Kein Reisetagebuch (5): Tra Terra e Cielo
Kein Reisetagebuch. Heute mit Albrecht´schen Schlängelwegen zwischen Himmel und Erde, Tankstellen ohne Netz und meine mangelnden Sprachkenntnisse führen zu einem Duell.
Mittwoch, 17. Juli 2024
“Die Seen hier sind auch voll schön”, sagt Rosanna beim Frühstück und beginnt, jedes Gewässer im Umkreis von 50 Kilometern aufzuzählen. Ich höre mit halbem Ohr zu und spiele gedankenverloren mit einem Päckchen Zucker herum. Als ich mit dem Caffé fertig bin, will ich es wegpacken und lese dann erst, was darauf steht:
“Tra terra e cielo, nel cuore…”, steht darauf, “Zwischen Erde und Himmel, im Herzen des Nationalparks toskanischer-emilianischer Apennin”. Etwas sperrig als Slogan, aber ich finde den schön.
“Sag mal”, frage ich, “An der Straße hinter dem Ort habe ich ein Schild gesehen, auf dem die Telefonnummer von hier steht, in der gleichen Handschrift wie die Schilder auf der Farm. “B&B alte Flussmühle” – habt ihr da noch einen Gästebetrieb?
Rosanna schüttelt den Kopf. “Früher mal, bevor wir die Blockhütte hier gebaut haben. Jetzt nicht mehr. Die alte Mühle ist immer noch ein Gästehaus, aber aktuell wohnt da der Hausmeister”. Ah, das muss der grummelige Farmarbeiter sein.
Besagter Grummel steht gerade auf einer Leiter und streicht die Holzbalken der Blockhütte. Ich grüße freundlich. Ein patziges “´Giorno” kommt durch zusammengebissene Zähne zurück.
Immerhin eine Antwort. Hey, wir machen Fortschritte.
Heute will ich nur ein wenig Mopped fahren. Also, ich meine natürlich “Die V-Strom 800 weiteren Tests unterziehen”.
Einen See zu besuchen steht eh´ auf dem Programm, dazu eine verlassene Nato-Basis und eine alte Burg.
So leer die Gegend hier auf den ersten Blick scheint, bei genauerem Hinsehen ist sie voller Kleinode und angefüllt mit Sehenswürdigkeiten. Vermutlich könnte man in diesem abgelegenen, kleinen Teil der Welt Wochen zubringen und würde immer noch verwunschene oder interessante oder historisch bedeutsame oder ansonsten berühmte Orte entdecken. Gut, das trifft auf nahezu jeden Teil Italiens zu, aber hier ist es dazu noch wunderbar menschenleer.
Kurze Zeit später schrubbt die V-Strom die Berge hinauf. Die Straßen sind auch hier schmal und manchmal etwas brökelig, aber völlig ok. Es macht Spaß, die wendige Suzuki durch verdrehte Kurven zu steuern und durch die letzten kleinen Dörfer vor dem Nichts zu fahren.
Die Federung der 800er kam mir im Stand viel zu weich vor. Ich kann die V-Strom hinten mit einer Hand runterdrücken, das kam mir nicht koscher vor. Aber hier, unter realen Bedingungen, ist das Fahrwerk ziemlich gut. Es federt leichte Unebenheiten komplett weg, fühlt sich aber in Kurven straff und überhaupt nicht schwammig an, sowohl mit als auch ohne Gepäck. Für den Betrieb zu zweit, mit einer Sozia und dann ggf. noch Gepäck ist es aber definitiv zu weich.
Andere Fahrzeuge sehe ich so gut wie keine, sieht man von der gelegentlichen Ape eines Bauern ab oder von ihm hier, der seinen Hütehund Gassi führt, in dem er mit dem Auto nebenher fährt:
Das Nichts, das hinter den letzten Dörfern beginnt, ist einfach die leere Bergwelt. Die V-Strom summt über Berggrate und an an den Flanken der Hügel entlang und immer, immer wieder gibt es einfach richtig schöne Ausblicke.
Ein tiefer Seufzer. Was bin ich dankbar hier sein zu können. Anfang des Jahre ist mit klar geworden, dass ich die Menschen hier erst in eineinhalb oder zwei Jahren wiedersehen würde, mangels Zeit und eines Reisemotorrads. Ich könnte dem Suzuki-Händler immer noch auf Knien danken, der die V-Strom 800 so früh besorgen und ausrüsten konnte – ohne ihn wäre ich nicht hier, und hätte Giulie und die anderen erst im Herbst 2025 wiedergesehen. Aber nun fahre ich hier rum, auf einem neuen Moped! Manchmal kann ich das immer noch nicht ganz fassen.
