Reisetagebuch Japan 2024 (1): Kein Bock

Reisetagebuch Japan 2024 (1): Kein Bock

Wie kann man keine Lust haben nach Japan zu reisen? Das Reisetagebuch beginnt mit einem sehr stolperndem Start – und mit einem Klassiker: Ich sperre mich irgendwo ein und komme nicht mehr raus. Die Tour findet ohne eigenes Motorrad statt, deshalb erscheint nur dieser Teil im Motorrad-Blog-Reddit. Als Hinweis, quasi. Jeden Samstag erscheint ein neuer Teil des Reisetagebuchs, dafür gibt es aber keinen Reddit-Eintrag mehr.

November 2023 bis August 2024

Kein Bock.

Ich habe einfach. Keine. Lust.

Keine Motivation, in irgendeiner Art diese Reise vorzubereiten.

Und das mir!

Ich bin normalerweise der, der großen Spaß daran hat, jedes Detail einer Reise im Vorfeld auszuknobeln. Allein schon deswegen, um möglichst viel rauszuholen und keine Zeit zu verschwenden.

Und nun? Habe ich die größte und längste Tour meines bisherigen Lebens vor mir, und ich habe keinen Bock mich darum zu kümmern.

Bereits im November 2023 buchte ich einen Flug nach Japan für den Oktober 2024, und legte ganz enthusiastisch eine Planungstabelle und kramte die Reiseführer wieder raus und dann… hatte ich keine Lust die zu lesen. Andere Dinge waren wichtiger, und nach der Arbeit war ich einfach zu müde um mir Dinge auszudenken. Wintermüdigkeit, dachte ich im Dezember 2023.

Auch im folgenden Januar und Februar und März hatte ich keine Lust auf Reisevorbereitungen. Das machte mich aber nicht nervös oder unzufrieden – irgendwann, da war ich mir sicher, würde die richtige Zeit kommen, und mit ihr die Motivation, und dann ginge bestimmt alles ganz schnell und wie von selbst.

Spoiler: Tat es nicht.

Statt mich um darum zu kümmern was ich einen Monat lang in Japan tun wollen würde, sehnte ich mich nach Besuchen auf gewissen italienischen Bergfarmen und klöppelte an einem neuen Moped herum. Das musste natürlich im April und Mai auch gefahren werden.

Im Juni saß ich auf dem Balkon, die aufgeschlagenen Reiseführer auf dem Schoß, und träumte mit offenen Augen vor mich hin.
Im Juli stand dann eine kurze Fahrt nach Italien an, und im August schrieb ich lieber darüber als mich um Japan zu kümmern.

Was hatte ich in der Zwischenzeit hinbekommen? Nicht viel. Immerhin hatte ich eine Idee gehabt: Japan ist ja ganz schön groß und besteht aus tausenden Inseln, aber es gibt ein “Festland” aus vier großen Hauptinseln. Die strecken sich über fast 2.000 Kilometer, und ich wollte, so die Idee, vom nördlichsten Punkt bis zum südlichsten reisen.

Eine durchaus interessante Reise. Hier sieht man, wie groß Japan ist. Die nördlichste Insel liegt auf Höhe von Deutschland, das Südkap der Hauptinseln schon in Nordafrika. Eine Tour vom mitteleuropäischen Herbst bis nach Ägypten.

Die Fortbewegung? By any Means, also mit jedem Verkehrsmittel was in Frage käme.

Ganz nett, diese Idee.

Um die vorzubereiten hätte man Wochen und Monate in die Vorbereitung stecken können. Die Zeit hatte ich aber nicht mehr, und ehrlich gesagt fehlte auch immer noch die Lust mich damit zu beschäftigen. Aber immerhin schaffte ich es mit diesem roten Faden quer durchs Land Unterkünfte zu buchen, wenn auch eher uninspiriert.

Tja und dann rauschte der September vorbei und zack, jetzt sitze ich hier im Stadtbus, der mich zum Bahnhof bringt. Es ist regnerisch und kühl und die ersten Bäume verlieren die Blätter, aber noch ist der Herbst nicht voll angekommen.

02. Oktober 2024, Götham
Jedes große Abenteuer sollte mit einem kleinen Kaffee beginnen, so will es die Tradition.

Das Abenteuer beginnt direkt danach und heißt Deutsche Bahn. Die gibt heute wieder alles. In den 15 Minuten die ich am Bahnsteig stehe, pladdern im Sekundentakt Ansagen zu verspäteten, ausgefallenen oder anders als geplant fahrenden Zügen aus den Lautsprechern.

