Reisetagebuch Japan (7): Die Hölle und die Göttin

Reisetagebuch Japan (7): Die Hölle und die Göttin

Reisetagbuch Japan. Heute geht es in das Tal der Hölle, mein Albtraum wird beinahe wahr und eine Göttin hantiert mit einem Tischtennisball.

Donnerstag, 10. Oktober 2024, Ryokan bei Atsumo
Als ich gegen 06:30 aufwache merke ich sofort, dass etwas fehlt: Dieses Gefühl der Schuld, das dieser wiederkehrende Albtraum in den letzten Tagen und Wochen nach jedem Aufwachen hinterlassen hat. Ich habe heute Nacht nicht davon geträumt, in einem japanischen Dorf ein Kind angefahren zu haben. Vermutlich, weil ich gestern endlich wirklich in Japan mit einem Auto gefahren bin, und mein Hirn die Befürchtungen und Ängste dadurch beiseite legen konnte. Wäre mir zumindest sehr recht, wenn dieser gruselige Traum damit ein für alle mal abgeheftet wäre und nie wieder auftauchen würde.

Wenig später stehe ich im Türrahmen des Frühstücksraums. Dort sitzt bereits eine Gruppe schnatternder Rentnerinnen und Rentner um einen der größeren Tische. In einer Ecke steht eine Karaffe mit Saft. Ich nehme mir ein Glas, dann setze ich mich an einen kleinen Tisch und warte. In der Küche, rumpelt eine ältere Dame herum, aber nichts passiert. Auf dem Tresen steht ein Schild mit einer Kaffeetasse.

Ich gehe hin und lasse es mir vom Telefon übersetzen. Da steht: Frühstücksgäste sollen bitte nicht zögern, sich Kaffee zu nehmen. Okay. Aber habe ich nun eigentlich Frühstück gebucht? Booking sagt nein, die Anmeldung sagt ja, ich sage: Egal. Ich will hier nicht noch länger warten. Ich trinke meinen Saft aus und mache mich auf den Weg.

Auf dem Parkplatz des Ryokans hat der Yaris die Nacht gut verbracht.

Ich gucke mir das Auto noch einmal etwas genauer an. Der Wagen, das ist mir gestern aufgefallen, spricht nämlich in Stimmen. Mehreren Stimmen. Neben Carplay, aus dem meine Siri tönt, gibt der Wagen von sich aus Verkehrshinweise auf Englisch, aber bei jedem Start kommen noch aus mindestens zwei anderen Ecken Stimmen auf Japanisch her.

Ah, neben meinem Knie hängt ein Gerät für Autobahnmaut. Das sagt anscheinend beim Start “Keine Karte installiert”. Okay, ich will ja auch nicht Autobahn fahren.

Und hinter dem Rückspiegel quatscht es auch hervor. Da klemmt eine Dashcam! Das erklärt auch das Gedüdel, wenn ich durch Schlaglöcher fahre, das ist wohl das akustische Signal zur Datensicherung. Okay.


Die Fahrt führt ein Stückchen durch die Berge, aber sobald die Straße aus denen herausführt, wird es sehr schnell sehr langweilig. Die Stadt Tomakomai zieht sich ewig, dann folgt eine Ortschaft an der nächsten und alle paar Hundert Meter rote Ampeln. An flüssiges Vorwärtskommen ist nicht zu denken, alles dauert gefühlt ewig.

Später wird es besser, als die dichte Besiedlung einer einzelnen Häuserkette links und rechte der Straße weicht. Ich hänge den Ellenbogen aus dem Fenster, drehe den Podcast auf und genieße die Fahrt entlang der Küstenstraße.

Aufmunterung ist ein Supermarkt, auf dessen Dach ein RIESIGER Bär steht. Ich stelle den Yaris auf Autopilot und schieße schnell ein Bild von dem Haus, während der Toyota von allein die Straße hinunter cruist.

Nach rund anderthalb Stunden habe ich mein Ziel erreicht. Eine kleine Ortschaft duckt sich in ein enges Tal. Was aussieht wie steile, waldbedeckte Berghänge auf beiden Seiten der Ortschaft, sind tatsächlich die Wände eines gigantischen Vulkans, in dessen Inneren ein See liegt.

Der Parkplatz, den ich mir im Vorfeld ausgeguckt hatte, ist schon gut belegt. Nur wenige und kleine Parklücken sind frei.