An einer Weggabelung halte ich an und mache ein paar Bilder von der V-Strom 800. Wie sie da so steht, hinter sich nur eine Bergkette und darüber sofort der offene Himmel, ist sie tatsächlich “Tra terra e cielo”, zwischen Erde und Himmel.
Doch, ich bin wahnsinnig zufrieden mit der Kiste. Sie ist alles, was ich mir von einer Nachfolgerin der Barocca gewünscht habe, und mehr.
Nach einer Dreiviertelstunde komme ich am Campingplatz unterhalb des Lago Calamone an, einem bei den Einheimischen äußerst beliebten Wochenendziel. Dementsprechend oft gibt es Bilder davon auf Insta, und nun will ich mir den fotogenen Bergsee auch mal anschauen.
Ich lasse das Motorrad am Campingplatz stehen und stapfe in Stiefeln und Jacke den Berg hinauf. Hier oben ist es noch kühl, aber bald wird die Sonne auch hier für Sommertemperaturen sorgen.
Der Bergsee präsentiert sich auf den ersten Blick veralgt und nicht wirklich schön, aber das ist nur das eine Ufer. Als ich drum herum wandere, entdecke ich die schönen Seiten.
Okay, das war nett. In der Zwischenzeit ist es aber heiß geworden, und ich bin froh, als ich wieder auf dem Moped sitze und der Fahrtwind durch die Jacke geht und ich wieder Aussicht genießen kann.
Als nächstes steht die alte Nato-Basis an. Es handelt sich dabei um eine Basis für Langstreckenfunk, wie die auf Sardinien. Anders als Sardinien hat die Region Emilia-Romagna aber Mittel, um die alte Basis abzusperren und vor unbefugtem Zutritt zu sichern. Das Gelände soll dick eingezäunt und Videoüberwacht sein, heißt es. Nun, wir werden sehen.
Der Weg zur Basis führt durch Wälder und über Bergrücken und dabei über Straßen, die nun nicht mehr wirklich gut sind – der V-Strom ist das aber egal, die macht auch Schotter mit Schlaglöchern bereitwillig mit.
Die Hinweisschilder auf Durchfahrtsverbot im Nationalpark ignoriere ich, genau wie die Geländewagen-Fahrer, die ihre Fahrzeuge am Wegesrand geparkt haben. Der Asphalt wird erst brökelig, dann ist er nur noch zu erahnen, und dann ist die Fahrt abrupt vorbei. Rund drei Kilometer vor der Basis und am Fuß des Berges ist die Straße abgesackt.
Das ist kein Schlagloch, da ist einfach nichts mehr, auf mehreren Metern. In der Mitte der ehemaligen Fahrbahn ist eine Kuhle, bestimmt einen Meter tief, die nahtlos in einen Bergrutsch übergeht. Links geht es den Abhang hinab, rechts eine steil ansteigende Böschung hinauf. hier komme ich nur zu Fuß weiter. Will ich das? Nee. So groß ist die Neugier nun nicht, das ich mir hier in den Motorradstiefeln die Füße kaputt laufe. Ein andermal vielleicht, mit vernünftigen Schuhen.
Vorsichtig wende ich die V-Strom im Hang und halte dann auf einem Holzplatz an, um erst einmal was zu trinken. Meine Güte, ist das heiß.
Weiter geht es über mögliche und unmögliche Bergstraßen, über Asphalt und Schotter und das, was Albrecht gerne als “Schlängelwege” bezeichnet, mehr oder weniger befestigte Wege durch Wälder und über Berge.
“All Roads Merge”, ist der Webeslogan von Suzuki für die V-Strom 800, und sie haben recht. So lange man nicht versucht, mit der 800er ins Gelände zu fahren, ist alles gut. Straße mag sie, egal welcher Art – bröckelig, Schotter, alles kein Ding. In Schlamm oder Sand würde ich mit ihr aber nicht wollen.
Das Rumgeturne in der Pampa macht richtig Spaß. Die kurvigen Schlängelwege zu fahren und ist eine angemessene Testrecke für die Suzuki, aber auch anstrengend. Man kommt halt nur langsam voran, und es ist heiß, gerade in den tieferen Lagen. Echte Hundshitze.
Als ich endlich das alte Festungsdorf erreiche, das als letztes auf meiner Liste steht, bin ich zu müde und lustlos, um noch in der alten Burg herumzulaufen. Ich gebe stattdessen Gas und heize über den Pass, auf dessen anderer Seite, in 30 Kilometern Entfernung, die Farm liegt.