“…Grund sind Verzögerungen im Betriebsablauf…”

“…Grund ist eine Verspätung aus vorheriger Fahrt….”

“…Grund ist eine verspätete Bereitstellung….”

“…Grund ist eine Störung an einem vorausfahrenden Zug…”

“…Grund ist eine Reparatur an einem Signal…”

“…Grund ist eine Störung am Zug…”

Mein Zug hat nur 15 Minuten Verspätung und gilt damit als pünktlich. Allerdings fährt er verkehrt herum und mit weniger Wagen als geplant, was erst zu einem Massensprint aller Reisenden von einem Bahnsteigende zum anderen führt, dann zu langen Gesichtern, weil sich einige Türen nicht öffnen lassen und dann zu Konfusion, weil natürlich alle Reservierungen (die pro Stück 5,20 Euro kosten) weg sind.

Das von acht Toiletten sieben defekt und geschlossen sind, fällt da kaum noch auf. Echt, wenn es nicht so traurig wäre, wäre dieser Zirkus fast lustig – man kann Bahnfahren in Deutschland echt als abenteuerlich begreifen.

Nunja, mir ist das egal. Ich habe das Versagen der Bahn antizipiert, wie die Franzosen sagen. Ich bin darauf vorbereitet, dass nichts klappt. Ich buche Züge immer so, dass der erste komplett ausfallen kann und ich mit dem Folgezug immer noch pünktlich am Ziel bin. In diesem Fall habe ich sogar so viel Zeit, dass die gesamte Bahn komplett abfackeln könnte, und ich hätte immer noch genug Zeit mit einem Mietwagen zum Flughafen Frankfurt zu kommen. Da will ich nämlich hin.
Von dort geht um 19:50 Uhr der Flieger nach Japan.
Jetzt ist es 12:30 Uhr.

Erstaunlichweise bleiben weitere Katastrophen aber aus, und mit nur noch 10 Minuten Verspätung fährt der Zug um 14:00 Uhr in den Fernbahnhof des Frankfurter Flughafens ein.

Jetzt habe ich wirklich viel Zeit und stehe erst mal 45 Minuten vor dem Flughafen rum.
Frische Luft schnappen, Landschaft angucken und frierende Raucher beobachten. Mein Rucksack steht auf einer der steinernen Bänke.

Das ist ein Cabin Max. Hat mir Kalesco empfohlen, vor Ewigkeiten, und ich liebe die Dinger. Der Rucksack ist von den Maßen her exakt auf die erlaubte Handgepäckgröße der meisten Fluglinien ausgelegt. Mein Cabin Max ist übrigens ein ganz spezieller. Der “Metz XL” wiegt mit etwas 1.200 Gram etwas mehr als die Standardmodelle. Dafür öffnet er besser, hat versenkbare Tragegurte und mehr Taschen. Falls ich viele Einkäufe mache, kann er über eine Dehnungsfalte sein Volumen um 10 Liter von 45 auf 55 Liter erweitern. Dann ist er kein Handgepäck mehr, aber immerhin.

Der Rucksack wiegt siebeneinhalb Kilo. Den zu transportieren ist eine Leichtigkeit. Damit werde ich in Japan nicht keinen Hassle haben, anders als mit einem Rollkoffer, der in den notorisch überfüllten U-Bahnen echt nicht nett zu transportieren ist. Und natürlich spare ich mir am Flughafen auch das Aufgeben und die Abholung des Gepäcks und laufe nicht Gefahr, dass es verloren geht.

Noch fünf Stunden bis Abflug. Ich wandere durch das Flughafengebäude und bestaune die Konstruktion der Dächer und beobachte Menschen.

Reisende eilen vorüber. Viele von ihnen sehen Mega-nervös aus. Kann ich nachvollziehen. Gerade bin ich ganz ruhig, aber Flugreisen machen mich auch immer nervös. Nicht, weil ich Flugangst hätte – da bin ich völlig unbelastet – sondern weil ich Angst habe, etwas falsch zu machen. Ich fliege so selten, dass ich mir nie merken kann, wie das mit Checkins, Boarding Passes, Terminals und Gates funktioniert. Deshalb schreibe ich das jetzt auch hier auf, dann kann ich nämlich später mal nachschauen.