Ich pfeife auf japanische Etikette und parke als einziger mein Auto vorwärts ein. Dann laufe ich an großen Busparkplätzen vorbei und wandere mit Dutzenden anderen Besuchern das Tal hinauf in einen Bereich, in dem keine Häuser mehr stehen.

Neben dem Weg ist ein Loch im Boden, aus dem es dampft.

Das ist nur ein kleiner Vorbote. Hinter einer Biegung führt der Weg auf einer Holzkonstruktion weiter, die einen Blick auf das Talende ermöglicht. Hier dampft es überall aus dem weißlich-gelben Boden.

Das Tal von Noboribetsu Jigokudani. Den Namen kann sich niemand merken, bekannter ist der englische Spitzname: Hell Valley, das Höllental.

Dort, wo die Hölle beginnt, ist das Tal schon sehr schmal. Bäume und Büsche wachsen nicht auf dem grauen Untergrund. Eigentlich sieht das hier aus wie ein Steinbruch. Es könnte auch eine Baustelle sein, oder eine Kiesgrube, wenn es nicht überall aus der Erde dampfen würde und ein penetranter Schwefelgestank in der Luft hängen würde.

Der Holzsteg führt in das Tal hinein und endet nach wenigen hundert Metern in einer Plattform. Hier drängen sich die Touristen um eine kleine, heiße Quelle, wo heißer Schlamm vor sich hinblubbert. Aus den Blasen riecht es nach Schwefel. Pupsschlamm.

Schnell drehe ich um und folge dem Weg zurück. Dann decke ich einen Wegweiser: “Aussichtspunkt 580 m”. Ich gucke bei Google Maps nach. Das muss ein Aussichtspunkt sein, der über einen alten Vulkansee blickt. Das klingt interessant! Ich misstraue nur den 580 Metern. Vermutlich sind es 580 Meter mit 100 % Steigung oder so, das Spielchen kenne ich schon von Miyajima. Da waren es “nur” zweieinhalb Kilometer bis zum Aussichtspunkt, aber die führten durch Dschungel und senkrecht den Berg hoch.

Ach, was soll’s. Ich probiere es und folge dem Weg den Berg hinauf. Der Anstieg ist gar nicht so schlimm, und nach zehn Minuten treffe ich auf einen weiteren Wegweiser. Jetzt sind es nur noch 480 Meter. Was? Ich soll in Zehn Minuten nur 100 Meter gelaufen sein? Wie haben die denn die Strecken ausgemessen? Wie geht das denn?

Ich laufe ein Stück weiter, bis der Weg unvermittelt in einer Treppenkonstruktion endet, die sich eine Felswand hinaufwindet. “Nein”, denke ich, “das sieht anstrengend aus”. Und drehe um.

Über Landstraßen steuere ich den Yaris zurück Richtung nach Sapporo. Es geht durch teils sehr schöne Bergregionen. Highlight ist ein großer See, der Shikotsu-See, in dessen ruhigen Wasser sich die umliegenden Berge spiegeln. Das ist atemberaubend schön.

Je geringer die Distanz bis Sapporo wird, desto aufgeregter werde ich. Wird die Fahrzeugrückgabe klappen? Ich muss vorher noch tanken, bekomme ich das hin? Entweder man wird bedient, oder man ist hilflos völlig überladenen Automaten ausgeliefert. Und die Rückgabe des Autos? Die haben ja bei der Ausleihe nicht mal eine Kaution blockiert, ich hoffe sie werden nicht irgendwelche komischen Dinge berechnen. Irgendwie auch schade, dass ich mich vom Yaris trennen muss. Ich hätte jetzt Lust noch tagelang mit dem weiter zu fahren.

In Sapporo ist der Stadtverkehr wieder relativ dicht, und Google Maps möchte mehrfach, dass ich an Stellen abbiege, wo es keine Möglichkeit zum abbiegen gibt. Schließlich habe ich meinen Weg dann aber doch durch den Stadtverkehr verhandelt und finde die große Tankstelle, die ich am Abend zuvor ausgeguckt hatte. Wie funktioniert jetzt das Tanken wohl?

Darüber hätte ich mir keine Gedanken zu machen brauchen. Noch während ich auf das Gelände fahre, sieht mich ein junger Tankwart und winkt mich mit steifen Bewegungen an eine Zapfsäule. Mit einem Ernst, als ob er ein Flugzeug einweist, positioniert er den Yaris ganz exakt und gibt mir sogar mit gekreuzten Armen einen Stoppzeichen.

