Reisetagebuch Japan (10): Teigverprügler und kriminelles Schalenwild

Reisetagebuch Japan (10): Teigverprügler und kriminelles Schalenwild

Das Reisetagebuch durch Japan. Heute mit Teigverprüglern und kriminellen Rehen.

Montag, 14. Oktober 2024, Kyoto
Sitze ich wirklich im richtigen Zug? Kurz habe ich Zweifel, aber dann steigt eine Reisegruppe ein. Der japanische Guide verkündet langsam und sehr deutlich “Allora, trovate tutti un posto a sedere e parlate bassa, per favore! Arriviamo a Nara poco prima delle 10!”, dann nimmt er mir gegenüber Platz, schließt die Augen und pennt ein, währen die Italiener in seinem Schlepptau sich unsicher umblicken. Die wichtge Info war jetzt aber: Wir kommen um kurz vor 10 in Nara an. Super, da will ich auch hin, also bin ich richtig.

Nara ist eine kleine Stadt, 40 Kilometer südlich von Kyoto. Als eigenständiger Ort ist es kaum noch zu erkennen, es verschmilzt im Norden mit Kyoto und von Westen kommt Osaka immer näher heran. Japans Mega-Aglomerationen wachsen immer weiter.

Nara ist bekannt für seine große Parkanlage, die im Osten an die Berge stößt, und die will ich mir ansehen. Um dorthin zu kommen könnte ich einen Bus vom Bahnhof nehmen, aber ich laufe lieber zu Fuß durch den Ort.

An einem Laden bilden sich jetzt bereits jetzt, um kurz nach zehn, lange Schlangen vor allem ausländischer Touristen. So lange Schlangen, das Ordner mit Megaphon davor stehen und die Besucher einweisen und dafür sorgen, dass andere Passanten oder Autos überhaupt noch durchkommen. Was ist denn hier bloß los, dass es so einen Auflauf gibt? Ich schüttele den Kopf und laufe weiter.

Später werde ich herausfinden, dass in dem Laden Mochi hergestellt wird, eine japanische Süßigkeit aus Reis. Mochi ist mit nichts vergleichbar, was es im Westen gibt. Es fühlt sich im Mund samtig und weich an, ohne klebrig oder süß zu sein. Damit es seine einzigartige Konsistenz bekommt, muss der Teig mit Hämmern verprügelt werden. Der Laden hier hat daraus eine Show gemacht, “High Speed Mochi Making”, wo zwei bis drei Leute mit großen Hämmern bis zu drei mal die Sekunde(!) auf einen Mochiklumpen einschlagen:

NATÜRLICH ist das viral gegangen, und nun stehen Touristen aus aller Herren Länder von morgens bis Abends vor dem Fenster und filmen die Teigverprügler. Kaufen tun die wenigsten was. Es geht nur um das Video für Insta.

Dann finde ich den Eingang zum Park.

Gleich beim Betreten werde ich mißtrauisch von einem Reh beäugt. Böse funkelt es mich an, aus verschlagen blickenden Augen.

Ich kenne diese Sorte schon.
Sikahirsche.
Das sind die schlimmsten. Sehr gefährliche Tiere, mit einem starken Hang zur organisierten Kriminalität. Sie bilden gerne Banden, rauben einzeln oder in Gruppen Touristen aus, erpressen Schutzgeld von Kioskbesitzern und sind ganz groß in Trickbetrug, von Hütchenspielerei bis Internet-Scams. Bei der Wahl der Mittel sind sie nicht zimperlich. Gegen eine Gruppe Sika-Hirsche wirken russische Inkassounternehmen harmlos.

Am Eingang des Parks warnen Schilder vor den gemeingefährlichen Terror-Hirschen. Bildhaft ist dargestellt, wie die Viecher alten Frauen die Handtasche stehlen, Kinder verprügeln und beim Hütchenspiel betuppen.

Um die Tiere ruhig zu stellen soll man Wegzoll an sie zahlen. 200 Yen sind das Minimum, und die Hirsche erwarten, dass man die in Form von harten, dünnen Keksen rüberreicht.

Deshalb werden die überall verkauft, von unglücklich dreinschauenden Verkäuferinnen, die unter den Argusaugen von Reh-Aufpassern zu weniger als dem Mindestlohn schuften müssen.

