Reisetagebuch Japan (3): Blade Runner
Taumeln durch Tokyo. Heute bekomme ich erst kalte Füße, dann Blutdruck durch Software- und Innenraumdesign aus der Hölle.
Samstag, 05. Oktober 2024, Akihabara, Tokyo
Heute fällt mir das Aufstehen leichter, auch wenn der Wecker eine hanebüchen unchristliche Zeit verkündet: Es ist 06:30 Uhr!
Schon wenige Minuten später laufe ich durch die stillen Straßen des Wohnviertels, in dem sich das blaue Haus befindet.
Es ist mit 25 Grad immer noch warm, aber heute morgen nieselt es. Warm und feucht, das fühlt sich sehr, sehr unangenehm an. Zum Glück werde ich nichtmal richtig nass, denn wenige hundert Meter entfernt ist der Eingang zur Untergrundbahn. Von dort komme ich trocken bis in den Bahnhof Akihabara. Auch dort ist noch wenig los.
Am Boden liegt ein junger Mann. Partyleiche von letzter Nacht?
Für die Zugfahrt kann ich noch nicht meinen JR Railpass nutzen. Der aktiviert sich erst in… Datums-check… fünf Tagen.
Um ein Ticket muss ich mich aber trotzdem nicht kümmern, denn ich habe eine Suica-Karte. Das ist eine IC Card, eine Bezahlkarte, die für alles Mögliche genutzt werden kann: Einkaufen in Conbinis, Kartentelefone, an Automaten und auch und vor allem für den ÖPNV. Suicas sind prepaid und waren früher echte Kunststoffkarten, was den Vorteil der Anonymität mit sich brachte. So eine physische Karte habe ich tatsächlich auch im Portemonnaie stecken, aber nur als Reserve und weil da ein Pinguin aufgedruckt ist.
Heute nutze ich eine virtuelle Suica. Die steckt in meinem Telefon. Als das iPhone gemerkt hat, dass ich in Japan bin, hat es von sich aus die Einrichtung einer virtuellen Suica angeboten. Möglich wäre auch eine “Pasmo” oder eine “Icocoa” gewesen oder eine der anderen IC-Karten, die es in Japan gibt. Die Karten sind regional unterschiedlich verbreitet und theoretisch interoperabel, aber ich gehe auf Nummer sicher und verwende in Tokyo die Suica, die hier halt auch ihren Ursprung hat. Die virtuelle Karte im Handy hat den Vorteil, dass sie direkt mit Apple Pay verknüpft ist, was wiederum an einer Kreditkarte hängt. Klingt kompliziert? Ist es aber nicht. Im Endeffekt bedeutet das, dass ich zum Aufladen von Guthaben auf die Suica nur zwei mal auf den Bildschirm tippen muss. Bei den physischen Plastikkarten musste man immer erst einen funktionierenden Automaten suchen und da Münzgeld einwerfen.
Während der Zugfahrt lade ich nochmal zusätzliche 5.000 Yen, rund 30 Euro, auf die Karte. Die werde ich in den folgenden Wochen sicher verbrauchen.
Mit der Teihin-Tohoku-Linie geht es bis zum Bahnhof Shimbashi, südlich des Stadtzentrums. Hier verlasse ich den Bahnhof und suche nach der gleichnamigen U-Bahn-Station, die einige hundert Meter entfernt ist. Auf dem Bahnhofvorplatz steht eine Dampflok!
So, mal gucken was hier fährt. Das ist nämlich der Grund, warum ich so früh unterwegs bin. Mir ist nicht ganz klar, wie ich an mein Ziel komme.
Zu meinem eigenen Erstaunen finde ich sofort die richtige Linie. Auf Google Maps kann ich verfolgen, wie sich die vollautomatische Bahn der Yurikamome-Linie von Shimbashi langsam in Richtung Hafen bewegt. Da will ich hin!