Ich kurbele das Fenster runter und frage “Speak English?”. “No”, antwortet er und lacht laut los. Junge, mit sowas macht man keine Witze. Nicht in Japan. “Cardo, Prease”, sagt er.

Ich gebe ihm meine Kreditkarte, und er tankt den Wagen voll. Als er damit fertig ist, kommt seine Kollegin, gibt mir meine Karte zurück und hält mir eine eine Quittung zum Unterschreiben hin. Und das war’s schon. So einfach geht tanken in Japan.

Vorsichtig rolle ich aus der Tankstelle wieder heraus, lasse noch einen Bus durch und fahre dann auf die Straße. Der Bus ist unmittelbar vor mir und füllt fast das gesamte Sichtfeld aus, und so bemerke ich die rote Ampel tatsächlich erst in dem Moment, als ich darunter durchfahre. In genau diesem dem Moment betritt schon ein Fußgänger die Fahrbahn, wenige Meter vor meinem Wagen. Ohne nach links oder rechts zu schauen, springt er genau vor das Auto, das mit den erlaubten 40 Sachen unterwegs ist.

Der Yaris gibt einen schrillen Alarmton von sich und die Instrumente flackern knallrot, aber da habe ich schon einen Fuß auf der Bremse, die jetzt viel kraftvoller zupackt als normal, und weiche gleichzeitig aus. Der Fußgänger bemerkt den Toyota und springt zurück. Beides zusammen, ausweichen und zurückspringen, reicht gerade eben so aus, dass ich den Mann nicht erwische. Ich gebe sofort wieder Gas und bin von der Kreuzung runter.

Verdammter Mist, wie ist das denn jetzt passiert? Ich ärgere mich über mich selbst. Was für ein Scheiß! Zwei Kilometer vor dem Ziel!!! Wie auch immer, ich bin froh, dass nichts passiert ist.

Kurz darauf bin ich schon bei der Mietwagenstation. Noch während ich aussteige kommt bereits ein Angestellter und kriecht in den Innenraum, notiert den Kilometerstand und weist darauf hin, dass ich nichts vergessen soll. Dann verschwindet er in seinem Bürocontainer. Ich ziehe meinen Rucksack von der Rückbank und stecke das iPhone ab. “Tschüss, Du”, sage ich zum Yaris. Echt ein cooles Auto.

Als ich den Container betrete, überreicht mir der Angestellter bereits einen Zettel, macht “das war schon”-Gesten und lächelt freundlich. Ich lächle freundlich zurück und freue mich – was war ich nervös und aufgeregt, ob das hier alles klappt, und dann war’s das jetzt einfach schon.

Glücklich schultere ich meinen Rucksack und marschiere zum Bahnhof. Im dortigen JR Center gebe ich erneut Wünsche zur Reservierung an. Damit beschäftige ich einen Trainee rund eine halbe Stunde. Er hat abstehende Ohren und ist offensichtlich stark kurzsichtig. Seine Kollegin nebenan macht den Job offensichtlich schon länger und spricht perfektes und fast akzentfreies britisches Englisch, während er kaum drei Worte über die Lippen bekommt und sich jeden Handschlag genau überlegen muss. Aber egal, ich habe Zeit, und er offensichtlich auch. Und zu seiner Entlastung: Mein Anliegen war auch nicht ganz einfach. Nach einer halben Stunde halte hier endlich sechs Reservierung Karten für zwei Fahrten in Hand.

Dann mache ich mich auf dem Weg ins Hotel, dort funktioniert auch alles hervorragend. Allerdings weigert sich die Tante an der Rezeption, auch nur ein Wort englisch zu sprechen. Die redet einfach japanisch, aber zum Glück weiß ich schon, was sie von mir will und was ich in welcher Reihenfolge sagen oder überreichen muss.

Im Hotelzimmer lege ich mich auf´s Bett und starre an die Decke. Was da eben alles hätte passieren können! Mir macht das Angst. Warum habe ich die rote Ampel nicht gesehen? Das der Bus vor mir auch bei Rot drüber gerauscht sein muss, erklärt nicht, weshalb ich die nicht rechtzeitig mitbekommen habe – denn japanische Kreuzungen haben ein Lichtsignal vor und eines hinter der Kreuzung, und ich habe nur das hintere gesehen. Was habe ich falsch gemacht?