Meinen Checkin habe ich über die Website von Japan Airlines machen können, mit denen fliege ich heute. Das ging aber auch erst 24 Stunden vor Abflug – davor kam eine Nichtsagende Fehlermeldung nach dem Motto “Wir kennen Dich nicht, geh weg”. Das machte mich schon nervös, zumal ich den Flug über FinnAir gebucht habe (was früher mal billiger war, jetzt aber nicht mehr). Hatte FinnAir meine Daten verbaselt und Japan Airlines wusste nichts von mir? Nein, exakt 24 Stunden vorher funktionierte alles, und ich bekam einen QR-Code für das Wallet im Smartphone zugeschickt und, als Alternative, ein PDF mit einer Bordkarte zum selbst Ausdrucken.

Der Bahnhof ist voller kleiner Geschäfte, die Imbisse und Getränke anbieten. Zu Fantasiepreisen. Eine kleine Flasche No-Name-Wasser kostet 3,50 Euro, ein simples Brötchen mit Käse fast 8,00 Euro. Ich zucke mit den Schultern und nehme irgendwann den Shuttlebus, der den Bahnhof und das dahinterliegende Terminal 1 mit den Terminals 2 und 3 verbindet.

In Terminal 2 wird das Gate für meinen Flug bereits angezeigt. Von Störungen ist nichts zu sehen. Sehr gut. Es gibt keine Verzögerung, es streikt niemand und anscheinend klebt heute auch keiner auf dem Rollfeld.

Überall stehen hier Automaten rum für Auto-Checkins. Muss ich das auch machen? Ich glaube nicht.

Ich schlendere in die erste Etage und schiebe meinen Reisepass in eine Säule vor einer Glastür. Das Lesen des Passes gelingt sofort – anscheinend sind das neue Geräte, vor fünf Jahren was es ein elendiges Geduldsspiel, bis der Scan endlich klappte. Die Glastür scannt mein Gesicht und schwenkt dann nach hinten. Jenseits der Glastür liegt eine Ladenzeile mit Luxusboutiqen. Wer kennt ihn nicht, den Drang, kurz vor dem Abflug noch schnell eine Rolex zu kaufen.

Eine Gruppe indischer Flugbegleiterinnen läuft vor mir durch den Gang. In ihren farbenfrohen und identischen Saris sehen sie aus wie eine Tanzgruppe auf dem Weg zu einer Party.

Neben einigen Cafés und einem Burgerking liegt schon die Sicherheitsschleuse. “You go through, you are locked in”, sagt der Sicherheitsmann gerade zu einem anderen Fluggast. “No restaurant inside, no cafes”.

Guter Hinweis, dann setze ich mich noch ein wenig in den Burger King. Amüsiert nehme ich zur Kenntnis, dass die Probleme der Systemgastronomie noch die selben sind wie bei meinem Ausscheiden vor 20 Jahren: Eismaschine ist kaputt und Salate sind nicht vorrätig. Mit einem Wasser ziehe ich mich in eine Ecke des Ladens zurück und lese. Ieh, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich durch einen Papp-Strohhalm trinke. Das ist ja wirklich eklig.

Damit ist wieder eine Stunde rum.
15:40 Uhr.
Noch vier Stunden.

Als wer ich wohl zurückkommen werde? Jede Reise verändert einen ja ein wenig, und ich bin gespannt wie mich fünf Wochen in einem Land, dessen Sprache ich nicht spreche und dessen Schrift ich nur zum Teil lesen kann, verändern werden.

Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und gehe doch durch das Sicherheitsgate. Das ist modernisiert worden, man muss elektronische Geräte und Kosmetika nicht mehr auspacken. Alles kann im Gepäck bleiben, das wird dann als Ganzes duch den Scanner geschoben. Habe ich mir jetzt ganz umsonst die Mühe gemacht ordentlich und mit System zu packen?

Auch die Personenuntersuchung passiert Berührungslos. Lediglich die Hosenbeine muss ich kurz lupfen, damit ein Sicherheitsmensch meine Socken inspizieren kann.

Ich setze mich in eine Ecke neben einem Spielplatz und warte weiter.

Ich stelle schon mal meine Uhr um. In Deutschland ist es 17:45 Uhr. Japan ist der Sommerzeit gerade sieben Stunden voraus, dort ist es 00:45 Uhr.

Um 18:15 Uhr öffnet die Wartelobby von Gate D1, und damit gibt es auch Sitzplätze für die eintrudelnden Passagiere.