Die Bahn dreht eine weite Pirouette über dem Wasser, bis sie sich bis auf das Niveau der Rainbow-Bridge geschraubt hat. Die verbindet das Festland mit einigen künstlichen Inseln, die man in der Bucht von Tokio aufgeschüttet hat.
Auf den Inseln stehen Gebäude herum, die direkt aus aus dem Film “Blade Runner” stammen könnten. Hier das Fernsehgebäude des Fuji-Television Network:
Oder das Tokyo Big Sight, das aussieht wie eine Ölbohrplattform:
Oder diese Gebäude hier, die sich TFT-Buildings nennen:
Besonders absurd ist das Gebäude der Energiegesellschaft TEPCO. Das sind die mit dem abgesoffenen und explodierten Atomkraftwerk in Fukushima. Deren Hauptquartier ist nicht nur monströs groß, es sieht von oben auch aus wie ein ARC-Reaktor – das ist eine fiktive Energiequelle, die Iron Man in den Marvelcomics in der Brust trägt.
Neben dem TEPCO-Gebäude steige ich aus. Das ging viel schneller als erwartet, jetzt bin ich zu früh dran. Es erst kurz vor acht, jetzt habe ich noch eine Stunde Zeit. Ich wandere ein wenig durch die Samstäglich-leeren Straßen des Industrieviertels und vorbei an einer Großmarkthalle, die ich aber nicht betreten darf. Hmpf. Das hat nur begrenzten Unterhaltungswert. Kann ich mich genauso gut schon mal vor mein Ziel stellen.
Das Ziel, das ist das Gebäude von TeamLab Planets.
Wer jetzt denkt “Hä? TeamLab? Da war er doch gestern erst!”: TeamLab ist ein Künstlerkollektiv, das tatsächlich Ausstellungen und Installationen an mehreren Orten hat – in Kürze sogar in Hamburg. Das “Planets” soll ein wenig naturverbundener sein als “Borderless”. Gucken wir mal.
Ich bin nicht mal der erste Besucher der zu früh ist, vor mir steht schon eine britische Familie und albert herum. Hinter dem noch geschlossenen Tor steht eine große Säule, in der ein digitales Feuer lodert und sich immer wieder neu bildet.
Als ich hier so rumstehe, Podcasts höre und gelangweilt in die Gegend schaue, fällt mir auf, dass die Hecken hier aus Sternjasmin bestehen! Sehr sympathisch, ist meine Lieblingsduftpflanze.
Oh, war doch nicht schlecht, so früh hier zu sein. Um halb neun hat sich schon eine lange Schlange gebildet. Hinter mir.
Um kurz vor neun ist Einlass. Wieder bin ich froh über die rasend schnelle eSIM in meinem Telefon. Ohne Mobilverbindung hätte ich nicht mal die Eintrittskarte aufrufen können. Die hat sich erst vor wenigen Stunden aktiviert, man muss einen Link klicken um sie anzuzeigen.
In einer Vorhalle müssen wir, die Besucher des ersten Zeitslots des Tages, Aufstellung auf Markierungen auf dem Boden nehmen und bekommen ein Verhaltensvideo gezeigt. Nennt sich “Introduction”, fühlt sich aber an wie Antreten zur Indoktrination in einem Gefängnishof. Ist ja auch sprachlich nicht so weit auseinander.
Man solle die Schuhe ausziehen, wird angesagt.
Igitt.
Ich mag Barfußlaufen nicht!
Dafür sind meine Füße einfach nicht gemacht. Die brauchen die formende Struktur von Schuhen, ohne die werden sie sofort zu Eisklumpen und die Zehengelenke tun weh. Ob ich wohl die Installationen, die Barfußlaufen erfordern, auslassen kann? Nein, das ist anscheinend keine Option. Direkt beim Betreten der Anlage heißt es “Schuhe und Socken aus!”.