Ich klappe das Notebook auf und schaue mir die Kreuzung ganz genau auf Google Maps und im Streetview an. Dann dann sehe ich es: Die Ausfahrt der Tankstelle liegt genau auf Höhe der Haltelinie und hinter den Hinweisen, dass gleich eine Ampel komm, also quasi mitten im Kreuzungsbereich. Und: Die Ampel hat nur ein Lichtsignal hinter der Kreuzung, in deren Verlauf die Straße zudem eine leichte Kurve beschreibt und ein Gefälle aufweist. Vor der Kreuzung gibt es keine Ampel – ich hatte also keine Chance die rechtzeitig zu sehen.

Okay, damit konnte niemand rechnen. Ob ich wohl geblitzt oder gefilmt worden bin? Wie teuer wird das dann wohl? Außerdem habe ich einen Fußgänger gefährdet, das kann bestimmt sogar noch mal extra geahnt werden. Darf ich vielleicht am Ende in Japan nie wieder Auto fahren? Ich ärgere mich, über mich selbst.

Dann verdränge ich die Gedanken und gehe in den Odori-Park.

Auf einer Parkbank sitzend lese ich ein wenig. Eine Frau neben mir beginnt einen Livestream und redet mit ihrem Publikum, andere folgen ihrem Beispiel.

Als es dunkel wird, besorge ich mir noch ein Kleinigkeit zum Abendessen und ziehe ich mich ins Hotel zurück. Es gibt Baumkuchen. Der ist tatsächlich echt, nicht nur angemalter Rührkuchen. In Japan steht man auf Baumkuchen, der hier tatsächlich auch “Baumkuchen” heißt.

Heute endet der Tag mal etwas mehr früher, der morgige Tag wird lang genug.

Tour des Tages: Von Atsumo ins Hell Valley, dann zurück nach Sapporo. 208 Km mit dem Auto, 8 Km zu Fuß.

Freitag, 11. Oktober 2024, Sapporo
Um 5:15 Uhr klingelt der Wecker, und schon wenige Minuten später laufe ich mit dem Rucksack auf dem Rücken durch die Straßen von Sapporo. Es ist kühl, die Temperatur liegt bei sieben Grad. Die Stadt schläft noch. Nur vereinzelt sind erste Autos unterwegs, und hinter den Hochhäusern geht gerade die Sonne auf.

Das Bahnhofgebäude wird auch in goldenes Sonnenlicht getaucht.

Im Bahnhof ist noch nicht viel los. Was ist das? Die Lorelei?

Ich finde auf den richtigen Bahnsteig und den richtigen Zug. Um 6:20 Uhr rollt er aus dem Bahnhof heraus. Das hier ist kein Shinkansen, und die Fahrt geht langsam voran.

Der Südzipfel von Hokkaido ist mit Bergen durchsetzt, und die Bahn muss sich darum herum schlängeln und fährt größtenteils am Meer entlang. Deshalb dauert es ewig, um mit der Bahn von Hokkaido weg zu kommen oder dorthin zu gelangen.

Ich prüfe nochmal meine Reservierungen und präge mir die Umstiege ein…

…okay, passt alles.

Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und lese, während draußen abwechselnd Küste und Berge vorbeiziehen.

Nach vier Stunden zockelt die Bahn in den Bahnhof von Hakkodate. Für den Umstieg sind nur wenige Minuten vorgesehen. Gebrandmarkt von Erlebnissen mit der Deutschen Bahn stehe ich als erster in der Tür des Wagens, den Rucksack fest auf den Rücken geschnallt, vorbereitet auf einen Hürdenlauf durch den Bahnhof. Aber als ich aus dem Zug springe, stehe ich schon direkt vor einer Schranke zu den Shinkansen-Bahngleisen.

Ich schiebe meinen Railpass in eine Säule, die Schranke öffnet sich und unmittelbar dahinter ist schon der Bahnsteig, zu dem ich muss. Der Wechsel zwischen zwei Zügen hat 30 Sekunden gedauert. Ich kann es kaum glauben.

Der Shinkansen rollt aus Hakodate heraus und nimmt sofort richtig Fahrt auf. Er schießt durch einen Tunnel unter dem Meer hindurch und kommt auf Honshu, der Zentralinsel, wieder heraus.

