen.

“Paura”, ist ein Wort, das immer wieder fällt. Furcht. Die italienische Bevölkerung bekommt Furcht eingeredet, vor Migranten und der EU, und die Rechtspopulisten bieten vermeidlich einfache Lösungen.

“Ich habe Kekse mitgebracht”, sage ich, um das Gespräch in erfreulichere Bahnen zu lenken, und lege das Päckchen auf den Tisch. “Handgemacht, von Giuliettas Mamma”.
“Wer ist Giulietta?”, fragt Francesca, plötzlich mit einem schneidenden Unterton. Die Frage habe ich fast erwartet.
“Die zweitschönste Frau Italiens. Gleich nach Dir”, sage ich und bringe sie damit so aus dem Konzept, dass sie gar nicht mehr weiß, was sie sagen soll. Was wiederum Lucio in einen Lachanfall treibt.

“Ich sehe es nicht oft, das meine Frau sprachlos ist”, sagt er japsend.
Francesca guckt gespielt böse und knurrt “Hast Du jetzt italienischen Charme gelernt oder was ist das?”
Ich zucke mit den Achseln und grinse.

Dann versinken wir doch wieder in düstere Betrachtungen der Weltpolitik und sind uns einig, wie schlimm es ist, das überall die Rechtspopulisten auf dem Vormarsch sind, dass Salvini gerade die italienischen Häfen an die Chinesen verkauft und wie es sein wird, wenn Trump wieder Präsident wird.

Als ich wieder auf die Uhr gucke haben wir dreieinhalb Stunden verquatscht, es ist schon 17:30 Uhr. “Ich muss leider los”, sage ich. “Bis nach Hause brauche ich fast vier Stunden”.

“Wo ist denn dieses “zu Hause”?”, fragt Francesca und fügt, wieder im Verhörton, hinzu: “Wohnst Du etwa bei dieser… Giulietta?”.
“Si”, sage ich kurz angebunden und ziehe meine Jacke an.

“Kennst Du die schon länger?”
“Si.”

“È la bella bionda di cui mi hai parlato?” Ist das die hübsche Blonde, von der Du erzählt hast?
“Si. Adesso è una rossa, ma si.”

“È la tua… ragazza?”, setzt Francesca nach.
“No.”

“Baaah?”, macht Francesca misstrauisch. “Non ti credo. I tuoi occhi brillano quando dici il nome della donna” Ich glaube dir nicht. Deine Augen strahlen, wenn Du ihren Namen erwähnst.“.

Ich überlege, was ich darauf erwidern soll und setze an zu einem “È un po´…”,   aber bevor ich den Satz zu Ende führen kann, geht Lucio dazwischen und sagt “Francesca, das geht uns gar-nichts-an! Lass den Jungen.”

Ich werfe ihm einen dankbaren Blick zu, und Francesca verzieht das Gesicht – Sie liebt Klatsch und Tratsch, so wie Lucio die Politik als Lieblingsthema hat.

Die Verabschiedung zieht sich, weil ich so oft versprechen muss wiederzukommen und meine “toskanischen Verwandten” zu besuchen. Es ist schon kurz nach sechs, als die Suzuki San Vincenzo verlässt wieder auf die Strada Statale gen Norden zieht und San Vincenzo im Rückspiegel kleiner wird.

Kurz entschlossen fahre ich die Strada Statale auch dann weiter, als sie hinter California mautpflichtig wird. Autobahnfahren ist zwar teuer und langweilig, aber damit lässt sich die Fahrzeit von vier auf zweieinhalb Stunden verkürzen. Ich habe mich zwar für heute Abend auf der Farm abgemeldet und werde nicht erwartet, aber trotzdem wäre ich gerne vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause.

Livorno, Viareggio, Forte dei Marmi und Carrara ziehen vorbei, bevor ich die Autobahn nach eineinhalb Stunden bei La Spezia verlasse und wieder in die Berge steuere. Über kurvige Straßen und mehrere Pässe geht es dann zurück zur Farm. Ich bin müde, aber selbst jetzt ist es immer noch ein Vergnügen, mit der V-Strom die Berge hinauf zu brettern. Das Motorrad schein von selbst in die Kurven zu fallen, so leicht steuert sie sich. Geradezu geschmeidig.

Man, wenn es mich jetzt erwischt, wird man mit das doofe Grinsen aus dem Gesicht meißeln müssen.

Die Strecke und die Ausblicke sind wundervoll, aber ich merke, dass ich von der Hitze echt erschöpft bin.

Als ich auf der Farm ankomme, liegt alles ruhig und verlassen dar. Kein Mensch ist zu sehen. Hier oben sind die Temperaturen wieder erträglich, rund 20 Grad sind es noch.

Ich stelle die V-Strom ab, schäle mich aus den nassen Motorradklamotten und dusche ausgiebig.

Die Motorradsachen sind WIRKICH nass. Als ich aus der Dusche komme, hebe ich die schwere Airbagjacke auf, die ich zuvor achtlos und mit dem Innenfutter nach unten auf den Boden habe fallen lassen. Ieh, was ist DAS denn? Auf dem Fußboden steht eine Pfütze. Offensichtlich Schweiß, der aus der Jacke gelaufen ist. Angewidert putze ich das weg und sprühe großzügig Febreze auf Boden und Jacke, bevor ich das Ding zum Trocknen auf die Bank vor der Tür lege.

Danach krame ich Waschmittel raus und wasche das schwarze Hemd. Schweißflecken waren in der Tat nicht zu sehen, aber jetzt hat es überall weiße Salzkrusten. Ich hänge es zum Trocknen nach draußen. Als ich mit allem fertig bin, wird es langsam dunkel.