Ich müsste mal auf die Toilette, aber hier ist es wie bei der Deutschen Bahn: Toilette im Gate ist defekt, und wenn ich außerhalb auf´s Klo gehe, muss ich noch einmal durch die Sicherheitskontrolle – wo es jetzt sehr voll ist. Also halte ich ein und aus. Draußen geht die Sonne unter.

Der Wartebereich des Terminals ist nun gerappelt voll, und immer noch kommen Menschen nach.

Um zwanzig nach sieben, und damit 20 Minuten vor dem geplanten Abflug, geht auch endlich das Boarding los. Erst jetzt bemerke ich, dass alle außer mir eine hochglanzgedruckte Karte aus Papier in den Händen halten mit dem JAL-Logo und ganz vielen Angaben darauf. Ich habe nur einen räudigen QR-Code im Handy. Habe ich was falsch gemacht? Hätte ich mit meinem QR-Code an den Selbstbedienungsautomaten im Terminal so eine Karte ausdrucken müssen? Leichte Panik steigt in mir auf. Darf ich jetzt nicht mitfliegen, weil ich keinen Schnibbel aus Papier habe und es jetzt zu spät zum Ausdrucken ist?? Das kann auch nur mir passieren, einen halben Tag vor Abflug am Flughafen sein und dann keine Zeit mehr haben eine Bordkarte zu drucken!!

Stellt sich raus: Nein, alles OK. Der QR-Code im Wallet des Handys reicht völlig aus. Der wird direkt an der Tür zum Flugzeug zusammen mit meinem Reisepass gescannt, dann darf ich an Bord. Auf dem Weg ziehe ich ein kleines Slingpack aus dem Rucksack. Da drin ist alles, was ich für die folgenden 11 Stunden Flug benötigen werden. Der Cabin Max, dessen Größe und Gewicht niemand kontrolliert hat, schrumpft gleich nochmal um ein ordentliches Stück.

Ich habe mit 55A einen Fensterplatz in der Economyklasse. Den nehme ich in Beschlag in dem ich das Slingpack darauf werfe. Der Cabin Max verschwindet im Fach über dem Platz, und ich auf´s Klo.

Erleichtert und wieder am Platz stelle ich fest: Die Sitze sind leider nicht mehr gut. Es gibt keine Kissen mit Mulde mehr für den Kopf und die Sitzfläche ist mittlerweile arg durchgesessen und hart. Auch ordentliche Nackenkissen, wie beim letzten Mal, gibt es nicht mehr. Nur noch so kleine Lökerdinger:

Fußraum ist auch nur auf Ryanair-Niveau, alles ist eng und für kleine Leute. Reicht mir aber, ich habe keine langen Stelzen. Und meine kurzen Stelzen stecken sogar ein Kompressionsstrümpfen, nur zur Vorsicht.

Immerhin ist das Essen gut, gegen 21:00 Uhr wird Misosuppe gereicht, dann Lachs in Dillsauce und dazu Gnocchi und Salat. Als Dessert gibt es Himbeereis mit Fichtengeschmack(!) – I kid you not.

Das Entertainmentprogramm beschränkt sich leider auf die Filmauswahl von Disney+, neue Kinofilme gibt es nicht. Gelangweilt gucke ich “Bad Boys” und kämpfe ein wenig mit dem halb kaputten Kopfhöreranschluss in der Armlehne. Als um 22:30 Uhr das Licht in der Kabine gedimmt wird, mache auch ich die Augen zu.

Richtig schlafen geht nicht. Dazu ist der Sitz zu unbequem. Schlimmer noch: Weil ich dachte es gäbe Nackenkissen, habe ich darauf verzichtet eines mitzunehmen. Jetzt fällt mir dauernd der Kopf auf die Brust oder bummst gegen die Kabinenwand. So winde ich mich im Sitz herum und döse immer wieder weg, nur um sofort wieder hochzuschrecken.

Außerdem wird es kühl, aber hier hilft immerhin die kleine Decke, die unter dem Sitz lag. Trotzdem bin ich gerädert, als um sechs Uhr das Licht wieder angeht. Über zehn Stunden sind wir schon unterwegs. Erstaunlicherweise muss ich erst jetzt die japanische Dame neben mir bitten mich raus und auf die Toilette zu lassen.

Draußen geht die Sonne auf. Wir sind über China, verrät das Fluginformationssystem. Mit über 900 km/h rast das Flugzeug in 12 Kilometern Höhe bei Minus 52 Grad Außentemperatur dahin. Krass.