Um 13:30 Uhr rollt der Bullet Train in Sendai ein, einer großen Stadt an der Ostküste. Warum Sendai? Nun, weil das Spiel “Persona 5 Strikers” hier hin einen Abstecher gemacht hat. Besonders in Erinnerung ist mir das gestreife Pflaster vor dem Bahnhof geblieben, und das will ich in echt sehen. Bevor ich die Stadt erkunde, suche ich im Bahnhof noch ein Münzschließfach.

Ich finde die hochmoderne Variante, die nur mit einer Suica Karte funktioniert. Man legt die Tasche hinein, drückt das Fach zu, dann hält man die Karte beziehungsweise das Handy an ein Lesegerät und erhält eine Quittung. Ob ich wohl später meine Tasche zurückbekommen werde? Ich präge mir genau ein, wo genau in Hunderten von Schließfächern meines ist (neben der Statue mit dem Samurai).

Im wirklichen Leben sieht es hier genauso aus wie im Game. Was mir darin nicht aufgefallen war: Wo Hannover seine Fußgängerzone unter die Erde verlegt hat, ist die von Sendai darüber, über dem fließenden Verkehr. Dass das gestreifte Pflaster ist quasi die Fußgängerzone, zehn Meter über den Straßen! Der Autoverkehr ist sehr heftig, im Gegensatz zu Tokyo scheint Sendai eine Autostadt zu sein.

Ich treibe mich an den Orten herum, an denen auch das Spiel spielt, dann gehe ich zum Busbahnhof hinab, der natürlich auch unter der Fußgängerzone liegt.

Ich suche nach dem Bus mit der Nummer 910, finde aber keine Haltestelle für Busse mit Nummern. Anscheinend haben die Busse hier Namen, die ich aber nicht wirklich entziffern kann.

Ich frage deshalb an einem Informationsfenster. Natürlich erstmal mit einem ganz vorsichtigen “Speak English?”

Der Angestellte guckt erschrocken, dann macht er mit Daumen und Zeigefinger die weltweit verstandene Geste für “ein winzigkleines Bisschen”.

Ich hole einen Zettel und einen Stift auf dem Slingpack, schreibe die Nummer “910” darauf und halte den Zettel an die Scheibe. “Aaaaah”, kommt es von der anderen Seite. Der Angestellte bricht in hektische Aktivität aus und kramt in einem Stapel Unterlagen herum, bis er ein einen laminiertes DIN-A4-Blatt gefunden hat. Das hält er mir hin. “Other Bus Company. Ask at window on opposite side” steht darauf. Andere Buslinie, fragen Sie bitte am Fenster gegenüber. Na dann.

Am anderen Fenstern zu fragen ist aber gar nicht nötig, denn die anderen Buslinien haben tatsächlich ihre Busse nicht nur mit wohlklingenden Namen ausgestattet, sondern wirklich auch mit Nummern, und diese Nummern sind am Bussteig angeschlagen.

Ich beobachte andere Fahrgäste und mache es ihnen nach: Einsteigen durch die hintere Bustür, dabei die Suica-Karte an ein Lesegerät halten. Ich schraube mich in einen winzigen Sitz. Der Bus ist gut gefüllt und schaukelt durch die Straßen von Sendai, biegt dann in ein Wohnviertel ab und schauft einen Berg hinauf.

Rund 30 Stationen und genauso viele Minuten später steige ich aus. Der Ausstieg ist vorne, beim Fahrer. Neben dem ist auch das Lesegerät für die Suica, das bucht nun automatisch den Preis für die richtige Entfernung ab.

Kaum aus dem Bus ausgestiegen, sehe ich auch schon das Ziel meiner Fahrt über die Baumwipfel grüßen. Einhundert Meter. So hoch ist der Koloss von Sendai, der hier, am Rand der Stadt, steht.

Die Statue ist die neunt-größte der Welt. Die zeigt die Frauenfigur Kannon aus dem Shingon-Buddhismus. Aus der Ferne sieht es aus, als ob sie mit einem Flachmann und einem Tischtennisball hantiert, aber das ist wohl das Gefäß mit dem Wasser der Weisheit und das Juwel der Vorhersehung.

Irgendwie seltsam, dass diese Statue hier steht, zwischen einem Golfplatz und Einkaufszentren. Oder vielleicht auch nicht, immerhin wurde sie wohl zum hundersten Geburtstag de Stadt Sendai im Jahr 1991 von einem Geschäftsmann hier hin gebaut.

