Kein Reisetagebuch (4): Platte mit Aussicht

Kein Reisetagebuch (4): Platte mit Aussicht

Kein Reisetagebuch. Heute passiert wieder nichts, aber das auf hohem Plateau. Es wird ein wenig geklettert und spaziert, und am Ende gibt es einen Notfall.

Dienstag, 16. Juli 2024
Es ist halb Acht, Terrasse vor der Blockhütte. Es ist bereits warm, die Sonne scheint, und heute verderben keine schlechtgelaunten Raucher die Stimmung. Rosanna und ich sind alleine.

“Haben Deinen Großeltern die Biscotti geschmeckt?”, fragt sie und stellt einen Caffé Doppio auf den Tisch den Frühstückstisch.

“Oh ja, sehr sogar”, lüge ich ohne rot zu werden. Tatsächlich haben meine “toskanischen Großeltern” die Kekse von Giuliettas Mamma gestern gar nicht aufgemacht. Aber dass die großartig sind, und Francesca und Lucio schmecken werden, daran besteht kein Zweifel.

Eigentlich flunkere ich also gar nicht. Ich greife der Wahrheit nur vor und zerre sie aus der Zukunft in die Gegenwart.

Heute morgen bin ich durch die Reihen der vielen, vielen Fischbecken und über die Ländereien der Farm gestrolcht und habe dabei noch zwei neue Seen entdeckt, die ich vorher noch nie gesehen habe.

“Die Anlage hier ist ECHT groß”, sage ich.

Rosanna lacht. “Das hier? Das ist GAR NICHTS. Das hier ist WINZIG.”
Ich mache dicke Backen.

“Das hier ist nur das Labor und die Versuchsanlage. Hier erprobt der Professore, Giuliettas Mann, neue Methoden und forscht. Die richtigen Zuchtanlagen sind viel, VIEL größer. Darin werden Fische in einer Anzahl gezüchtet, dass man damit Gewässer und Flüsse repopularisieren kann.”

“Äh”, gehe ich dazwischen, “Es gibt also Gewässer, wo Fische ausgestorben sind, und dann rückt der Professore an und besiedelt den ganzen Fluss oder See neu?”

“Ganz genau”, sagt Rosanna, “Bis vor zehn, zwanzig Jahren waren die italienischen Flüsse dreckig und tot. Jetzt sind sie sauberer, und nun müssen Fische neu angesiedelt werden. Auftraggeber sind die Regionen Italiens. Fische und Gewässer retten, das ist die persönliche Mission des Professore.” Sie putzt unsichtbaren Staub von einem der anderen Außentische.

“Er ist besessen von der Mission, schon von klein auf. Er hat überall Zuchtanlagen. Hier in der Gegend gibt es zwei, dann welche in den Abruzzen, eine weitere im Molise, eine bei Neapel, eine auf Korsika, eine in Kanada. Er reist ständig herum und kontrolliert die. Dazu die Forschung und die Kongresse und Vorträge und Initiativen und ein Podcast und was nicht noch alles. Wusstest Du, das er eine eigene Sendung auf RAI hat? “Fragen Sie Prof. Fisch”.

Sie lacht, dann stockt sie kurz. “Er ist ständig unterwegs. Manchmal nicht einfach für die Familie. Hier oben kann es ganz schön einsam werden. Giulietta hat die beiden Kinder häufig allein aufgezogen. Aber nun. Die sind jetzt fast erwachsen, und Giulie hat ihre Arbeit und ihre Freundinnen. Also alles gut. Alles bestens.”

Die V-Strom 800 prescht über die Bergstraße.
Mittlerweile kenne ich den Verlauf und weiß auch, was hier morgens los ist (nicht viel). Deshalb nehme ich die Kurven mit höherer Geschwindigkeit und probiere aus, wie fix die Maschine wirklich auf schnelle Lastwechsel reagiert, wo sie genau hingeht, wieviel Kraft und Balance ich einbringen muss.

