Reisetagebuch Japan (5): Die elektrische Stadt ist tot
Das Reisetagebuch. Heute mit Hypersexualisierung, alten Bastlern und dem Himmelsbaum.
Montag, 07. Oktober 2024, Tokyo
Nach dem Klingeln des Weckers drehe ich mich noch mindestens drei Mal im Bett herum. Darin ist es warm und bequem, wie in einem wohligen Kokon der Glückseligkeit. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht. Heute ist das letzte Mal für Wochen, dass ich werde ausschlafen können. Ab morgen ist richtig Action angesagt, heute eher ein Tag zum Rumgammeln.
Gegen halb elf bin ich dann doch mal auf den Beinen und laufe durch die Straßen Akihabaras. Die Sonne scheint, mit 27 Grad ist es hochsommerlich warm und die Luftfeuchtigkeit immer noch sehr hoch – mittlerweile stelle ich mir vor dem Verlassen des Hauses gar nicht mehr die Frage, ob ich eine Jacke mitnehmen soll. Die ist nur Ballast. Die Einheimischen, vor allem die Büroarbeiter, sind in dunklen Anzughosen und weißen Hemden unterwegs. Die Touristen in kurzen Hosen und bunten T-Shirts. Ich trage schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd. Einfach, weil ich Hemden gerne mag. Die sind leicht, haben eine praktische Brustasche, man kann sie im Fall extremer Hitze aufknöpfen, die Ärmel kann man lang lassen wenn es kühl ist und hochkrempeln wenn es warm ist und man ist immer und für jeden Anlass passend gekleidet – besser geht es kaum! Gegen die simple Eleganz und Vielfältigkeit eines Hemds sind T-Shirts dumm und hässlich. Das Leben ist zu kurz um dumme und hässliche Klamotten zu tragen.
Vor mir quert ein kleines Mädchen von vielleicht vier oder fünf Jahren die Straße auf einem winzigen Fahrrad. Sie trägt Zöpfchen und ein rosa Kleidchen. Ur-niedlich sieht das aus. Die Kleine ist offenkundig ohne Begleitung – die Straßen hier sind halt einfach enorm sicher, weil so gut wie keine Autos fahren. Als das Mädchen gerade in der Mitte der Kreuzung ist, verfängt sich der Saum des Kleidchens in der Gangschaltung des Hinterrads. Mit einem herzzerreißenden Geräusch reißt ein Teil des Saumes, der Rest wickelt sich um die Radnabe.
Die Kleine strauchelt, fällt aber nicht hin, sondern kommt gerade noch so zum Stehen. Reflexhaft will ich helfen, halte dann aber inne – ich bin ein Fremder und spreche die Sprache des Kindes nicht. Zum Glück stellt sich raus, dass sie gar keine Hilfe braucht. Sie steht neben dem Fahrrad, besieht sich die Sache und denkt einen Moment nach, dann klappt sie den Seitenständer aus und greift vorsichtig in die Zahnräder. Sorgfältig wickelt sie den Stoff davon ab. Ich erwarte, dass sie jetzt in Tränen ausbricht, aber das passiert nicht. Sie hält den Saum des Kleidchens in beiden Händen und mustert die zerrissene und ölverschmierte Stelle mit großem Ernst, dann seufzt sie, steigt wieder aufs Fahrrad, rafft das Kleidchen etwas zusammen, damit es nicht nochmal ins Hinterrad gerät, und fährt weiter.
Das war wirklich eine erstaunliche kleine Szene.
Mein erster Weg heute morgen führt, noch einmal oder schon wieder, zum Bahnhof von Ueno. Im Reisezentrum für Touristen lege ich meinen Japan Rail Pass vor und lasse zwei Reservierungen für Zugverbindungen vornehmen. Die brauche ich erst in einigen Tagen, aber frühzeitige Reservierungen sind sinnvoll und praktisch Pflicht. Die kosten Inhaber des Railpasses auch nichts, aber man kann sie nicht online vornehmen, sondern nur im Reisezentrum oder an einem Automaten.
Im Reisezentrum spricht das Personal sehr gutes Englisch, daher ist mein Anliegen kein Problem und schnell erledigt. Für jede Teilstrecke bekomme ich ein grünes Reservierungsticket ausgedruckt. Die haben die gleiche Größe wie der Railpass und sehen auf den ersten Blick genauso aus – ich werde also aufpassen müssen, dass ich nicht aus Versehen statt einer benutzen Reservierungskarte den 650 Euro teuren Railpass wegwerfe.