Das Außengelände ist verwildert. Auf einem gepflasterten Vorplatz gibt es steinere Sitzmöglichkeiten und Arkaden. Von denen blättert aber die Farbe ab, und überall sprießt kniehohes Unkraut.

Vor dem Eingang bewegt sich eine Influencerin vor einer Kamera herum, zu einer Musik, die nur in ihrem Kopf spielt. Der Eingang ist wie ds das Maul eines chinesischen Drachen geform. Im Inneren muss man eine Eintrittskarte für 500 Yen kaufen, dann darf man die Ausstellung ansehen und den Fahrstuhl benutzen.

Die Ausstellung ist ein edler, aber etwas wilder Mix aus buddhistischen Figuren und Statuen von… chinesischen Dämonen? Oder Kriegern. Oder Dämonenkriegern. Ich sage ja: Wild.

Mit dem Fahrstuhl geht es dann in zwölften Stock. Dort, auf 68 Metern Höhe, oben gibt es einige kleine Fenster, aus denen man rausschauen kann. Der Blick ist nett, wenn auch nicht spektakulär.

Dann gibt es noch einen Gebetsraum, ein Sanktuarium.

Hinter dem geht es dann Treppen hinab. Im Inneren ist die Daikannon-Figur gar nicht mal so schön, der Boden ist mit grünem Linoleum ausgelegt, und die Wände sind in angemaltem Beton gehalten. Sieht er aus wie in einer Schule.

Wenn nicht dieses unheimliche Treppenhaus wäre. Das liegt im Halbdunkel, aber auf jeder Etage finden sich wieder Figuren, dieses mal in beleuchteten Vitrinen. 108 sind es, jede symbolisiert ein menschliches Verlangen. Ich halte das ja für leicht übertrieben. Jeder weiß, dass die menschlichen Verlangen derer vier sind: Schlafen, WLAN, TikTok und Pornhub.

Wieder auf der Straße gehe ich gleich zurück zur Bushaltestelle – außer der Statue gibt es hier draußen nichts interessantes. Google-Translate mit Kameraübersetzung ist übrigens Gold wert:

Neben der Bushaltestelle befindet sich das “Chateau Excel”. Klingt wie ein Seniorensitz für pensionierte Buchhalter.

Ich steige in den nächsten Bus zurück in die Stadt. Aus der erhöhten Sitzpostion nehme ich amüsiert zur Kenntnis, dass die Autofahrer hier während der Fahrt alles Mögliche machen. Er hier z.B. guckt Fernsehen. Jetzt weiß ich auch, warum mein Miet-Yaris einen HDMI-Anschluss hatte.

Und er hier… behält zig Handys gleichzeitig im Auge.

Im Bahnhof versuche ich meinen Rucksack wieder zu bekommen. Das stellt sich als gar nicht so einfach heraus, weil die englische Bedienoberfläche zunächst die Taste für das Öffnen des Schließfachs nicht anzeigt. Verwirrt halte ich wieder und wieder das Handy an das Lesegerät, aber das macht überhaupt nichts.

Erst nach einem Ausflug in ein Untermenüs ist die Schaltfläche “Take Out” mit einem Mal da, das Lesegerät leuchtet auf, und das Fach mit meinem Rucksack darin öffnet sich.

Zufrieden ziehe ich von dannen und laufe zwei Kilometer die Straße runter bis zum heutigen Hotel.

Schöne Autos haben die hier.

Die Unterkunft ist ein APA-Business Hotel. Die Dinger gibt es überall und haben den Ruf, günstig und gut zu sein. Der Checkin erfolgt an einem Automaten. In der Theorie müsste ich nur meinen Reisepass scannen und alles Weitere geht automatisch, aber er hier… will irgendwie nicht.

Erst als eine Hostess mir den Reisepass aus der Hand nimmt, ihn einmal um 180 Grad dreht und wieder auf den Scanner legt, macht es mit einem Mal “Piep”, das Gerät scannt, findet meine Reservierung und druckt nach einer nochmaligen Prüfung meiner Adresse eine Zimmerkarte aus.