Nach dem Video geht es in die eigentliche Eingangshalle. Hier stehen große Reihe von Spinden, in die alles eingeschlossen werden soll, was man dabei haben kann: Jacken, Regenschirme, Rucksäcke und Taschen, Schuhe… nur das Smartphone soll man mitnehmen. Mit gemischten Gefühlen werfe ich mein Slingpack in den Spind, ziehe die Schuhe aus und krempele die Hosenbeine hoch, wie es das Indoktrinationsvideo befohlen hat.
Dann trete ich durch einen dunklen Vorhang und folge einem beleuchteten Gang, der mit weichem Teppich ausgelegt ist.
Anders als “Borderless” ist “Planets” eine lineares Erlebnis. Wo man im “Digital Arts Museum” in Minato die Räume in einer beliebigen Reihenfolge erkunden und dabei welche übersehen kann, folgt man bei “Planets” einem vorgegebenen Weg. Der führt um eine Ecke und dann… eine wasserumspülte Rampe hinauf?
Ich verziehe das Gesicht und setze einen Fuß ins Wasser. Es ist lauwarm, und der Boden darunter fühlt sich ein wenig rau an, wie Teerpappe. Ich stapfe die Rampe hinauf. An deren Ende befindet sich ein farbig beleuchteter Wasserfall, kurz vor dem geht es aber in einen Raum mit Bänken und Handtüchern.
Mit abgetrockneten Füßen geht es in einen Raum mit dem Titel “Weiches Schwarzes Loch”, in dem große Kissen unter einem raumfüllenden Laken versteckt sind. Über das muss man an die andere Seite des Raumes kommen und dabei “spüren, wie die Anwesenheit anderer Menschen das eigene Vorankommen beeinflusst”. Ist echt leicht esoterisch hier.
Kann sein, dass das mit anderen Menschen um einen herum interessanter ist, weil dann alles schwankt, aber gerade bin ich hier ganz allein und wackele einfach in einer graden Linie zum Ausgang.
Der nächste Raum ist cooler. Der Boden besteht aus Spiegeln, der Raum selbst ist gefüllt mit hängen LED-Ketten. Ganz ähnlich wie gestern im “Borderless”, aber viel größer – ich habe tatsächlich Probleme den Ausgang aus dem spiegelnden und leuchtenden Labyrinth zu finden!
Durch lange Gänge geht es weiter. Der Teppichboden bleibt zurück, die Teerpappe kommt wieder, und dann spüre ich Wasser an den Fußsohlen. Erst ist es flach, bald knietief, und ich muss vorsichtig vorwärts waten. Die Luft riecht stark nach Chlor.
Der Gang führt in einen großen Raum, der wirkt wie ein Schwimmbad. Das Wasser steht auch hier kniehoch, und erst jetzt sehe ich, dass es weiß gefärbt ist, wie Milch. Die Wände sind verspiegelt, so dass sich das Wasser wie ein weißes Meer ins Unendliche zu ziehen scheint.
Auf das Wasser werden Fische projiziert.
Die digitalen Koijs schwimmen zwischen den Besuchern herum. Stehen die still, kommen die Fische neugierig näher, bewegt man sich, flüchten sie.
Fasziniert betrachte ich die seltsame Kulisse und die Gäste, die – ihre Smartphones fest umklammert – durchs Wasser stapfen.
Nach einer weiteren Station mit Handtüchern und mit trockenen Füßen geht es in Raum mit einem verspiegelten Boden und einer Kuppel, in die ein Sturm aus Blumenblüten projiziert wird. Legt man sich auf den Boden und blickt an die Decke, scheint sich der Raum zu drehen.
Es gibt auch noch zwei “Gärten”. Einer ist tatsächlich auf einem Außengelände. Auf hügeligen Grasflächen stehen hier polierte Chromeier, zwischen denen Nebel hindurchzieht. Sieht ein wenig nach “Alien” aus.
Der zweite Garten ist vertikal. Luftwurzelnde Orchideen sind wie Vorhänge angeordnet, und die Vorhänge bilden ein Labyrinth. Die Orchideen werden von Motoren langsam angehoben und wieder abgesenkt und geben damit Wege und Durchgänge zu “Lichtungen” frei, in denen man auf dem Boden sitzen und über die Welt sinnieren soll.