“Wäre doch schade, wenn ihnen im Park was passieren würde, oder? Für 200 Yen können wir für Ihre Sicherheit garantieren”. – Nee, nicht mit mir. Ich verzichte vorerst auf den Kauf von “Schutz” im Park. Ich kann mich im Notfall wehren. Entweder werde ich deshalb auf Schritt und Tritt von skeptischen Blicken der Hirsche verfolgt, oder es liegt an etwas anderem. Vor 5 Jahren, auf der Insel Miyajima, habe ich beinahe eines der Tiere umgebracht. Nur aus Versehen, natürlich. Ob sich das rumgesprochen hat? Wie auch immer: Ich kann keinen Meter gehen, ohne nicht böse angeglotzt zu werden.

Trotz der Rehe ist der Spaziergang durch den Park nett. Es scheint immer nur bergauf zu gehen, und links und rechts liegen mal romantisch verwilderte Steine, mal Tempel, mal Schreine.

Der Unterschied zwischen Tempel und Schrein? Tempel findet man eher im Buddhismus, und darin wird einer Gottheit gehuldigt. Schreine kommen aus dem Shintoismus, der Natur- und Ahnenreligion. Die Unterschiede sind durchaus handfest: In Tempeln wir gebetet, in einem Schrein wird innere Einkehr gehalten und bei den Ahnen Valuta gegen Glück eingetauscht. Es ist sogar geregelt, welche Münzen und welchen Betrag man für welche Sache hinterlassen sollte. Grundsätzlich gilt: Wenn ein orangefarbenes Torii davorsteht, handelt es sich in aller Regel um einen Schrein.

Auf kleine Holztafeln an einem Schrein können die Gäste Wünsche hinterlassen. Manche sind… seltsam.

Das Schild hier fordert “Mehr Schlafbeeren für alle!” – vermutlich hat die ein Reh da hingehängt.

Ein Mädchen wünscht sich wohl eine Zauberflöte um Rehe abzuhalten.

Während des Spaziergangs sehe ich überall, wie schlecht sich die Sikas benehmen. Hier fällt gerade eines um, weil es eindeutig mitten am Tag stockbesoffen ist:

Andere Rehe liegen betrunken am Wegesrand oder gleich mitten im Weg.

Hier versucht sich eines am Taschendiebstahl.

Es ist wirklich widerlich. Das sind keine Sika, das sind Sickos. Vor einer großen Tempelanlage lungert die größte Bande herum.

Sie betreiben eine kleine Ladenmeile, wo sie Hirsch-Devotionalien verkaufen.

Natürlich zu völlig überteuerten Preisen und, weil sie Steuern hinterziehen, nehmen sie nur Cash. Jeder, der versucht mit einer Kreditkarte zu zahlen, bekommt bedauernd mitgeteilt das leider, leider gerade das Gerät kaputt sei und nur Bares wirklich Wahres ist.

Die Tempelanlage ist dann auch mit einem riesigen Tor und einer eineinhalb Meter hohen Schwelle vor Hirschen geschützt. Dahinter liegen wunderbare, von den kriminellen Viechern unberührte Gärten und Seen voller Kois.

Ich mache ein Video davon und schicke es einmal um die Welt, zusammen mit dem Text “Guck, in Japan gibt es auch Wassergärten mit Fischen drin”.

Die Antwort kommt fast sofort: “Ma solo qui ci sono le persone del cuore 🤣🤣😘”.
Die lieberen Menschen gibt es nur hier. Okay, Touché. Warum ist sie überhaupt schon wach? In Italien ist es erst 5:30 Uhr.

Nach zwei Stunden habe ich genug und laufe zurück zum Bahnhof. Zumindest versuche ich es, aber dummerweise fällt Google Maps aus. Ach nee, gleich die ganze Internetverbindung ist weg. Shit – Ist was mit meinem Telefon? Unangenehme Situation – ich weiß nicht mal wo ich bin, geschweige denn wann der nächste Zug fährt…

Ich laufe grob in eine Richtung, in der ich den Bahnhof vermute. Ohne Smartphone fühle ich mich tatsächlich blind und taub. Ich brauche das tatsächlich ständig – für die Navigation mit Google Maps, für Übersetzungen, darin sind Eintrittskarten, Tagespläne – ohne Smartphone mit Internet geht nahezu nichts. Ich wusste natürlich vorher, dass ich völlig abhängig von dem Ding bin und kann nur hoffen, dass das hier nur ein temporärer Ausfall im Netz ist.