Gegenüber des Eingangs zum Reisezentrum rotten in einer Nische zwei Münztelefone vor sich hin. Neben ihnen steht ein Regenschirmautomat, an dem man über eine App Schirme leihen kann. Zwischen dem Ding und einem Getränkeautomaten eingekeilt ducktt sich verschämt ein grüner Automat, den ich hier schon vor drei Tagen entdeckt habe.
“Pocket Change”, steht klein auf der Frontseite, und wenn man nicht weiß, was der Automat macht, erschließt sich das auch nicht sofort. Dabei ist er für Reisende endlos praktisch. In Japan sammelt sich nämlich rasant schnell Kleingeld in den Hosentaschen an, und zwar in einer Stückelung, die man nie wieder los wird. Zwar ist es in den vergangenen fünf Jahren VIEL besser geworden was die Akzeptanz von Kreditkarten angeht, zumindest hier in der Stadt, aber gerade an den kleinen Ständen und Restaurants sieht man Bares noch am liebsten oder akzeptiert erst gar keine Karten. Als Wechselgeld bekommt man dann aber häufig Münzen zurück, die man kaum wieder ausgeben kann und die manche Geschäfte auch nicht mehr annehmen. Dazu gehören 1, 5 und 10 Yen-Münzen. Alles unter 50 Yen ist praktisch nutzlos, und gerade die 1er wirken wie Spielgeld, die sind aus Alu gepresst.
Links sind brauchbare Münzen, rechts nutzlose.
7Eleven, das ist eine der Conbini-Ketten, hat in ihren neueren Filialen Kassen, in die man Münzen einwerfen kann. die Automaten sind aber elend langsam, und man kommt bei dem Kleinzeug halt nicht auf Werte. Besser sind da diese grünen Automaten – auch wenn sie selten sind. Bislang wusste ich nur von einem, der steht am Flughafen Narita. Der hier kommt aber sehr gelegen.
Ich bin jetzt seit vier Tagen hier, und habe in der Zeit einen kleinen Polybeutel mit nutzlosem Kleingeld angesammelt. Der Wert wird nicht mal einem Euro entsprechen, aber der Beutel ist bestimmt 200 Gramm schwer. Ich entleere ihn in das Eingabefach des grünen Automaten, der in seinem Inneren die Summe zählt und auf seinem Touchscreen anzeigt. als die letzte der 40 Münzen (mehr nimmt der Automat auch nicht in einem Durchgang) verschwunden ist, habe ich die Wahl: Möchte ich dafür einen Amazon-Gutschein? Oder einen von Zalando? Ich entscheide mich für Option 3 und spende das Geld an Unicef.
Mit der Metro fahre ich zwei Stationen zurück nach Akihabara. Heute ist ein Werktag und es ist Vormittags, da ist in den Elektro- und Manga-Geschäften weniger los. Dennoch sind die Straßen belebt. Viele Touristen stromern durch das Viertel, besonders häufig höre ich chinesisch und französisch, aber auch einige Deutsche sind unterwegs.
Tokyo besteht aus miteinander verschmolzenen Städten, und die Kernstadt selbst aus Stadteilen, und die aus Vierteln. So weit, so normal. Was aber ungewöhnlich ist: Es gibt keine oder nur wenig Durchmischung der Geschäfte. Um etwas Bestimmtes zu kaufen, fährt man in ein bestimmtes Stadtviertel, wo dann ALLE Geschäfte dieser Art sind. In Akihabara wird man zum Beispiel keine Geschäfte für Töpfe finden, denn Geschäfte für Töpfe, Messer und andere Kochutensilien sind im Stadtviertel Asakusa. In Akihabara sind dagegen die meisten der großen Geschäfte konzentriert, die sich mit Mangas, Anime-Filmen, Cosplay und Computerspielen beschäftigen, der sog. Otaku-Kultur. Dazu findet man hier Modellbau und eben alle Arten von Elektronik. Ein Straßenzug hier wird sogar Electric Town genannt.