Mir ist nicht nach sinnieren. Ich habe kalte Füße, und da das hier die letzte Station ist und immer mehr Menschen in die Räume strömen, beschließe ich, dass es jetzt reicht mir der Barfußlauferei. Knapp 50 Minuten habe ich hier verbracht. Ich suche die Eingangshalle auf und bin froh, als meine Füße wieder in den Schuhen stecken. Dann geht es mit der Bahn zurück nach Norden.
Unterwegs sehe ich die legendäre Ghibli-Uhr aus der Ferne.
In Ueno steige ich aus und laufe ein wenig durch die Einkaufsstraßen rund um den Bahnhof. Es beginnt zu regnen. Warmer, siffiger Stadtregen. Eklig. Ich suche Unterschlupf in einem der etlichen Thrift-Stores, Secondhandläden. Eine der bekanntesten Ketten ist Hard-off. Die haben sogar verschiedene Ableger. Hard-Off Books für Bücher, Hard-Off Moda für Klamotten, Hard-off Home für Möbel und Haushaltsgeräte und Hard-Off Hobby für Spielzeug und Games.
In langen Regalen stehen alte Spielkonsolen herum.
Wow, eine gute, gebrauchte Playstation Vita kostet noch locker 250 Euro! Günstiger zu haben ist die PS3 für 30 Euro, eine PS4 kostet 120 und die brandneue PS5 Pro 740 Euro.
Im Regen schlendere ich die Einkaufstraße entlang. Eigentlich ist das eher ein Markt. Die Straße ist eng, links und rechts gibt es kleine Geschäfte, Markstände und Restaurants. Beim Anblick des T-Shirts muss ich grinsen.
Ich hatte bislang noch kein Corona und will es auch nicht bekommen. Deshalb trage ich unter Menschen nach wie vor Maske. Hier in Japan erntet man dafür keine seltsamen Blicke. Es ist völlig normal eine Maske zu tragen, wenn es einem nicht gut geht – um andere vor Ansteckung zu schützen.
Völlig durchnässt von innen und außen komme ich in Akihabara an und kaufe in einer Drogerie einen dieser transparenten Standard-Stockschirm für 602 Yen, rund 3,70 Euro. In Japan werden superhäufig Stockschirme genutzt. Vor Geschäften gibt es dann entweder die Möglichkeit die abzustellen oder sogar anzuschließen, und an Fahrrädern gibt es Halterungen dafür, damit man auch während der Fahrt gut beschirmt ist.
Im Hotelzimmer trockne ich mich gründlich ab, dann falle ich auf´s Bett und bin sofort eingeschlafen. Ein gepflegter Nachmittagsschlaf. So tief und voller Träume, dass ich zwei Stunden später gar nicht wieder aufstehen will. Ist das noch Jetlag, oder ist dass das tiefe Bedürfnis nach Ruhe? Wenn ich sonst im Herbst Urlaub mache, merke ich meistens die Erschöpfung des ganzen Jahres und brauche in den ersten Tagen auch viel, viel Schlaf. Muss ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich einmal um die Welt gereist und an einem Ort wie Tokyo im Bett liege und penne? Nein, beschließe ich und schwinge dann doch die Füße aus dem Bett.
Gegen 16:00 Uhr fahre ich noch einmal Richtung Minato. Wieder interessieren mich die Hochhäuser und Nobelboutiquen wenig. Ich bin auf dem Weg zu einem Wahrzeichen der Stadt: Dem Tokyo Tower!
1958 gebaut, sieht der Funkturm, über den heute noch 24 TV-Sender ausgestrahlt werden, aus wie ein kleiner Eiffelturm.