Früher flog man über Russland und die Mongolei, wegen des Ukrainekriegs geht der Flug nun über die Türkei, Kasachstan und China und dauert deshalb eine Stunde länger. Ich nestele an der FFP3-Maske rum, die ich außer während der Mahlzeiten die ganze Zeit trage. Ich hatte noch nie Corona, und diese Tradition würde ich gerne noch etwas fortsetzen. Apropos Mahlzeit, als Frühstück gibt es Egg Benedikt, Gebratene Sausages und Tomaten, Spinat, Joghurt, ein Minicroissant und Obst. Verhungern tut bei Japan Airlines niemand.

Die Landung ist schnell und unkompliziert. Nach fast 14 Stunden Stunden setzt der Boing 787 Dreamliner um 16:00 Uhr Ortszeit, was 09:00 Uhr morgens in Europa entspricht, auf dem Flughafen in Narita auf.

Noch während das Flugzeug zum Gate rollt, setze ich die japanische SIM ein, die ich schon in Deutschland gekauft habe. Die läuft sofort.

Hoffen wir mal, dass das funktioniert – nicht, dass ich bei meiner Rückkehr eine Telefonrechnung über 10.000 Euro bekomme. In Japan gilt nämlich der EU-Roaming-Schutzschirm nicht. Darauf weist die Telekom in einer SMS hin, in der sie auch gleich noch versucht einen Daten “DayPass” zu verhökern – 100MB für 2,95, alternativ 8 GB für 44,95. Gespräche kosten 2,99 pro Minute und eine SMS 49 Cent. So ist das, wenn es keine Regulierung gibt und der Markt regelt.

Mit dem Handy in der Hand stürme ich aus dem Flieger und zum Immigration-Schalter. Hier leiten einen ältere Herren in Warnwesten an seltsame Geräte, an denen Pass und Gesicht und Fingerabdrücke gescannt werden. Dann geht es weiter an einen Tresen, wo der Reisepass kontrolliert wird und eine Eigenerklärung abgegeben werden muss, dass man keine Waffen oder Drogen ins Land bringt und wo man nach der Ankunft wohnen wird.

Früher machte man das über kleine Formulare, die man im Flugzeug ausfüllte, heute ganz bequem vor der Reise über die Website “visitjapan”. Dort klimpert man alles in Ruhe und vor dem Abflug ein, dann bekommt man einen QR-Code, den man bei der Passkontrolle und der anschließenden Zollprüfung vorzeigt, und schon ist man durch. Völlig stressfrei.

Woah, geschafft. Vor mir liegt die große Ankunftshalle. Sieht besser aus als 2019. Damals waren die Wände offen und unverkleidete Heizungsrohre waren überall zu sehen, das wirkte wie eine Baustelle. Heute ist alles hybsch.

Da ich nicht auf Gepäck warten muss, kann ich gleich eine Rolltreppe ins Unterschoss nehmen. Hier ist gleich rechts ein 7Eleven Supermarkt mit einem Geldautomaten. Der nimmt weit weniger Gebühren als die Automaten der Banken ein Stockwerk höher, an denen sich gerade schon Schlangen gebildet haben.

Mit 20.000 Yen Bargeld in der Tasche, das sind rund 120 Euro, geht es nun durch eine Glastür in ein belebtes Areal mit verschiedenen Tresen und Infocentern.

Ich suche den Tresen der Bahnlinie Keisei und finde den auf Anhieb – vermutlich, weil ich direkt drauf zulaufe. Dann merke ich aber, dass ich da gar nicht hin muss. Der Tresen ist nur für Leute, die noch kein Ticket gebucht haben. Ich habe aber bereits eine Buchung gemacht, dafür aber wieder nur einen räudigen QR-Code bekommen. Um den in ein echtes Ticket zu verwandeln muss ich ins Keisei-Infocenter, und das liegt links vom Tresen. Anders als am überlaufenen Tresen ist hier nichts los – was super ist. Eine freundliche Angestellte gibt mit gegen Vorzeigen des Codes ein Ticket für den “Skyliner”, den Schnellzug vom Flughafen ins 30 Kilometer entfernte Tokyo, sowie ein drei-Tages-Ticket für die Tokyoter U-Bahn.