Das Zimmer ist im 20. Stock. Es ist nicht besonders groß, aber wieder mit allem ausgestattet, was man so braucht. Das Fenster geht zur Straße und zum Bahnhof hinaus. Gekippt hört man die Autos und das Rumpeln und Quietschen der Bahnen sehr laut, geschlossen ist es aber erträglich. Weniger erträglich ist ein seltsames klappern, entweder vom Dach oder aus der Lüftung. Klingt, als würde der Wind an einem alten Wäscheständer herum reißen, an den jemand Blechdosen gebunden hat. Egal. Der Ausblick macht das alles wett.

Ebenfalls nervig: es gibt kein Lichtschalter für das Badezimmer. Ich suche mehrfach alles ab, finde aber nur einen Schalter, der etwas versteckt ist und dann in dem ein Zettel klebt: “Bitte niemals ausschalten, 24 Stunden Lüftung”. Seltsam.

Nach einer kurzen Ruhepause mache ich noch einen Spaziergang durch einen kleinen Park in der Nähe. Zikaden sitzen in Bäumen und machen laute Geräusche. Ich mag das ja.

Danach spaziere ich noch etwas durch die Straßen, aber das macht wenig Spaß. Sendai ist wirklich eine Autostadt, und der Feierabendverkehr bietet nur begrenzten Unterhaltungswert. In einem 7eleven decke ich mich mit Abendessen ein: einer Reisschüssel mit Schweinefleisch und zum Nachtisch einen Blaubeerjoghurt. Der schmeckt nach allem, aber nicht nach Blaubeeren so wie wir es gewohnt sind.

Vor meiner Tür höre ich ein Putzteam. Die befrage ich, wie das Licht im Bad ausgeht. Lachend knipsen sie den “Niemals ausschalten, bloß nicht anfassen!”-Schalter aus. Aha.

Den Rest des Abends zerbreche ich mir den Kopf darüber, wie ich wohl an mein morgiges Ziel komme. Zwar habe ich schon eine Reservierung für einen Zug, der taucht aber weder in der Japan Navi App auf noch bei Google Maps. Wie bin ich denn auf denen gekommen? Naja, ich werde morgen früh schon sehen, ob der fährt oder nicht.

Schwieriger wird aber das Zielgebiet morgen: eine zerklüftete Bergregion, in der es zig verschiedene Transportmittel gibt, vom Bus über den Zug über eine Zahnradbahn bis hin zu einer Seilbahn. Es ist beim besten Willen nicht herauszubekommen, ob ich für diese Transporte meine Suica Karte benutzen kann und wie viel die einzelnen kosten. Jetzt rächst sich, dass ich zu Hause keine Lust auf Vorbereitung hatte. Zwar sind die Webseiten dieser Region sehr gut, aber die versuchen einen tatsächlich für 5000 ¥, also rund 30 €, eine Zweitageskarte aufzuschwatzen. Nach fast zwei Stunden Rumwühlerei auf diversen Webseiten kaufe ich in entnervt diesen Tagespass. Habe ich morgen weniger Stress.

Tour des Tages: Von Sapporo nach Sendai mit Bimmelbahn, Schnellzug und Bus. Rund 830 Kilometer, rund sechs Stunden mit der Bahn. Zu Fuß etwas über sechs Kilometer.

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9 Gedanken zu „Reisetagebuch Japan (7): Die Hölle und die Göttin

  1. Sehr gut, dass du nach Fehlern im Verkehr sehr in dich gehst und nochmal analysierst. Das mache ich auch so, weil mich das auch immer sehr trifft und nach Möglichkeit soll ja ein Fehler möglichst großen Lerneffekt auslösen.

    Schau noch mal auf den Absatz rund um die Leihwagenrückgabe, da sind noch Bugs in der Wortreihenfolge und Co. 😉

    Und die beiden Bilder vor dem Bahnhof von Sendai taugen perfekt als “Finde-den-Unterschied”-Bilder. Erst dachte, ich du hast einfach zweimal dasselbe Bild gepostet bis mir aufgefallen ist, dass nur manches ähnlich ist. Lustigerweise sind aber auch Dinge sehr ähnlich/gleich, die vermutlich gerade in Bewegung sind. Skurril!

  2. Sehr interessanter Bericht, wie immer sehr lesenswert. Interessant, wie andere sich für eine Reise inspirieren lassen und die Ziele danach auswählen.
    Bei der „Lorerei“ habe ich eher spontan an die kleine Meerjungfrau in Kopenhagen gedacht.

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