Von Außen und umgeben von der mächtigen Stadt wirkt er gar nicht so hoch, dabei ist der Tokyo Tower mit seinen 333 Metern der drittgrößte Stahlturm der Welt und höher als der Eiffelturm. Hier ein Bild aus Google Earth.
Gut zu sehen: Unter den Turm wurde ein viergeschossiges Gebäude gebaut. Vor dem stehe ich jetzt.
An den Eingängen des Gebäudes stehen weder abschließbare Schirmständer noch diese Gestelle, wo man oben seinen nassen Schirm reinschiebt um ihn mit einer Plastiktüte zu überziehen. Hier steht nur ein Gestell aus zwei parallelen Platten und einem Regeschirm-Symbol darauf. Etwas ratlos schaue ich mir das an. Was macht man damit? Ich stelle mich ein Stück entfernt hin, um zu beobachten, was die Leute damit tun. Ich muss nur kurz warten, dann kommt ein Mann aus dem Regen, klappt seinen Schirm zusammen, steckt ihn zwischen die Platten und schleudert mit schnellen Hin- und Herbewegungen das Wasser ab. Ah! Hier geht nichts automatisch, die Platten sind nur dafür da, dass man andere beim Regenschirm-Ausschütteln nicht vollspritzt. Okay.
Mit trockenem Schirm betrete ich das das Gebäude unter dem Tokyo Towers. Es ist – natürlich! – eine Mall, gemacht für Familienausflüge und Touristen. Auf vier Stockwerken gibt es Stände mit teuren Süßigkeiten, Stände mit unnützem Spielzeug, eine Ecke mit Spielautomaten und natürlich überall Merchandise des Tokyo Towers selbst. Sogar Wasserflaschen in Turmform gibt es zu kaufen.
Ich schließe Schirm, Jacke und Sling in ein Schließfach ein und präge mir genau ein, wo sich das befindet: Neben der Ausstellung mit den Uniformen, die Angestellte im Turm im Laufe der Jahrzehnte getragen haben. Gar nicht mal uninteressant, wie sich die gewandelt haben – und wie altmodisch die aktuellen sind.
Selbstverständlich hat auch der Turm sein eigenes Maskottchen, dessen Freunde irgendwie aussehen wir Mikropenisse.
Ich schlendere durch die Mall, bis es endlich Zeit ist. Ich habe im Vorfeld ein Ticket gebucht, und diese Erfahrung WAR UND IST DIE HÖLLE. Echt, digitale Prozesse sind im ansonsten so serviceorientierten Japan eine Qual. Beim Tokyo Tower wird man für den Ticketkauf, egal ob man den auf der Tokyo-Tower-Website selbst oder bei einem Reseller wie Klook versucht, weitergeleitet zu “Asoview”. Die sind für eine ganze Reihe von Tickets für Attraktionen zuständig, und ich verstehe beim besten Willen nicht warum.
Der Webshop von denen ist eine umständliche und unverständliche Frechheit. Die Usability ist eine Katastrophe, eine englische Übersetzung gibt es nicht und der Bestellprozess ist an zwei von fünf Werktagen einfach kaputt und produziert Serverfehler oder hängt einfach so im Nirvana.
An guten Tagen ist der Bestellprozess nur völlig umständlich. Sicherlich ist er das Ergebnis vieler, vieler Meetings von Leuten, die noch nie in ihrem Leben ein Ticket online gebucht haben. Man kann schon daranscheitern, weil man eine japanische Handynummer angeben muss, aber EXAKT in der Notation und mit der richtigen Stelle an Leerzeichen wie im Telefonbuch. Man weiß aber nicht, wo die Leerzeichen sein müssen. Ich habe einfach erfundene Nummern so lange random eingetippt, bis die Pflichtfeldprüfung nicht mehr gemeckert hat. Brute Force, sozusagen.