Als ich dort ankomme stelle ich fest, dass ich noch tanken muss. Kein Problem, direkt gegenüber ist eine winzige Automatentankstelle mit nur einer Zapfsäule.
Doof: Die nimmt zwar meine Kreditkarte, schafft es aber nicht eine Netzwerkverbindung aufzubauen und die Karte zu verifizieren. Drei Versuche nimmt sie sich Zeit, dann spuckt sie die Karte wieder aus. Heute steht wohl der Wind nicht günstig genug, als das Daten hier rüberwehen könnten. Nunja.
Leicht genervt mache ich mich auf den Weg zur nächsten Automatentankstelle. Die ist ja nur dreißig Kilometer weit weg.
Das ist halt der Preis des menschenleeren Friedens hier: Die Infrastruktur sehr weitmaschig. Nicht nur Tankstellen, alles. Supermärkte gibt meist im Umkreis von 30 bis 50 Kilometern, aber Kleidungs- oder Elektrogschäfte sind eineinhalb Stunden weg. Im Sommer. Im Winter schneit man auf den kleinen Dörfern hier schnell ein – und ja, ich kann mir vorstellen, dass man sich dann hier schnell einsam fühlt.
Im Sommer ist die Region hier wenigstens zugänglich. Aber ohne Menschen wie Giulie oder die Besitzerin der Osteria im Dorf, die Events organisieren und hier Kultur und Leben reinbringen, wäre es hier auch in der warmen Jahreszeit deprimierend tot.
Bis zur nächsten Tankstelle komme ich mit dem Sprit im Tank noch. Der Tank der 800er fasst mit 20 Litern rund zwei Liter weniger als meine alte 650er, und sie lässt sich auch nicht ganz so sparsam fahren wie die Vorgängerin. Die Barocca brauchte auf hundert Kilometer im Schnitt über ihre Lebenszeit 4,13 Liter. Im Kriechgang, auf dankbaren Etappen, lag der Verbrauch bei 3,8 Litern. Damit hatte die 650er eine Reichweite von maximal 550 Kilometern.
Die V-Strom 800 nimmt sich bei meinem Fahrprofil im Schnitt 4,22 Liter und reicht damit maximal 450 Kilometer weit. Interessant sind zwei Dinge: Zum einen bekomme ich sie nicht unter vier Liter, egal wie vorausschauend ich fahre. Zum anderen fängt sie aber auch nicht an wie irre zu saufen, wenn man Autobahn über 130 fährt. Die 650er nahm sich dann gerne bis zu sechs Litern, bei der neuen 800er geht der Verbrauch nur moderat auf 4,7 Liter hoch.
Der Schnittverbrauch liegt auf jeden Fall niedriger als befürchtet, was mich freut. Ich hatte schon echte Sorgen, als das erste Mal schon nach 80 Kilometern der erste Teilstrich von der Tankanzeige verschwand – aber das ist halt so, der Computer rechnet in 80 Kilometer schritten. Auch seltsam: Wenn das Instrument anzeigt, dass die Kiste kurz vor Reserve steht und tanken möchte, sind noch 5 Liter im Tank. Das reicht also locker für über 100 Kilometer.
Die zweite Tankstelle zickt nicht rum, und vollgetankt geht es nun zurück zur Farm, wo ich erst unter die Dusche und dann auf´s Bett falle und ein wenig lese. Und die Augen ausruhe. Einfach mal relaxen. Draußen schwankt Annamaria auf der Hunderunde vorbei.
Gegen halb sechs werfe ich mich in Zivilklamotten und dödele den Berghang zur Bar hinauf. Giulie kommt mir entgegen. Sie trägt ein kurzes, schwarzes Sommerkleid und eine dunkle Pilotenbrille und sieht hinreißend aus. “Ich fahre einkaufen, nachher bin ich wieder da”, ruft sie im Vorbeigehen, springt in ihren Jeep und braust davon.
In der Bar sitzt Annamaria hinter dem Tresen.
“Caro! Hai dormito?”
“Geschlafen? Ich? NIE!”, rufe ich empört.
“Eisnotfall?”
“Heute brauche ich keine Ersthelferin. Aber es ist Aperitivo-Zeit. Ich nehme einen Spritz.”
“Campari oder Aperol?”
“Wassen das für eine Frage?”
Sie lacht und fängt an einen Aperol Spritz zu mischen.
Mit dem Kaltgetränk ziehe ich mich auf die Veranda zurück, lese und schaue ab und an über die Berge. Meine Güte, ist das schön hier.