Alle 40 Minuten fährt ein Skyliner, und ich muss nicht lange an Gleis 1 warten bis mein Zug eintrifft. Sitzplatzreservierung ist gerade Pflicht, der Zug ist voll. Schon cool – Ankunft war um kurz vor 16:00 Uhr, und um 17:10 Uhr kann ich schon den Zug nehmen.

Während ich warte fällt mir auf wie warm und feucht die Luft ist. Tropisch, gerade zu. Ich ziehe die Jacke aus und versuche den Papierkram zu ordnen. Geez, kaum eine halbe Stunde in Japan, schon wieder die Taschen voller Papier.

Als der Zug den Flughafen verlässt, setzt die Dämmerung ein. Als er eine halbe Stunde später am Bahnhof Ueno stoppt, ist es bereits stockdunkel.

Ich trete durch die Bahnhofstür hinaus in die Nacht. Mit 23 Grad ist es sommerlich warm und sehr schwül. Nach 18 Stunden setze ich das erste Mal für länger als nur zum Essen die FFP3-Maske ab und atme tief durch. Dann sehe ich mich um.

Ich habe wohl einen Seitenausgang erwischt, der zu einer ruhigen Straße an einem Wohnviertel gelegen ist. In einer dichten Hecke zirpen lautstark Grillen, weiter vorne leuchten Neonschilder. Kein Zweifel: Ich bin in Tokyo!

Ich ziehe die Schulterriemen des Cabin Max fester und marschiere mit ausladenden Schritten auf die Neonschilder zu. Bewegung tut so gut, nach dem langen Sitzen!

Nach einer Dreiviertel Stunde Fußmarsch durch einem Nachtmarkt und mehrere Wohnviertel erreiche ich eine stille Nebengasse. Auch im Dunkel erkenne ich das blaue Haus, in dem ich die kommenden Tage wohnen werde. Das ist das “Akino Hotel”.

Hinter einer Automatiktür steht eine Box mit einem Zahlenschloss. Den Code dafür habe ich per Mail bekommen, und in der Box liegt ein Zimmerschlüsselkarte mit meinem Namen, daneben ein Formular für den Self-Checkin. Eine Rezeption gibt es nicht.

Das Zimmer selbst ist kaum größer als das Bett, das darin steht und über das ich fast stolpere, als die Zimmertür mit Wucht hinter mir zufällt.

Ich mustere die Tür. Sie ist aus massivem Metall und hat neben einem Schloss für einen Sicherheitsschlüssel auch ein elektronisches Schloss, einen Vorlegeriegel und zwei Drehschlösser. Wie eine Festung. Wer braucht sowas, in dem Land, in dem es fast keine Kriminalität gibt?

Ich sehe mich im Zimmer um. Aus dem Fenster blickt man auf eine Hauswand. Aber egal, mehr brauche ich nicht, und immerhin hat es ein eigenes Bad. Zufrieden stelle ich den Rucksack ab. So, bis hierhin hat alles gut geklappt.

Mutig geworden aktiviere ich auch eine eSIM. Das ist eine SIM, aber ohne Karte. Man bekommt nur einen Link und ein Passwort statt einer Plastikkarte. Das fühlt sich komisch an.

Zehn Minuten nach Eingabe des Passworts ist die Karte bereit und ihr Status springt auf “Active” um.

Noch fix einen AP eingeben, obwohl das optional ist, fertig. Die eSim und stellt 90 GB ungedrosselte Datennutzung bereit. Das sollte mehr als genug sein, und die Plastik-SIM (die bei mehr als 2GB Nutzung am Tag so weit gedrosselt wird, das sie nutzlos wird) kann als Reserve bleiben.

So. Zeit für ein Abendessen. Ich greife zur Türklinke, aber die Zimmertür geht nicht auf. Hä? Habe ich die versehentlich verriegelt? Ich lese das Schild, das in schlechtem Englisch abgefasst ist. Aha, eine elektrische Verriegelung. Knopf drücken, Ton abwarten, zügig hindurchtreten. Okay.

Ich drücke auf den Knopf, “Tüdeldüüüüüüü” macht das Schloss und man hört, wie sich etwas im Inneren dreht. Aber die Tür bleibt zu. Irgendein Riegel hält alles verschlossen. “Tüüüüüüüdeldü” macht das elektrische Schloss und schließt sich wieder.

Nochmal. “Tüdeldüüüüüüü”… nichts. Tür bleibt zu. “Tüüüüüüüdeldü”.
Argh.