Langsam taste ich mich an immer extremere Schräglagen heran und achte genau darauf, wie sich das für mich anfühlt und was das Motorrad macht. Um wirklich RICHTIG gut mit der neuen Suzuki zu werden, so wie ich es nach Jahren auf der Barocca war, muss ich die Kiste und wie sie auf was reagiert bis ins Detail kennen. Eine bessere Umgebung als hier kann man sich für solche Erfahrungen kaum wünschen. Der Asphalt ist perfekt und die Witterung wie für Testfahrten gemacht.

Stellt sich raus: Die Suzuki fällt fast von selbst in die Kurven. Das war auf den nicht-soooo-schlechten OEM-Reifen schon so, aber mit den Tourance Next II ist es nochmal besser.

Für ein Motorrad dieser Größe und mit diesem Gewicht ist das keine Selbstverständlichkeit, aber die 800er steht der Handlichkeit der 650er in nichts nach. Besser noch: Bremsmanöver gelingen schneller und präziser, dank der echt guten Bremsen, und das  Herausbeschleunigen ist mit dem kraftvollen Motor ein Vergnügen. Echt, ich habe bei noch keiner Suzuki so gute Bremsen und einen solchen Druck von unten heraus erlebt, auch nicht bei der 1000er oder der 1050er V-Strom.

Als ich gerade durch eine Kurve fetze, die in sich noch eine leichte Steigung hat und die ich mit einer Schräglage leicht außerhalb meiner Komfortzone nehme, kracht es plötzlich und tut einen ordentlichen Schlag. Irgendwas hat aufgesetzt, und die Fußraste schien es nicht zu sein. Interessant. Kriege ich das nochmal hin?

Rechts nicht, aber links, stellt sich raus, kann ich die 800er sehr schnell zum Aufsetzen bringen. Das liegt erstaunlicherweise aber nicht unbedingt an der Maschine. Wie ich später feststelle, setzt sie mit dem Seitenständer auf, genauer gesagt: Mit der Seitenständerverbreiterung, die ich da drangepfriemelt habe. Noch bevor ich mit der Fußraste auf den Boden komme, schrappt dessen Aluplatte über den Asphalt:


Das ist Käse, aber nicht dramatisch. Ich hatte eh erwartet, dass die Maschine aufsetzt. Die V-Strom 800 hat immerhin nur 15,5 cm Bodenfreiheit und zusätzlich noch einem Hauptständer. Die Geländeversion der V-Strom, die 800DE, hat 22cm, was mir aber zu hoch ist. Die alte 650er hatte 16,5 cm, was sehr gut passte.  Wurscht.

Ich fahre nach Castelnovo ne´Monti (wörtlich: Die neue Burg in den Bergen), was der einzige größere Ort der ganzen Region hier ist – bei 10.000 Einwohnern, wenn man die umliegenden Ortsteile und Weiler, die Frazioni, hinzuzählt.

Hinter dem Ort ragt  eine auffällige Felsformation in den Himmel, die ich nie wahrgenommen habe, als ich früher hier war. Kein Wunder, hat ja meistens geregnet.

Erst auf Insta bin ich darüber gestolpert.
Gefühlt sind in Italien alle auf Instagram aktiv.

Den Fels hier habe ich im Account von Antonetta entdeckt. Sie ist Fotografin, lebt in Castelnovo ne´Monti und knipst bevorzugt diesen Berg, besonders gerne bei Nacht, und unterlegt die Bilder und Videos immer mit dem absolut perfekt passenden Song. Echt, ihre Aufnahmen sind der Hammer. Antonetta gibt sogar Fotokurse.

Wenn ich das richtig verstanden habe, war sie früher Model – und das sieht man. Sie ist ein Jahr älter als ich, sieht aber zehn Jahre jünger aus, ist gertenschlank und sehr sportlich – kein Wunder, wenn sie dauernd die Berge hoch und runter flitzt. Keine Ahnung, was in dieser Gegend im Wasser oder in der Luft ist, das hier die schönsten Frauen Italiens herkommen. Aber nun, ich bin wegen des seltsamen Berges hier.