Außerdem muss man seinen Namen in Furigana angeben, lateinische Buchstaben reichen nicht. Aber was ist Furigana? Ich kenne nur die beiden Alphabete “Hiragana” und “Katakana” im Japanischen, und die Erläuterung der Wikipedia, dass es sich um “eine japanische Lesehilfe” handelt, bringt auch keine Erleuchtung. Am Ende habe ich einfach meinen Namen in Deepl.com eingeben und dessen Übertragung in japanische Silbenalphabete in das Furigana-Pflichtfeld kopiert.
Damit konnte ich die Bestellung abschließen, bekam aber statt eines eTickets oder etwas zum Ausdrucken nur Mails. Auf japanisch. VIELE Mails. Quasi jeden Tag eine. Meist mit völlig zusammenhanglosen Hinweisen, etwa auf Wetter in Kyoto oder ein Volksfest in Fukuoka. Nun ist es am Desktoprechner noch recht einfach, so eine Mail zu Google Translate zu kopieren, unterwegs und am Handy aber schon schwieriger. Immerhin habe ich es geschafft, die EINE Mail (es war ungefähr die achte) zu finden, die wirklich relevant war.
In der war ein Link, der zu einer Seite führt, auf der man sich mit seiner Mailadresse und einem Token, was auch an die Mailadresse gesendet wird (Zum Glück nicht an die erfundene Handynummer!) einloggen muss. Dann kann man aus einer Tabelle das Ticket auswählen, das man nutzen möchte. Man hakt es mit einer Checkbox an und klickt dann auf “Wirklich benutzen” und dann – lädt die Seite in drei von vier Versuchen nicht mehr, weil sie wieder kaputt ist.
WENN Sie lädt, zeigt sie verschiedene Warnmeldungen (alle auf japanisch) und dann für drei Minuten ein Ticket, dann loggt sie einen zwangsweise wieder aus und man darf den “Link folgen – Token senden – einloggen – auswählen – bestätigen”-Vorgang wiederholen. Kotze aus der Hölle, das Ganze, und wäre ich nicht Software-Betatester und gut im Workarounds-raten, ich wäre schon schreiend weggelaufen.
Man merkt: Ich hasse Asoview.
Inbrünstig.
Wird aber noch besser: Das angezeigte Ticket ist nämlich eine skeuomorphe Repräsenation eines Abreisstickets. Auf Papier. So, wie die alten Leute in den Meetings das kennen. Wenn man es nämlich wirklich erfolgreich schafft das Ticket auf dem Handy zu öffnen, wird im unteren Bereich ein Abschnitt angezeigt, der wirklich wie eine Abreisskante eines Papiertickets aussieht. Ist aber ein verdecktes Feld, dass irgendwie abgedeckt wirkt. Sogar eine kleine Lasche gibt es, die ab und zu golden aufleuchtet und animiert im Wind flattert und lockt “Streich mit dem Finger über mich”.
Das Problem dabei: Wenn man das wirklich tut und drübersteicht, macht es “Riiiip”, das Feld wird freigelegt und – man hat sein Ticket nutzlos gemacht. Mit dem Finger über die Lasche streichen, das darf nämlich nur das Personal des Tokyo Towers. Das steht in einer der vielen Warnmeldungen. Auf japanisch. In einem Dialogfeld, was sich nicht automatisch übersetzen lässt. Softwaredesign aus der Hölle.
Zum Glück habe ich mir diese Erkenntnisse im Vorfeld selbst erschlossen und nicht an der Abreisslasche rumgefummelt.
Als ich dann wirklich im Tokyo Tower am Fahrstuhl nach oben stehe, streicht eine lächelnde Angestellte in einer der altmodischen Uniformen über den Screen meines Telefons. Die Lasche macht ein befriedigendes “Rrrrrip” und flattert davon, die Grafik eines Gummistempels erscheint auf dem Ticket und ich darf nach oben fahren. Etwas enttäuschend: Im vorher verdeckten Feld steht lediglich Datum und Uhrzeit des Besuchs.