Mal sehen… da ist das elektrische Türschloss und darunter das Türschloss mit einem Drehknauf und oben und unten an der Tür die Schlösser zum Drehen! Ich drehe alle nach links, jetzt müssten sie offen sein. Nichts. Nochmal. “Tüdeldüüüüüüü”… nichts. Die Tür bewegt sich nicht. “Tüüüüüüüdeldü”.

Verdammte Hacke! Ich bin keine Stunde hier und in meinem eigenen forking Zimmer eingesperrt! Darf man auch niemandem erzählen! Genervt hole ich das Handy aus der Tasche und schreibe auf Booking.com das Hotel an.

“Sorry, got Problems to get out of the room”.

Dann setze ich mich auf´s Bett und warte. Zum Glück ertönt schon nach einer Minute eine Stimme im Flur.
“You must press button!”.
Ich tue wie mir geheißen.
“Tüdeldüüüüüüü” macht das Schloss und jemand zieht von außen an der Tür, kommt aber zum gleichen Ergebnis wie ich.
“You must unlock lock”, ruft es.
“Ja welches und wie”, sage ich und drehe nochmal zur Sicherheit an den drei anderen Schlössern herum. Ohne Effekt, die Tür bleibt zu.
“You must…”, sagt die Stimme, beendet den Satz aber in einem Seufzen.

Kurz darauf höre ich eine zweite Stimme und dann klingt es, als ob jemand in einer Kiste mit Schlüsseln wühlt und verschiedene ausprobiert. Endlich passt einer ins zentrale Schloss, aber wieder: Tür bleibt zu.

Vor der Tür streiten sich jetzt die beiden Stimmen auf japanisch. Dann werden wieder Schlüssel probiert und dann dreht sich das Schloss auf Kniehöhe, “Tüdeldüüüüüüü” macht das elektrische Schloss und JETZT geht die Tür auf!

Davor stehen zwei Männer. Einer ist einen Kopf größer als ich und korpulent, der freut sich, dass die Tür endlich auf ist. Der andere ist einen Kopf kleiner als ich, drahtig und starrt mich böse an.

“You must not use the locks”, sagt er.
“Habe ich nicht”, sage ich.
“Only Keycard. Don´t you touch the locks!”, sagt er grimmig.
“Ich habe die Schlösser nicht angefasst! Die Tür ist zugefallen und ging nicht mehr auf!”, sage ich.

Der Mann glaubt mir nicht, und vielleicht habe ich ja tatsächlich an einem der Schlösser gedreht? Ich weiß es gerade nicht. Ich bin sehr müde. Es ist kurz nach sieben, das heißt nach mitteleuropäischer Zeit halb drei Nachts. Ich will nur noch etwas essen und ins Bett.

Essen gibt es aus einem der Conbinis, der kleinen Supermärkte, die es hier praktisch alle zweihundert Meter gibt. Mit einer Ramenbowl aus der Frischetheke kehre ich ins Hotel zurück und sehe ein Schild “Rooftop Access” – das klingt doch super!

Der Zugang zum Dach erfolgt über eine enge Stiege und eine schwere Metalltür. Ich klemme einen Blumentopf in den Türahmen – fehlt mir noch, dass diese Tür auch hinter mir zufällt und ich auf dem Dach gefangen bin.

Die Nacht ist tropisch warm. Die Geräusche der Stadt sind gedämpft, und während ich die Ramen schlürfe und mir danach den Halloween-Pumpkin-Pudding schmecken lasse, blicke ich über die umliegenden Hausdächer. Meine Güte. Vor 24 Stunden habe ich mich auf den Weg zum Bus in Mumpfelhausen gemacht, und jetzt sitze ich hier, auf der anderen Seite des Globus, auf einem Dach in der größten Stadt der Welt und esse Nudeln. Die Welt ist groß.

Als ich fast fertig bin, geht die Tür zum Dach auf und zwei junge Leute kommen heraus. Wir nicken uns zu, dann stecken die beiden die Köpfe zusammen und unterhalten sich leise darüber, was sie morgen machen wollen.

Ich packe meine Sachen zusammen und sage “Schönen Abend noch!”. Vier große Augen sehen mich an. “Sie sind Deutscher?” Ich nicke. Die beiden, stellt sich raus, sind aus Sonnenberg in Thüringen. Die Welt ist klein.