Seltsam ist er, weil der “Pietra di Bismantova” wie ein Fremdkörper aus dem Boden ragt und keine Spitze hat, sondern eine platte Ebene auf seinem 1.047 Meter hohem Haupt trägt.

Mein Ziel ist ein Parkplatz am Fuß des Bergs. Der müsste hier eigentlich schon bald in Sicht kommen.

“Jetzt links abbiegen”, sagt Anna und ich sehe eine Art besseren Feldweg, der an einem Hügel vor dem Felsen hochführt. “Nee”, denke ich. Der Parkplatz ist gut frequentiert, da MUSS eine ordentliche Straße hinführen. So eine wie die, auf der ich gerade fahre: Einspurig aber breit, mit nagelneuem Asphalt und sogar mit einer Radspur.

DAS muss die Straße zum Parkplatz sein, nicht dieser Feldweg da. Das ist bestimmt wieder eine von Annas skurrilen Abkürzungen, bei der man eine halbe Minute spart aber dafür durch einen Fluss fahren muss oder sowas.

Ich gebe Gas und überhole einen alten Fiat Cinquecento. Witzig, im Bild der Bordkamera sieht es so aus, als hätte die V-Strom einen Schnabel und würde den Kleinstwagen auffressen.


Passt irgendwie. Die spitze Front des Motorrads geht über in einen breiten Tank, von dem von beiden Seiten noch die Sturzbügel abstehen. Aus Sicht des Fahrers sieht das ein wenig aus wie Flügel, die nach links und rechts ragen. Dazu die schwarze Farbe… “The Crow” ist in meinem Kopf schon anders besetzt, aber wäre “Raven” ein guter Name für die V-Strom? Hm.

Ganz schön lange kurve ich nun schon im den Berg herum, bestimmt eine halbe Stunde. Das lässt sich schön fahren, und ich kann den Felsen aus allen Blickwinkeln bewundern – aber müsste der Parkplatz nicht schon längst erreicht sein? Und… kenne ich die Straße da nicht? Das sieht ja aus als wenn… Oh man, ich BIN wieder in Castelnovo ne´Monti! Ich bin wirklich einmal im Kreis gefahren und wieder da, wo ich angefangen habe! Genervt nehme ich die Kreuzung, an der ich zuvor schon abgebogen bin, und starte den Weg noch einmal.

“Jetzt links abbiegen”, sagt Anna wieder und dieses Mal folge ich ihrer Empfehlung und fahre den schlechten Weg hinauf. Keine zwei Minuten später habe den Parkplatz erreicht und stelle die V-Strom auf einem der Motorradparkplätze ab.

Die Suzuki trägt heute morgen wieder ihr volles Reiseornat mit Topcase und beiden Seitenkoffern. Darin verschwinden Jacke, Helm und Stiefel, und mit Trekkingschuhen an den Füßen und einem Wanderrucksack mit ausreichend Wasser auf dem Rücken geht es in Richtung der  Felswände.

Mit mir sind zwei italienische Moppedfahrer angekommen, einer davon mit einer alten V-Strom. Die beiden diskutieren, ob und wenn ja wie weit sie auf den Berg klettern. Für mich ist das keine Frage: Wenn ich schon den Aufstieg wage, dann gibt es das volle Programm, bis zum Gipfel!

Ich werfe nochmal einen Blick zurück. Sieht die Suzuki aus wie eine “Raven”? Oder doch eher wie eine “Nevica”? Hm.

Der Aufstieg beginnt direkt am Parkplatz. Ein Schild am Fuß einer steilen Treppe informiert über Wege auf den Felsen.

Na, dann mal los. Es sind schon wieder über 30 Grad und die Sonne brennt. Ich bin mit Lichtschutzfaktor 50 eingeschmiert und trage einen Hut, aber der macht es besonders unangenehm: Unter ihm sammelt sich sofort gefühlt literweise Schweiß, wenn ich ihn lupfe, sieht es aus, als wäre ich gerade von einer Wasserbombe getroffen worden.

Die Treppe führt zu einem Rifugio, einem Gasthof am Fuß des Felsens. Ein Stückchen weiter ist eine Kapelle dicht an den Felsen gebaut. Sie sieht neu aus und hybsch, auch wenn sie von Innen unspektakulär ist.