Der Fahrstuhl führt auf das Main Deck in rund 150 Metern Höhe. Es ist zweigeschossig und rundum verglast. Hier gibt es Restaurants und Geschäfte für Eso-Tand wie die “Lucky Charms”, die je nach gewünschtem Glück eine andere Farbe haben. Glück für Prüfungen ist Lila und nicht zu verwechseln mit dem Glück im Straßenverkehr, das ist rot.
Der Ausblick aus den Fenstern ist nett. Eigentlich ist erst Dämmerung, aber durch das schlechte Wetter ist es schon sehr dunkel. Die höheren Gebäude verschwinden in den niedrig hängend Wolken, aus denen schwerer Regen fällt. Das sieht schon wieder sehr nach Blade Runner aus.
Von oben auf beleuchtete Häuser und den Verkehr in den Straßen zu schauen birgt eine Faszination, der ich mich nie entziehen kann.
Trotzdem reiße ich mich irgendwann los. Ich will ja noch höher hinaus, und so stelle ich mich beim nächsten Aufzug an. Über Jahre war das “Top Deck”, die obere Aussichtsplattform, wegen Renovierungsarbeiten gesperrt. Wieder geöffnet ist es erst seit – heute! Kein Witz: Ich bin nach Jahren einer der ersten, der die Spitze des Tokyo Towers betreten darf.
Zur Begrüßung bekomme ich tatsächlich einen Sekt in einem winzigen Plastebecher gereicht, dann führt mich eine Angestellte in altmodischer Uniform zusammen mit anderen Gästen in einen Vorraum. Hier werden Bilder des Turms an die Wände geworfen und die Mitarbeiterin erzählt etwas, aber nur auf japanisch.
Dann öffnen sich die Türen zum Top Deck. Die lange Umbauzeit wurde offenbar genutzt, um das Innere des Turmzimmers in eine Disco zu verwandeln. Alles ist mit Spiegeln beklebt.
Das ist nicht nur irritierend, sondern natürlich spiegeln sich die Spiegel auch in den Fensterscheiben und erschweren das Hinaussehen, zumindest im Dunkeln. Wer auch immer das hier designed hat, ist ein Trottel. Vermutlich ist die Idee im gleichen Meeting entstanden wie das die Ticketbuchung.
Egal. Ich presse meine Nase an die Fensterscheiben und blicke hinaus. Wasserschleier fallen aus dem Himmel und der Stahlkonstruktion des Turms. Aus 250 Metern Höhe kann ich nun auf die Gebäude hinabsehen, die eben noch in den Wolken verschwanden. Und mehr noch: Die Regenwolken ziehen rasant schnell am Turm vorbei, und ich kann auf die hinabsehen!
Eine Angestellte in buntem Feenkostüm malt mit Kindern auf den Fensterscheiben herum. Dann kommt eine Durchsage, das nun die große Halloween-Show beginnt und ehe ich es mich versehe, leuchtet mir ein Beamer ins Gesicht. Einer? Ach was, eine ganze Batterie. Auf jedes Fenster ist ein lichtstarker Projektor gerichtet, und plötzlich tanzen Kürbisse und Gespenster auf den Scheiben.
In Ruhe den Blick auf die nächtliche Stadt genießen ist unmöglich, wenn ein animierter Kürbis vor einen rumzappelt. Zum Kotzen. Leicht angefressen versuche ich den Weg zum Ausgang zu finden und folge im Halbdunkel den Markierungen auf dem Boden. Die hat offensichtlich aber auch ein Witzbold angebracht.
Innenraumdesign aus der Hölle. Immerhin finde ich den Fahrstuhl zum Main Deck, aber dort wird es noch schlimmer. Wer auch immer gedacht hat, dass in einer recht dunklen Umgebung, die nur punktuell von Strahlern beleuchtet wird und wo sich die Leute eh schon vorsichtig bewegen DIESER Teppich eine gute Idee war, der gehört geschlagen.
(Foto wirkt heller als es tatsächlich war – tatsächlich war es ziemlich duster und ich hatte das Gefühl zu stolpern, wenn ich auf diesen Boden gucke).