Ich schmeiße mich in Jeans und Trekkingschuhe und laufe die zwei Kilometer bis in Bergdorf. Am zentralen Platz gibt es eine Osteria, die ziemlich gut sein soll.

Ich nehme im Außenbereich Platz und werde von der Bedienung sofort als nicht-Italiener identifiziert und auf englisch angesprochen – was wiederum sie als nicht-Italienerin verrät. “Bitte, mein Italienisch ist miserabel, ich brauche Übung”, sage ich und die Frau nickt freundlich und tut mir den Gefallen.

Die Speisekarte ist rein digital, lediglich ein QR-Code wird einem an den Tisch gestellt. Lokale Gerichte zu vernünftigen Preisen, so mag ich das.

Nach dem langen Tag heute und der Schwitzerei muss erstmal was trinken und bestelle nicht nur einen, sondern gleich zwei Liter Wasser. Danach entscheide ich mich für Tagliatelle mit Sugo Cinghale (Wildschweinsauce) als Primo und Coniglio mit Bratkartoffeln und einem Rotwein als Secondo.

Das wird von der Bedienung mit einer hochgezogenen Augenbraue quittiert. “Vino? Davvero? Non di birra?”
“Nein, kein Bier”, sage ich, “Ich passe mich an. Und selbst Deutsche können ohne Bier überleben. Zumindest für kurze Zeit”. Sie schaut skeptisch.

Die Tagliatelle sind ein Gedicht…

…und das “Coniglio” ist zartestes Kaninchen. Habe ich noch nie gegessen, ist fan-tas-tisch.

Alles ist super, und da ich weiß, dass das Restaurant auf Insta ist, poste ich ein paar Bilder in eine Story und tagge es darin. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, was ich damit auslösen werde.

Müde vom langen Tag und dem Rotwein wandere durch das nächtliche Dorf, und bewundere die Sehenswürdigkeiten. Den Dorfplatz. Den Baum. Und den Eisenwarenladen, der neben Schrauben und Wandfarbe auch verblichene Kartons mit Digitalwagen in seinem Schaufenster hat.

Ein handgemaltes Schild verkündet, dass es den Laden seit 1905 gibt und was man hier kaufen kann:

  • Glaswaren
  • Emaillen und Farben
  • Betten und Matratzen
  • Haushaltswaren
  • Holzbefeuerte Öfen
  • Elektrogeräte aller Art

Ein typischer hier-gibts-alles-Laden, der das Dorf mit allem versorgt, was man braucht. Was der Laden nicht hat, braucht man nicht. Solche Läden kenne ich auch noch, die meisten sind bei uns Ende der 80er verschwunden.

Die alte Kirche steht fast drohend in einer Wegbiegung.

Als ich durch den Wald zur Farm laufe, fällt mir vor Müdigkeit gar nicht mehr auf, wie schön diese Nacht schon wieder ist. Ich falle ins Bett und bin sofort eingeschlafen.

Tour des Tages: Vom Appennino Tosco-Emiliano durch die Garfagna nach San Vincenzo, dann Autobahn zurück. Rund 432 km und 7 Stunden.

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22 Gedanken zu „Kein Reisetagebuch (3): Meine toskanischen Großeltern, das Kaninchen und ich*

  1. Zu Deinem Satz “Ich habe eh Probleme mit den tiefen und unangenehmen Einblicken, die Social Media häufig erlaubt.”

    Das ist der Grund, warum es mich in sozialen Medien nicht gibt: Kein Facebook, Instagram, Discover, TikTok, Pinterest, Snapchat, Twitch oder X (Twitter).
    Ich lege großen Wert auf mein digitales Selbstbestimmungsrecht – durch einen Vereinskameraden, der bei der Polizei ist, auf meine Rechte aufmerksam gemacht. Viele geben durch die Nutzung der sozialen Medien diese auf und machen sich gläsern. Ich für meine Person möchte das nicht und deshalb NO.

  2. Ich war ja nur ein einziges Mal in der Toskana, im letzten Jahr……und habe mich gefreut, das Schild “La California” zu sehen. 🙂

    Besucht habe ich in der Zeit Bolgheri, Marina di Bibbona, Cecina in die westliche Richtung. Ich habe keine Ahnung, zu welchem Ort unsere Herberge eigentlich gehörte.
    Übergesprungen ist aber nur ein kleiner Funke. Vielleicht lag es aber auch an den Umständen und ich müsste noch mal hin.

  3. Ich kann das aus dem Bild nicht rauslesen, war nur daa Menü digital, oder konnte man so auch gleich alles bestellen?
    Ich finde diese Art, als Alternative, durchaus angenehm und nimmt meiner Meinung nach Druck für Gast und Bedienung raus.

    Schwierig mit Freundschaften, wenn Menschen in die falsche Richtung kippen. Im nahen Umfeld ist mir das zum Glück nicht passiert, daher war es bisher einfach Leute zu meiden.

      1. Ja klar, auch wenn es “nur” die 2 Stunden Tour war. Wir fanden die Höhle sehr interessant, insbesondere unser Junior. Sehr angenehm auch die konstanten 10,7°C um dem Körper zumindest für 120 Minuten Erholung von der toskanischen Glut zu gönnen.
        Eher zum fremdschämen war der Auftritt einer vierköpfigen Familie aus Hoyerswerda. Ich hab irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft die Guides ein “Don’t touch it!” in deren Richtung rufen mussten …

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