Ich laufe erst einmal durch die großen Manga-Geschäfte wie Akiba Radio und Akihabara Gamers. Gerade “Radio” ist ein beeindruckendes Haus – auf acht Etagen sind hier Spezialgeschäfte versammelt, die sich nur mit Merch-Produkten zu Mangas, Animes und Games beschäftigen, dazu Puppen- und Modellbau-Lädchen.
Leider sind die Figurenläden meist bis unter die Decke voll mit “Dragon Ball Z”, “One Piece” und “Naruto”-Merch – kenne ich alles nicht, interessiert mich auch nicht. Ich suche nach Merch zu Videogames und Filmen, die ich kenne und mag. Leider gibt es dazu so gut wie nichts, selbst Marvel-Figuren muss man mit der Lupe suchen. Trotzdem schiebe ich mich gerne durch die engen Läden und sehe mit die Auslagen an. Statt Sammelfiguren gibt es auch Sammel-Plaketten und -Aufkleber. Nehmen weniger Platz weg, sind aber eher ungeil:
Privatpersonen und freie Händler können in den Manga-Geschäften Boxen anmieten und dort alles Mögliche anbieten, wenn es eine lose Verbindung zu m Thema des Ladens hat. Die Boxen kosten Miete, und das Geschäft verkauft den Inhalt gegen eine Provision. Ab und an findet sich eine dieser kleinen Würfelvitrinen mit gebrauchtem Videogame-Merch. Wie diese Figuren aus den “Yakuza – Like a Dragon”-Games, die mit einem Stückpreis von 120 bis 600 Euro aber heftig bepreist sind:
Persona 5 ist nicht ganz so teuer, aber auch wenn ich ein Makoto-Fan bin, würde ich keine 110 Euro für eine Figur von ihr ausgeben.
“Nier Automata” ist selbst Second Hand SEHR teuer, rund 300 Euro kostet die große Figur. Sexiness-Aufschlag, vermutlich.
Überhaupt: Die Hornyness dreht in Mangas und bei Figuren völlig frei. Vermutlich ein Gegengewicht Japans ansonsten sehr konservativer Gesellschaft. Auch heute noch sind in Pornos die Geschlechtsteile verpixelt, aber so eine hypersexualisierte Comicfigur auf dem Büroschreibtisch stehen zu haben, ist völlig normal.
Akihabara ist auch genau der Ort für freizügige Figuren. Überall sind hypersexualisierte Plakate, die Mangas, Animés oder auf Maid-Cafés hinweisen.
Maid Cafés sind übrigens überhaupt nicht anrüchig. Man bekommt dort halt Speisen und Getränke von Mädchen in Maid-Uniformen serviert, ab und an singen die, und das war´s. Auch wenn die Werbung mehr zu versprechen scheint, aber vielleicht ist das auch wieder nur ein Übersetzungsfehler.
Anrüchiger sind dagegen die Geschäfte, die “DVDs” anpreisen.
Im Erdgeschoss haben die meist Krimskrams oder Kinderspielzeug, ab dem ersten Stock zwei wird es dann aber spicy: Die Regale sind voller Hardcore-Porno-DVDs, Sexspielzeug und teils lebensgroßen Silikonpuppen.
Sexualisierung macht auch vor Klassikern nicht halt. Ich bezweifele, dass die laszive Uhrura und Cat-Ear Nurse Campell offizielle Lizenzprodukte sind:
Manche Geschäfte verwirren mich. Superkartoffel?
Man sieht viel Halloween-Deko. Irgendwie scheint man in Japan jedes westliche Fest zu umarmen – kurz nach Halloween wird hier die Weihnachtsdeko aufgehängt und, obwohl die meisten hier mit dem Christentum nichts am Hut haben und auch Weihnachten nicht feiern, die Adventszeit mit Baumkuchen, Kentucky Fried Chicken (gehört für Japaner zu Weihnachten dazu) und Geschenken zelebriert.
Einige Stunden schlendere ich durch die Straßen, bis ich wieder beim Bahnhof ankomme.
In der Nähe des Bahnhof liegt auch die Electric Town. Manchmal wird der Begriff auch für ganz Akihabara verwendet, aber innerhalb des Viertels ist die Electric Town nochmal extra ausgeschildert und meint damit eine Vielzahl kleine und kleinster Stände und Büdchen, die sich in den Erdgeschossen und dem Basement einiger Gebäude neben dem Bahnhof befinden.