So, jetzt aber. Aufstieg. Da will ich hoch:

Wanderweg 697 weist einen einfachen Weg zum “Sommità”, zum Gipfel. Für die anderen, richtig schweren Wege braucht man gute Kondition und Kletterzeug.

Sofort nach der Kapelle hört der gekieste Teil des Weges auf. Jetzt wird es wilder, und steiler.

Aber die Belohnung erfolgt fast sofort. Ich bin noch keine zehn Minuten unterwegs, als ich von oben schon auf Castelnovo ne´Monti heruntersehen kann. Geiler Ausblick!

Aus dem Sandweg wird Geröllweg, und es wird noch ein wenig steiler.

…und noch ein wenig steiler…

…und noch ein wenig steiler, nun hängen Seile links und rechts des Weges, an denen man sich festhalten kann.

Wie ein Treppe ist der Weg jetzt, aber gar nicht anstrengend zu klettern und dann, hinter einer Biegung, stehe ich plötzlich schon auf dem Plateau, dass den Berggipfel darstellt. Wie lange war ich jetzt unterwegs? Zwanzig Minuten? Halbe Stunde? Piece of cake.

Ein älteres Ehepaar kommt mir entgegen. “Tutto a posto?”, fragen sie, alles in Ordnung?. Offensichtlich sehe ich aus, als würde ich gleich sterben, dabei geht´s mir eigentlich ganz gut. “Si Si Si”, beeile ich mich zu sagen, “tutto bene”.

Das Plateau ist eine große, ebene Fläche, die zu einem guten Teil von Wald bedeckt ist. Es gibt aber auch Wiesen, in denen Wege verlaufen.

Über einen der Wege gehe ich bis zum südlichen Rand des Felsen und spähe vorsichtig über die Kante. Der Ausblick ist… grandios.

Ein komisches Ding steht am Felsrand. Bei näherer Betrachtung handelt es sich um einen Pfosten mit angeschweißten Rohren. Simpel, aber super: Auf den Rohren steht sowas wie “Monte Ventasso, 1.727 Meter, 11 km” und wenn man durch das Rohr blickt, sieht man den 1.727 Meter hohen Monte Ventasso in 11 Kilometern Entfernung. Zauberei!

Ich wandere am Rand der Klippe entlang und kann mich gar nicht sattsehen.

Ach, ich habe ja die Pica dabei, die Mavic Air! Ein paar Drohnenaufnahmen wären doch cool.  Mitten in einer Wiese steht ein fast quadratischer Fels, wie ein Tisch, darauf kann ich sie zusammenbauen.

Ich gehe auf den Felsen zu und mache einen Schritt in die trockene Wiese hinein und stehe plötzlich in einem Schwarm Insekten. Ich blicke auf meine Füße und mache einen weiteren Schritt. Dutzende von Käfern, Fliegen und Spinnen steigen aus dem Gras auf und springen, fliegen und krabbeln davon. Meine Güte. SO war das in meiner Kindheit, in den frühen 80ern. Unfassbar, wie viele Insekten wir seitdem verloren haben. Hier oben gibt es keine unmittelbaren Abgase und keine Pflanzenschutzmittel. Die Spitze des Bergs ist wirklich ein Paradies für Pflanzen und Tiere.

Als ich den Steintisch erreicht habe, öffne ich den Rucksack und stecke mit schnellen Handgriffen die kleine Drohne zusammen. Als sie startbereit vor mir steht, bekomme ich plötzlich Zweifel. Hier oben ist es so friedlich, so ruhig – will ich diese Ruhe wirklich stören, indem ich hier mit einer Drohne rumkrajohle?

Ich überlege einen Moment, dann zerlege ich sie wieder. Nein, ich will den Frieden hier nicht stören. Und überhaupt, ist leicht windig hier oben, wäre doch doof, wenn die Drohne durch eine Böe verloren ginge, rede ich mir ein.