Ich schalte zur Vorsicht von der eSIM um auf die physikalische SIM, aber es ändert sich nichts, außer dass das Telefon kurz sehr warm und der Akku sehr schnell sehr leer wird. Was ist denn da los?

Ah, ein Wegweiser zum Bahnhof!
Ich finde auch den richtigen Zug zurück nach Kyoto, und dort angekommen habe ich auch wieder Internet. Vielleicht ist in Nara nur kurz das Netz zusammengebrochen, weil zu viele Touristen dort unterwegs waren. Oder die Verbrecher-Rehe haben daran rumgedreht. Würde mich nicht wundern. “Internet ist ihnen schon wichtig, oder? Ach, hätten Sie doch nur ein paar Kekse dabei, dann könnten wir dafür sorgen, das niemand die Kabel zu den Mobilfunkstationen durchknabbert”.

Im JR-Reisezentrum für Touristen hole ich mir noch zwei weitere Reservierungen für die nächsten Bahnfahrten, danach laufe ich zurück ins Hotel und lege ich mich für zwei Stunden hin. Team Mittagschlaf! In Kyoto habe ich gleich drei Tage Aufenthalt eingeplant. Um die Stadt besser kennen zu lernen, aber auch um mich hier ein wenig ausruhen zu können. Ich habe nichts geplant, außer ein wenig Rumzulaufen.

Und ganz ehrlich, so viel, wie hier überall los ist und so unglaubliche Menschenmassen wie sich hier fast überall lang wälzen, habe ich auch keine große Lust jetzt noch Sehenswürdigkeiten zu besuchen.

Um 17:00 Uhr bin ich wieder wach und auf den Beinen und laufe zum Kyoto Tower. Der ist quasi um die Ecke, und natürlich muss ich da hoch. Zumal der Turm ganz seltsam gebaut ist und aussieht, als ob er aus einer Reisschüssel emporwächst.

“Da hoch” will dummerweise auch eine unangenehm laute chinesische Reisegruppe, die unaufmerksam und aufdringlich andere Touristen anrempelt und umschubst. Die sind bestimmt bei den Rehen in die Lehre gegangen.

Als ich auf der Aussichtsplattform ankomme ist es noch Tag, aber die Sonne versinkt schnell hinter den Bergen und färbt den Himmel rot.

Auch von oben ist das Bahnhofsgebäude…. besonders.

Die Aussichtsplattform ist nicht besonders groß. Mir gehen die Leute auf die Nerven, die ihre Handys in die Fensterbank stellen, und einen Platz für 1 Stunde blockieren, nur um einen Sonnenuntergang ins Zeitraffer aufnehmen zu können. Das ist einigermaßen rücksichtslos, und natürlich machen das nur Europäer. Und Amerikaner.

Die Sonne ist weg, und die Lichter der Stadt erwachen zum Leben.

Im Fuß des Towers ist – natürlich – wieder eine Mall. Hier wird Obst angeboten. Perfekte Früchte, sorgfältig verpackt in Styrol und zu Mondpreisen. Ein Körbchen dieser perfekten… Pflaumen? Weintrauben! …kostet 3.500 Yen, das sind 22 Euro.

Nach dem Tower laufe ich noch ein wenig durch den Bahnhof, der sich auch in ein leuchtendes Kunstwerk verwandelt hat. Auf eine große Treppe werden kurze Anime-Sequenzen projeziert, der Skyway wird mit LED Lichtern unterschiedlich beleuchtet und der Dachgarten ist lauschig illuminiert und bietet einen tollen Blick auf den Kyoto Tower.

Da die Temperaturen immer noch sommerlich warm sind, sitze ich noch lange auf der Dachterrasse und genieße den Ausblick über die nächtliche Stadt und den zu drei Vierteln vollen Mond.

Tour des Tages: Von Kyoto 40 km nach Nara, dort ein wenig herumgelaufen. Zu Fuß rund 12,5 Kilometer.

Zurück zu Teil 9: OH LOOK! THAT`S AMAZING!! AND SOOOOO TASTY!!!

Weiter zu Teil 11: Erdbeerig

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

 


Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..