Hier kann man alles kaufen, was in den 90ern an Elektronik der heiße Shyce war: Einzelne LEDs, Transistoren, Widerstände, Potentiometer, Elektronikbausätze für simple bis komplizierte Schaltungen, elektrische Rundumlichter, Kabel, Steckdosen usw. Man bekommt jedes denkbare Bauteil einzeln, und Kabel werden nach Wunsch abgelängt.
Die Minilädchen meist simple Stände, die in Nischen gebaut sind. Die Ware quillt aus den vollgestopften Auslagen und ist auch rings um die Nischen dekoriert. In dem vollgestopften Haufen steht meist ein alter Mann und verkauft den Kram. Wie er dorthinkommt, mitten in den Haufen Elektronikgesumms, ist Betriebsgeheimnis.
Einen habe ich mal dabei beobachtet, wie er eine Kiste mit Kabeln, die auf dem Boden vor dem Lädchen stand, weggeschoben hat. Dahinter war ein kleines Loch, durch das er auf Händen und Füßen gekrochen und dann hinter seinem Tisch wieder aufgetaucht ist. So habe ich mir immer die Zentrale der Drei ??? vorgestellt, diesen Wohnwagen, der in einem Schrotthaufen auf Onkel Titus Schrottplatz versteckt war, und der nur über geheime Eingänge im Gerümpel erreichbar war.
Die Electric Town ist ein krasser Gegensatz zu den ordentlichen Geschäften und den feinen Boutiquen, die man eine Etage höher und auf der Straße findet. Vermutlich werden die meisten der Lädchen wirklich von Männern betrieben, die sich in den 80er und 90ern für Elektronik begeistert haben. Genau das ist jetzt auch das Problem: Diese Männer sind mittlerweile alt, einer nach dem anderen hört auf. Meist nicht, weil sie in Rente gehen, sondern weil sie schlicht nicht mehr können oder gleich tot umfallen.
Ich habe neulich ein Interview mit einem Standbesitzer gesehen. Der war dazu gekommen, erzählte er, weil er Radios so toll fand und sein Bruder in einer Radiofabrik gearbeitet hat. Das wollte er auch, obwohl es harte Arbeit war und er nur einen Tag im Monat frei hatte. An dem Punkt überlegte ich schon, wie alt der Mann wohl sein musste. Stellte sich raus: Fünfundneunzig! Mit 95 arbeitete der immer noch jeden Tag acht Stunden in seinem Elektronikbüdchen in der Electric Town und freute sich, wenn jemand ein Potentiometer bei ihm kaufte oder ein Radio zur Reparatur vorbei brachte. Mit einhundert, so sagte der Mann, wolle er dann aber definitiv aufhören.
Ein Stand nach dem nächsten wird aufgegeben. Dementsprechend hoch ist auch der Leerstand in der Electric Town. Viele Nischen, eigentlich die meisten, sind mit Rolläden verschlossen. Die Electric Town ist noch nicht ganz tot, aber sie stirbt mit ihren Händlern.
Einige der verbliebenen Händler versuchen ihr Geschäft zu diversifizieren und bieten neben Verlängerungskabeln auch Glasvitrinen zur Untermiete an oder originalverpackte Naruto-Figuren, aber das Geschäft scheint hier nicht so gut zu laufen wie in den großen und spezialisierten Otaku-Läden.
An einem Büdchen kaufe ich ein zwei Meter langes USB-C-Kabel. Das ist mal ein nützliches Souvenir. Ich hatte hier 2019 ein Lightning-Kabel gekauft und jeden Abend, wenn ich das Telefon daran ansteckte, musste ich daran denken, dass ich das in Akihabara gekauft hatte.
Oh, Shampooflaschen in Form von Comicfiguren! And die kann ich mich noch dunkel erinnern – das musss so ein 70er-Jahre-Ding sein, oder?
Monchichis! Ich dachte die gäbe es gar nicht mehr, aber HIER gibt es die noch! Vielleicht ist das sogar der Ursprung der Viecher, denen man in den 80er nicht entkommen konnte.