Ich setze mich auf einen Felsen und genieße den Ausblick noch ein wenig mehr, dann hole ich das Handy raus und schreibe Antonetta auf Insta.

“Ok, ce l’hai fatta. Dopo tutte le tue meravigliose foto, dovevo venire a vederle di persona. 😁”, schreibe ich. Ok, Du hast es geschafft. Nach all Deinen schönen Fotos musste ich herkommen und mir den Pietra di Bismantova persönlich ansehen.

Zu meinem Erstaunen antwortet die Fotografin augenblicklich.

“Hai fatto bene!! Ti è piaciuta?” Hat es Dir gefallen?

Ich: “Sì, mi piace molto. Sono adesso alla sommità” Ja sehr. Bin gerade noch auf dem Gipfel.

Antonetta: “Da lassù è bello! Anche se oggi fa un po’ caldino” Es ist wunderschön von dort oben! Auch wenn es heute ein Bisschen heiß ist.
Ich: “Finora ho congelato tutto l’anno. Mi fa piacere un po‘ di caldo 😁 in Germania piove da febbraio 🥶 Allora è perfetto!” Bis jetzt habe ich das ganze Jahr über gefroren. Ich bin froh über etwas Wärme 😁 seit Februar regnet es in Deutschland 🥶 Hier ist es perfekt!
Antonetta: “Sei venuto in vacanza?” Bist Du im Urlaub?
Ich: “Non proprio una vacanza. Ma una piccola pausa a un luogho nei dintorni” Kein echter Urlaub. Eher eine kurze Pause, in einem Ort in der Nähe.
Antonetta: “Quindi conoscevi già l’Appennino reggiano?” Also kanntest Du den Appennino Reggiano schon?
Ich: “Si. Mi piace molto la regione. Ecco perché ho cercato le foto su Instagram ed è così che ho trovato il tuo account. Tuttavia, questa è la prima volta che vengo qui da alcuni giorni. Ma non sarà l’ultima volta.” Ja. Ich mag die Region sehr. Deshalb habe ich auf Instagram nach Fotos gesucht und bin so auf Deinen Account gestoßen. Allerdings bin ich das erste Mal für ein paar Tage hier. Aber es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.

Antonetta: “Sono felice che ti piacciano questi luoghi! La prossima volta che vieni ci beviamo un caffè!” Freut mich, dass dir die Region gefällt! Wenn du das nächste Mal kommst, gehen wir einen Kaffee trinken!”

“Lo faremo, promesso! 👍”, das machen wir, versprochen, schreibe ich und stecke das Telefon weg.

Erstaunlich, wie schnell hier Verabredungen zum Caffé passieren.

Eine Stunde wandere ich auf dem platten Berg herum, bis ich mich von den Aussichten losreißen kann. Dann mache ich mich an den Abstieg.

Im Rifugio sehe ich die beiden Motorradfahrer, die mit mir zusammen angekommen sind, an einem Tisch Caffé trinken. Weiter als bis hierher haben sie es nicht geschafft, scheinen damit aber ganz zufrieden.

Zurück am Motorrad lasse ich Anna das nächste Ziel rechnen. der Ort Cerreto Laghi liegt rund 40 Kilometer südwestlich, ziemlich hoch in den Bergen. Eine Passstraße führt dorthin, die ich schon mehrfach gefahren bin. Jetzt will ich das Dorf sehen, aus dem Giuliettas Schwiegervater vor 70 Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1988 versucht hatte, unter Einsatz fast all seiner Mittel ein Skiparadies zu machen.

Mit Erfolg übrigens, Italiener machen gerne hier Skiurlaub. Zumindest wenn es denn schneit, was vergangenen Winter nicht der Fall war. Eine Katastrophe für die Region, die am Ende sogar Nothilfe vom Staat brauchte.

Der Schnee kam erst im April, als die Frühlingfeste stattfinden sollten. Aber dann schneite es gleich zwei Meter binnen 24 Stunden. Giulie und Sara, eine Nachbarin von ihr, haben mir Bilder geschickt die nach tiefstem Winter aussahen – und das im Frühsommer. Wenige Tage später schmolz das alles, Starkregen kam dazu und setzte Orte unter Wasser. Die nächste Wetterkatastrophe.