Wo nicht der Teppich aus der Hölle liegt, ist der Boden durchsichtig und man blickt auf 150 Meter Luft unter den Füßen. Auch nichts für Zartbesaitete.
Immerhin: Im Licht der Scheinwerfer kann ich den fallenden Regen sehen, das sieht schon cool aus. Trotzdem bin ich froh, als ich vom Aussichtsdeck runter und aus der mittlerweile völlig überlaufenden Mall wieder raus bin und den Turm von Außen sehe. Alles hier, von der Ticketbestellung über die Besucherführung bis hin zu dem, was die Inneneinrichter hier verbrochen haben, ist nicht Vergnügungssteuerpflichtig. Nur der Ausblick ist toll. Wenn nicht gerade die Kürbisse tanzen.
Ich wandere noch ein wenig durch die Straßen des nächtlichen Minato. Ein kleiner Schrein liegt mitten zwischen den modernen Gebäuden und wirkt wie ein Zugang zu einem Zauberreich.
Zurück in Akihabara schlendere ich noch durch das große Elekronikkaufhaus Yodobashi Camera. Die Zeiten, als es in Japan völlig Crazy Shit gab, den man nirgendwo anders auf der Welt fand, sind lange vorbei – vermutlich muss man heute nach China, um Elektronik zu entdecken, die es im Rest der Welt nicht gibt. Dennoch entdecke ich einige lustige Dinge. Die schlafenden Kätzchen hier sind Ladeboxen für Bluetooth-Kopfhörer.
Oh, und die nagelneue PS5 Pro gibt es hier in Kürze, für rund 50 Euro weniger als bei uns. Würde ich jetzt eine mitnehmen, wäre es sogar noch 10 Prozent günstiger. Touristen können Dinge, die nachweislich ins Ausland gehen, Umsatzsteuerfrei einkaufen. Sie müssen die Dinge dann nur beim Zoll anzeigen.
in der Spielzeugabteilung steht immer noch Darth Vader mit seiner Armee an First Order-Sturmtrupplern. Die älteren sind schon gelb angelaufen.
Ein überlebensgroßer Iron Man schießt auf eine Vitrine mit Tortoro-Figuren. Schlimm, dieser Spielzeugkrieg.
Durch verregnete Straßen geht es zurück. In de Ferne grollt Gewitterdonner. Es ist weniger schwül, aber immer noch sommerlich warm.
Auf dem Weg zurück ins blaue Haus hole ich mir ein Abendessen in einem Family Mart Conbini. Heute gibt es Nudeln mit Knoblauchsauce und als Dessert Pumpkinpudding und ein Eis. Dazu will ich ein “Super Dry” probieren, ein japanisches Bier. Das wird in der Dose verkauft, für 266 Yen, rund 1,60 Euro. Aber als ich die Dose ganz vorsichtig öffne und den Deckel nur ein kleines Stück eindrücke, sprudelt es sofort aus der Öffnung und hört gar nicht mehr auf. Das Ding steht unter enormen Druck – aber warum?. Dann merke ich, dass die Konstrukteure der Dose offensichtlich wollten, dass man schnell und komplett den Deckel abreisst, um sich dann an einer Schaumkrone zu erfreuen. Sowas habe ich noch nie gesehen.
Man Man man. Immerhin sind die Nudeln gut.
Tour des Tages: Von Akihabara zu den künstlichen Inseln von Odaiba, dann zurück nach Uemo, schließlich nach Minato und wieder nach Akihabara. Rund 12 Kilometer zu Fuß.
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4 Gedanken zu „Reisetagebuch Japan (3): Blade Runner“
Oh Mann…….
Da bekomme ich ja Herzkasper vom Lesen.
Und da soll ich hin??
Hast Du Höhenangst?
Nein. Aber das Ticketbuchen verunsichert mich etwas. 😄
Sohnemann hilft sicher gerne, der kann die Sprache 🙂