Ich nehme die Bahn nach Asakusa (gesprochen: Asaksa). Der Stadtteil ist bekannt für seine prächtigen Tempelanlagen und die fünfstöckige Pagode in der Nähe. Ich bin hier schon mal gewesen, allerdings am späten Abend, und damals war alles verlassen und friedlich.
Heute ist es das nicht, tagsüber und bei gutem Wetter ist das Gelände der Tempel wirklich voll. Anscheinend ist es ein Pflichtbesuch für Touristen. Amüsiert nehme ich zur Kenntnis, dass insbesondere Amerikaner immer wieder versuchen ein Selfie zu machen, auf dem keine anderen Personen im Hintergrund zu sehen sind. Ein aussichtsloses Unterfangen. Immer, wenn eine Person aus dem Bild gebeten wurde, sind schon wieder zehn neue da.
Mich erwischt es auch. Ich stehe an einer Ecke und gucke gerade auf Google Maps nach, wo ich als nächstes hin will, als eine ältere Dame auf mich zustürmt. “Excuuuuuuuuuuse Meeee!”, fistelt sie in schrillem Tonfall. Ich sehe auf. Sie ist vermutlich Anfang 70, hat knallrot gefärbte Haare und trägt ein recht geschmackloses Sommerkleid. Amerikanerin, ganz sicher.
“Excuuuuuuuuse me, may I take a picture?”, flötet sie agressiv. Ich verstehe sofort was sie will. Sie will ein Foto von dem steinernen Löwen machen, vor dem ich stehe. Aber ich stelle mich doof. Wenn Sie mich hier weghaben will, dann soll sie das sagen und hier nicht so rumflöten.
“Sicher können sie ein Bild machen”, sage ich und gucke wieder auf mein Telefon, bewege mich aber keinen Zentimeter. Die Frau guckt irritiert, dann unternimmt sie einen zweiten Anlauf. “I would really like to take a picture”, sagt sie.
Ich zucke mit den Achseln. “Habe ich nichts dagegen. Sie brauchen meine Erlaubnis nicht. Auch Japan hat FREEDOM!! “, sage ich.
“Ich would like a photo of…this”, sagt und gestikuliert in Richtung Tempel und Löwe.
“Ich bin mir sicher, dass sie dazu in der Lage sind”, sage ich ernst. “Wenn sie nur fest genug an sich glauben, können Sie ALLES schaffen”.
“But…”, sagt die Frau leicht verzweifelt.
“ICH glaube an sie”, sage ich m Grundton der Überzeugung. “Sie schaffen das”.
“But not with you in it!”, platzt es aus ihr heraus.
“Ach sie wollen, dass ich hier weg gehe? Warum sagen sie das nicht? Sie müssen sich schon deutlich ausdrücken.”
“Rude!”, schnaubt die Frau.
“I´m not rude, I´m german”, sage ich und grinse unverschämt, dann bewege ich mich in Zeitlupe aus dem Bild.
Zwischen zwei Häusern hindurch grüßt der Skytree:
Vom Tempelplatz führt eine farbenprächtige Einkaufstraße tiefer nach Asakusa hinein.
In der Einkaufsstraße gibt es viel Esoterikzeug, Regenschirme und allen möglichen Kram zu kaufen, an ihrem Ausgang liegt ein ruhiges Wohnviertel mit nur wenigen Geschäften. Vor einem stehen schon wieder so komische Igel herum.
Bevor ich wieder japanische Naturgeister mit profanen Werbefiguren verwechsle (wie den Kappa-Wassergeist, den ich für ein Kontaktlinsenküken hielt), frage ich lieber gleich den Experten. “Das ist ein Tanuki” antwortet Japan-Experte Snoeksen kurz darauf. “Erkennbar am großen… Gehänge”.
Öhm.
Und ich dachte, das seien seine Füße!
Erstaunlicherweise sehe ich sehr, sehr viele Toyota Yaris. Ein tolles Auto, so eines wartet zu Hause aus mich. Gefühlt ist jeder zehnte Wagen hier ein Yaris der vierten Generation:
An der anderen Seite des Wohnviertels liegt die Kappabashi Dōgu-gai, eine breite Hauptstraße. HIER kauft man Töpfe, Messer, Essbesteck, Teller und – Essensnachbildungen.