Ich bin glücklich. Nicht nur, weil ich gerade nicht an die Arbeit denken muss oder weil die Landschaft hier so schön und alles so friedlich ist. Sondern vor allem wegen der Menschen hier.
Als Giulie wieder da ist und im kleinen Gästeraum der Bar, umgeben von ihrer Mamma und einer Aushilfe, am Computer sitzt und arbeitet, schlendere ich hinüber.
Locker an den Türrahmen gelehnt frage ich “Avete qualcosa per cena per me?”, Habt ihr was zum Abendessen für mich?
Giulietta sieht mich mit großen Augen an und sagt dann mit kaltem Ernst und sehr schnell etwas, das ich nur zum Teil verstehe. Klingt wie “Tutto…. Mangiamo… Noi”
Ich versuche in Gedanken den Satz auseinander zu pflücken. Alles… wir… essen.
Hm. hat sie mich gerade zum Abendessen mit ihrer Familie eingeladen? Sicher nicht, das wäre strange.
“Haste nicht verstanden, oder?”, fragt sie, steht auf und kommt näher.
Sie bewegt sich dabei wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirscht. Dabei wiederholt sie den Satz, in der gleichen Schnellfeuergeschwindigkeit und dem gleichen Ernst wie vorher. Das macht es nicht besser, ich verstehe das einfach nicht.
“Hä?”, mache ich.
In gespielter Verzweiflung wendet sich Giulietta zu den Frauen um, schüttelt den Kopf und wirft die Hände in die Luft. Was sollen wir mit dem Trottel anfangen, er versteht´s einfach nicht.
Sie unternimmt einen neuen Anlauf und erklärt sehr langsam und in anderen Worten:
“Alles, was wir hier zum Essen haben…”, sie macht eine allumfassende Geste, deutet auf die Kuchen und Waffeln in der Auslage und die belegten Tramezzini im Kühlschrank. Dann schaut sie mich an. Ich nicke, das habe ich verstanden.
Sie schaut wieder wie ein Raubtier, setzt sich mit katzenhafter Langsamkeit in Bewegung und wiederholt “Alles, was wir hier zum Essen haben…”
Sie springt unvermittelt auf mich zu und ruft “ESSEN WIR SELBST! Für Dich bleibt nichts übrig!”.
Ich bin nicht zurückgezuckt, als sie den Satz nach vorn gemacht hat.
Jetzt stehen wir uns gegenüber, regungslos, die Nasenspitzen eine Handbreit auseinander.
Sie fixiert mich mit ihren grauen Augen und schaut todernst.
Ich starre unbewegt zurück.
Sie steht völlig regungslos.
Ich rühre keinen Muskel.
Die Zuschauerinnen am Ende des Raumes verfolgen das Duell in gebannter Stille.
Giulie starrt weiter.
Ich verenge die Augen zu Schlitzen und hebe das Kinn, ohne den Augenkontakt zu brechen.
Von oben herab schaue ich sie an und mache “Hm.”
Sie hält den Blick mit völlig unbewegtem Gesicht.
Dann macht sie, unvermittelt und ohne dabei eine Miene zu verziehen, leise
“Boop”.
Und dann können wir beide nicht mehr an uns halten, prusten gleichzeitig los und sinken uns in die Arme. Auch Mamma und Aushilfe schütten sich aus vor Lachen.
Buffone.
Kurz darauf habe ich ein Abendessen aus Pommes und frittiertem Fisch mit Zitrone. Das ist gar nicht mal so gut, aber zumindest habe ich das mal probiert. Und letztlich kommt es ja nicht nur auf das Essen an, sondern auch auf die Gesellschaft.
Schneller als nötig kriecht die Dunkelheit über die Berge, und die Nacht legt sich über die Landschaft.
Der letzte Abend. Die letzte Nacht.
Ich vermisse das hier jetzt schon.
Tour des Tages: 150 Kilometer Hunderunde über Schlängelwege.
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4 Gedanken zu „Kein Reisetagebuch (5): Tra Terra e Cielo“
Es freut mich, daß du an Schlängelwegen Teil?(Gefallen)
findest. Klar kommt man nur langsam vorwärts, dafür entschädigt oft versteckte Schönheit welche man finden kann, dazu sehr oft verkehrsarm.
Ja, sicher sind die Verkehrsarm! Weil da niemand freiwillig lang fährt 😁
Wieder ein wunderbarer Bericht, der einen mitnimmt, fesselt und mir das Gefühl gibt, dabei gewesen zu sein!
😊