Um einen zentralen See herum reihen sich Hotels, Bars und Boutiquen für Sportzubehör. Wie Sölden in klein sieht das aus. Skipisten sind in den Wäldern angelegt, davor stehen stillgelegte Skilifte.

Eine Kreuzung kommt mir bekannt vor. Ach klar, hier guckt doch direkt eine Webcam drauf! Ich stelle mich in die Mitte der Kreuzung und winke, während ich einen Screenshot vom Livestream auf Youtube mache. Die Besucher eines nahegelegenen Cafés winken irritiert zurück.

Puh, ist das heiß. Über 30 Grad sind es jetzt, und bei jedem Schritt auf dem Kiesweg steigt Staub unter den Stiefeln auf. Fühlt sich an, als würde ich von Minute zu Minute mehr vertrocknen. Ich beschließe den Tag möglichst bald gut sein zu lassen und fahre zurück zur Farm.

Neben der Blockhütte hält der grummelige Arbeiter von gestern einen Wasserschlauch in die Blumenrabatten. Ich grüße freundlich, bekomme aber keinen Blick, sondern nur ein in den Bart gegrummeltes und verächtliches “Pa!” zurück.

Die Fische im großen Teich spielen ein seltsames Spiel, bei dem sie alle im Kreis immer enger umeinander schwimmen. Fisch-Wirbel.

In der kleinen Bar ist nur Giulies Mamma. Sie strahlt, als sie mich kommen sieht.
“Caro! Tutto a posto?”, ruft sie.

“Un’emergenza urgente!!! Ho bisogno di un gelato!! Subito!!”, antworte ich und grinse. Ich bin ein dringender Notfall, ich brauche unbedingt sofort ein Eis.

“Sei fortunato che io sia un medico d’emergenza!”, Hast Glück, das ich Ersthelferin bin, antwortet Annamaria und schwankt, mutmaßlich wegen einer schlimmen Hüfte, aus der Bar heraus und hinüber in die kleine Hütte mit dem Eistresen.

Sie zaubert einen großen Becher von ihrem selbstgemachten Eis zusammen, dann gehen wir zurück an die Bar und ich lehne mich an den Tresen.

“Tutto bene, caro?”, fragt sie.
“Ich bin glücklich, ich habe Eis”, sage ich. “Und bei Dir?”

“Ich klage nicht.”
“Viel Arbeit?”
“Immer.”
“Viele Gäste?”, will ich wissen.
“Heute? Weiß nicht. Ich bin nur für Eis und Kuchen zuständig”, sagt sie und lacht. “Giulie kümmert sich um die Gästebuchungen. Und auch sonst um alles. È una brava, la mia Giulietta”, Ist eine Gute, meine Giulie.

“La Migliore!”, die Beste, bestätige ich. Aktuell arbeitet Giulietta von 6:30 Uhr morgens bis 22:30 Uhr in der Nacht. Sechzehn Stunden am Tag. Keine Ahnung, wie man dabei weiterhin so locker, liebenswert, elegant, charmant und witzig bleiben kann.

Maria nickt. “Ich habe ja zwei gute Töchter. Die andere macht in “Esthetica”.
“Hä?”, sage ich.
“Esthetica. Weißt schon…”, Annamaria beginnt sich in einer Parodie von burlesker Verführung zu winden und mit den Händen an der Taille hinabzufahren. Dazu verdreht sie die Augen und haucht zum Abschluss auf ihre Fingernägel.

Ein Bild für die Götter. Jetzt weiß ich, woher Giulie diesen überdrehten Humor hat. Ihre Mutter ist eine Buffona, ein Scherzkeks. Das hier ist gerade Comdey pur.

“Esthetica…”, murmele ich und denke nach. Dann fällt es mir ein. “Du meinst Make-up? Ein Schönheitsstudio? Schminken, Nägel lackieren und sowas?”
Im Hintergrund kramt eine Mitarbeiterin in einem Kühlschrank herum und und ergänzt nahtlos “Genau, und Massagen.”
“Massagen!”, wiederholt Annamaria verdreht theatralisch die Augen gen Himmel. Ich schmeiße mich fast weg vor Lachen.