Kein Witz, die Kappabashi ist dafür bekannt, dass man hier alles für die heimische Küche oder für die Ausstattung eines Restaurants bekommt. Dazu gehört auch nachgemachtes Essen, das vor den meisten Restaurants in Vitrinen ausgestellt ist und anzeigt, was es drinnen leckeres gibt.
Es ist eine Kunst für sich, aus Wachs und Kunststoff Gerichte zu bauen, die wirklich täuschend echt und auch noch lecker aussehen. Die Schaufenster in der Kappabashi sind voll mit nachgemachten Gerichten. Bei einigen der Auslagen ist es mit den Künstlern durchgegangen:
Auch Getränke gibt es, auch die sehen sehr echt aus.
Ich laufe entlang der Hauptstraßen zurück zum Fluß. Das kenne ich hier alles, vor fünf Jahren haben Modnerd und ich hier in der Nähe gewohnt. Schade, das Schnellrestaurant mit den extrem guten Gyozas gibt es nicht mehr.
Auf der anderen Seite des Flusses ist die goldene Flamme auf dem Dach einer Brauerei zu sehen. Dahinter ragt der Skytree auf.
Ich wandere über eine Brücke und in den Stadtteil Sumida. Unter einer Bahnbrücke sitzt eine junge Frau am Fluß und übt Trompete.
Langsam senkt sich die Dämmerung über die Stadt. Ich laufe an kleinen Kanälen entlang auf den Skytree zu. Mit 634 Metern ist er das Dritthöchste Bauwerk der Erde. Ein Fernsehturm, der digitale Signale sendet. Fernsehtürme braucht man hier tatsächlich noch, weil die Hochhäuser sonst zu stark interferieren.
Am Fuß des riesigen Turm liegt – natürlich – eine Mall. Vier Stockwerke Luxusgeschäfte und Foodcourts. Nichts für mich, ich habe mir eben bei Family Mart ein fertiges Sandwich geholt.
Am Eingang des Skytree ist es gerammelt voll. Ich muss tatsächlich an einem Schalter anstehen und mein Online-Ticket gegen eines aus Papier tauschen.
Und einen Aufkleber bekomme ich auch noch. “5.000!” steht darauf. Fünftausend was? Besucher? Die gehen hier doch an einem Tag durch. Gefühlt stehen 5.000 Menschen allein jetzt gerade vor dem Fahrstuhl.
Später erfahre ich von Snoeksen: Das sind 5.000 x 10.000, also 50 Millionen Besucher. Komische Art das auszudrücken, aber gut, das kommt eher hin.
Eine gute halbe Stunde stehe ich in dem Gedränge, bis ich endlich auch nach oben fahren kann.
Das Hauptdeck ist auf 350 Metern. Von hier ist die Aussicht über das nächtliche Tokyo schon echt schön. In der Ferne kann ich den Tokyo Tower sehen, auf dem ich vorgestern war, und der trotz seiner 330 Meter von hier wie ein Zwerg aussieht.
Mit meinem Ticket kann ich aber noch höher hinaus. Über einen weiteren Fahrstuhl geht es hinauf auf 450 Meter. Hier zieht sich der “Airwalk” wie eine Röhre über zwei Stockwerke den Turm hinauf. Die Aussicht ist atemberaubend – aus fast einem halben Kilometer höhe kann ich fast senkrehcht hinab auf die Straßen sehen, in die Fenster der Häuser und auf die beleuchteten Baseball- und Fußballplätze zwischen den Hochhäusern.
Wie schon der Tokyo Tower hat auch der Skytree seine eigenen Animefiguren. Mit denen kann man sich fotografieren lassen, wenn man will. Will ich nicht.
Fast zwei Stunden verbringe ich in den Gängen des Airwalk, weil ich so fasziniert vom Anblick der Stadt bin. Städte bei Nacht, daran werde ich mich nie sattsehen können.
Trotzdem bin ich froh, als ich aus dem Gedränge am Turm wieder draußen bin. Der Skytree ragt in den Nachthimmel.
Das Dach des Einkaufszentrum ist ein Außenbereich, über den ich nun laufe. Als ich um eine Ecke komme, traue ich meinen Augen nicht.
Oktoberfest? HIER?! Ich inspiziere die Aushänge.
Tatsache. Krass. Aber nun, nach dem original deutschen Weihnachtsmarkt in Osaka hätte ich mir das eigentlich denken können. Oktoberfest ist halt ein Exportschlager. Auch in Italien feiert man in Städten ein Oktoberfest. Warum also nicht auch hier?