Nächsten Samstag: Narr in einer kalten Mondnacht

16 Gedanken zu „Reisetagebuch Japan 2024 (1): Kein Bock

  1. Das mit der ‘keine Lust’ hab ich gerade in ähnlicher Form als ‘wenig Motivation’. Normalerweise habe ich um diese Zeit schon lange die Mittjahrestour durchgeplant, aber derzeit will es nicht so recht. Immerhin weiß ich schon wo es hingeht.

    Dass Du da Menschen aus Deutschland getroffen hast, scheint mir sehr gewöhnlich. Ich wiederhole mich hier mal, weil ich irgendwie den Eindruck habe, dass alle um mich herum dieses Jahr nach Japan reisten. Aber gut, der derzeitige Yen-Kurs ist dafür wohl optimal.

  2. Juhu, endlich wieder Tagebuch und die Kur gegen graue Wintersamstagmorgende! Auf dass das Reisetagebuch so lange läuft bis draussen wieder die Sonne scheint.

    Zur Reiseunlust: Für mich selber nenne ich das irgendwie Reisedepression (und ja, es ist ein Luxuspproblem), von dem ich derzeit auch wieder betroffen bin: Keine Lust auf die denkbaren Ziele auf diversen Listen, alles irgendwie doof. Auch ich hätte normalerweise schon Ort und Zeit für die nächste große Reise fertig oder zumindest eine klare Idee, was der Nukleus der nächsten Reise sein wird. Aber derzeit … nichts.

    Immerhin weiß ich, dass das auch wieder vergeht. Erinnerst du dich noch, als ich unsere Reise nach Spanien in 2013 als “Abschlussreise” für das Land bezeichnet habe, weil ich meinte alles gesehen zu haben? Danach ging es erst richtig los.

  3. Max: Haste recht, gefühlt ist jeder und seine Mudder gerade in Japan unterwegs gewesen – und das ist mittlerweile ein echtes Problem, das Land ist auf so viele und solche Touristen nicht eingestellt.

    Modnerd: Hehe, ja, daran denke ich JEDES MAL wenn Du wieder nach Spanien aufbrichst 🙂

  4. Schön – es gibt wieder Samstagslektüre. Ich freue mich drauf.

    Die letzte Fahrt zum Flughafen Frankfurt hab ich mit ebensoviel Reserve wie Du geplant – aber wäre es nicht schön, wenn das nicht nötig wäre weil die Bahn zuverlässig fahren
    würde? Aber das werde ich nicht mehr erleben. Selbst wenn man jetzt anfangen würde massiv zu investieren würde es mindestens 20 Jahre dauern bis man Schweizer Niveau erreicht hätte – die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte lassen sich nicht mehr kurzfristig reparieren, dafür ist zu viel kaputt.

    Für die Fahrt zum Terminal 2 hätte ich ja die SkyLine (die selbstfahrende Straßenbahn) statt dem Bus empfohlen. Nicht weil ich das letzte Jahr immer mal wieder damit beschäftigt war der eine neue Steuerung zu verpassen, sondern weil sie schneller und komfortabler ist als der Schuttlebus.

    Ich bin gespannt wie es weitergeht – ich denke der Spaß am Reisenb kommt zurück. Ich kenn das Motovationsloch auch – aber sobald ich dann unterwegs bin ist die Motivation sofort wieder da.

    1. Den Tipp mit der Skyline kann ich nur bedingt bestätigen. Wenn man vom Bahnhof kommt, muss man durch Terminal 1 laufen, und zwar ziemlich lange Wege.
      Ich bin in diesem Jahr zweimal mit dem Bus gefahren, sehr problemlos.

      1. Für den Bus muss man aber auch durch Terminal 1, oder habe ich das schon wieder verkehrt in Erinnerung? Für die Skyline geht man dann links die Treppe hoch und für den Bus weiter hinten die Treppe runter? Ich hab´s schon wieder vergessen.

  5. Christoph: Gibt es eigentlich was, an dem Du nicht herumschraubst? 🙂 Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich die Skyline auf dem Hinflug schlicht nicht gefunden habe. Und während ich noch doof rumsuchte, stand ich plötzlich vor dem Bus 🙂

    Marcus: Zur Motivation schreibe ich nächste Woche was 😉

    Zwerch: DAS s die einzig wahre Reihenfolge 😊

  6. Ich kam erst jetzt zum Lesen, bin aber dabei.,…… natürlich auch aus familiären Gründen.😊
    Reisedepressionen kenne ich auch, habe ich tatsächlich auch, wenn ich nach Kalifornien fliege, denn selbst beim zigsten Mal gibt’s immer noch was vorzubereiten.

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