“Lebt sie auch hier?”, will ich wissen
“Nicht auf der Farm. Wir kommen ja alle aus einem kleinen Dorf in der Nähe. Hier sind wir nur her gezogen wegen…” Sie lässt den Satz in der Luft hängen und tut,  als ob sie nachdenken muss.

“…wegen der großen Liebe Deiner Tochter, dem Professore”, führt die Mitarbeiterin aus dem HIntergund den Satz zu Ende.
“…wegen der Liebe meiner Tochter”, sagt Annamaria, als wäre ihr das gerade eingefallen.
Buffone. Mit der Nummer sollten die beiden auftreten.

“Was machst Du heute noch?”, fragt Annamaria.

“Non faccio niente”, sage ich und zucke mit den Achseln, “Sono in Vacanze”.
“Pffh. Alle machen heute nichts. Giulie macht auch nichts, mit ihren Freundinnen. Mädelsabend.”
“Sei ihr gegönnt!, sage ich und verabschiede mich erst einmal. Ich brauche eine Dusche, den Schweiß und den Staub vom Bergwandern abspülen.

Als die Sonne untergeht, mache ich mich wieder auf den Weg ins Dorf. Dieses Mal werde ich in der Osteria sofort wiedererkannt und begrüßt, sogar freundlicher als gestern. Anscheinend freut man sich hier über Gäste, die nicht nur ein Mal kommen. Ich dagegen freue mich auf eine Pizza, aber die Bedienung zieht ein bedauerndes Gesicht. “Stasera solo il ristorante”.

Na gut, nehme ich halt handgemachte Tortellini.

Als ich nach Hause komme, ist es bereits wieder dunkel. Um die älteren Fischbecken, die in einem Nadelwäldchen stehen und die von Schilf gesäumt sind, fliegen wieder Glühwürmchen herum. Wie friedlich das hier ist.

Tour des Tages: Einmal um den Pietra di Bismantova und ein wenig Gurkerei, 104 Kilometer.

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10 Gedanken zu „Kein Reisetagebuch (4): Platte mit Aussicht

  1. Dankeschön!

    Zu: “…Aktuell arbeitet Giulietta von 6:30 Uhr morgens bis 22:30 Uhr in der Nacht. Sechzehn Stunden am Tag. Keine Ahnung, wie man dabei weiterhin so locker, liebenswert, elegant, charmant und witzig bleiben kann.” –> Wenn man etwas gerne, für sich macht und gelernt hat, mit Unabänderbarem zufrieden zu sein, passt das!

  2. Irgendwas setzt ja immer auf, das schleift sich dann weg 😉
    Ganz wichtig aber: Stell die Federbasis (aka Federvorspannung) korrekt ein. 25-30% Negativfederweg vom Gesamtfederweg. Tutorials gibts auch auf YouTube & Co.

    Ich vermute mal, du machst das sowieso.
    Aber evtl. lesen ja welche mit, denen das nicht geläufig ist.

    Gerade Enduros, die durchhängen wie ein Chopper, sieht man ja immer wieder. Und dann setzt natürlich auch früh was auf. Speziell auch dann, wenn vom (Solo) Alltagsbetrieb nicht auf Urlaubsgepäck/Sozius umgestellt wird 😉

  3. ….wäre “Raven” ein guter Name für die V-Strom?…

    (The) Raven ist bei mir fest verknüpft mit Alan Parsons Projects sehr coolem, gleichnamigen Stück von der Tales of Mystery and Imagination (Edgar Allen Poe).
    Unabhängig davon: Dieser Name für ein schwarzes Mopped? Ist vielleicht dann doch etwas zu (ich sage mal) einfach, auch mit Blick auf deinen sonst gepflegten Stil?
    Mir würde Nevica gefallen. Klingt frisch, freundlich und unverbraucht. Und macht neugierig, da die Herleitung nicht so auf der Hand liegt.
    LG, Jay

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