An den Buden stehen deutsche Touristen und testen skeptisch, ob das Bier wohl wirklich aus Deutschland ist.
Ich seufze und suche einen Ausgang vom Dach, dann nehme ich die U-Bahn zurück nach Akihabara. Reicht für heute.
Family Mart sorgt für´s Abendessen, und für Morgen kaufe ich noch eine Extra-ackung Crunky.
Ein letztes Mal gibt es eine Ramenbowl auf dem Dach des Akino.
Das war der letzte, ruhige Tag.
Die Akklimatisierung ist abgeschlossen, das Jetlag weg, ich finde mich einigermaßen zurecht. Zeit, Tokyo zu verlassen und den Plan in Angriff zu nehmen, von der nördlichsten Nordspitze zum südlichsten Südzipfel zu reisen.
Japan, by any means.
Tour des Tages: Ueno, Akihabara, Asakusa und Sumida. 15,6 Kilometer zu Fuß.
Weiter zu Teil 6: Hokkaido ist mehr als ein Kürbis
Zurück zu Teil 4: I found Lost!
8 Gedanken zu „Reisetagebuch Japan (5): Die elektrische Stadt ist tot“
Hach ja, der Skytree! Den habe ich damals wirklich sehr gefeiert und da wäre ich auch gern noch mal oben. Kann es aber sein, dass heute die Bilder irgendwie anders eingebunden sind? Einige Bilder, gerade von da oben, sind schon im Post kleiner und lassen sich nicht auf Klick größer laden. Gerade diese würde ich mir gern noch mal in voller Auflösung ansehen.
Und kann es sein, dass das mit der Hypersexualisierung noch mal zugenommen hat? Ich kann mich an derart, ihm, opulente Poster nicht so sehr erinnern, auch wenn es halbnackte Frauen im Anime-Style natürlich überall zu sehen gab.
Interessen zu lesen, wie sich die Ecken, die wir zusammen gesehen haben, jetzt verändert haben.
Toller Bericht. Ich lese gespannt mit.
Modnerd: Sorry, ja. Bilder waren ohne Link auf Mediendatei eingebunden. Ist repariert. Das Level an sexualisierten Darstellungen ist gleich geblieben, denke ich.
Dirk: Sehr gut! 🙂
Ich habe mich ewig nach Figuren umgeschaut und bin am Ende dann doch zu keinem Kauf gekommen. Dabei habe ich Platz in meinen Koffern vorgesehen.
Heimgeflogen bin ich dann ohne einen Einkauf.
Skytree war ich noch nie, dafür schon 2x in der Stadtverwaltung.
Unbedingt mal machen, Marco! Es ist wirklich faszinierend.
Cool. Städte und Häuser bei Nacht sind auch mein Ding. Selbst auf Fotos vermittelt sich m.E. häufig diese ganz spezielle Atmosphäre. Sehr geil.
Wir haben hier gerade mal überlegt, wie es wohl ankäme, so ne halbnackte Mangabarbie auf unseren Büroschreibtischen zu plazieren. Nur Stress mit der Gleichstellungsbeauftragten oder gleich abmahnfähig… 🙂
Auf dem ersten Foto mit dem Plastikessen hat sich der Fotograf gut erkennbar selbst in Szene gesetzt. Als jahrelanger Leser dieses Blogs nehme ich an, nicht absichtlich.
Das war tatsächlich nicht absichtlich, danke für den Hinweis 😉
Diese Maid-Sache ist aus unserer Sicht wirklich seltsam.
Ich bin da erstmals drauf gestoßen, als ich auf YouTube mal nach Metal aus Japan gesucht habe 🙂
Band-Maid spricht ihre Fans z.B. passend devot mit “Masters & Princesses” an.
https://youtu.be/2MOvCkCqz_U?si=AiMtbvVwO0lboF-T
Youtube-Anspieltipps sind auch Lovebites
https://youtu.be/Uds7g3M-4lQ?si=mXqFdVw0w0EhtL5c
Und Babymetal – die füllen mit ihrer Show auch große Hallen 🙂
https://youtu.be/y0eRWqiGhuw?si=vulHC0OYyMx5SQfO