Reisetagebuch Japan (16): Eintausend Kraniche

Reisetagebuch Japan (16): Eintausend Kraniche

Viereinhalb Wochen Japan. Heute mit brüllenden Frauen, nuschelnden Kellnern und stummen Zeugen.

Sonntag, 20. Oktober 2024, Taragi, B&B Toyonoakari
“!!!!!” brüllt es draußen vor meinem Fenster. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch und stehe senkrecht im Bett. Eine Frauenstimme brüllt draußen vor dem Haus, sehr streng und sehr schnell und SEHR laut.

Allerdings steht die Frau nicht vor meinem Fenster. Das ginge auch gar nicht, mein Schlafzimmer im B&B liegt im ersten Stock. Nein, die Stimme der Frau schallt über die gesamte Landschaft draußen. Lautsprecher, offensichtlich. Die müssen draußen auf den Reisfeldern und zwischen den vereinzelten Häusern stehen.

“!!!!!!!” geht es weiter.
Ich verstehe kein Wort.
Ist das eine Erdbebenwarnung? Aber dann würden zuerst Sirenen ertönen, habe ich gelesen.

Ich presse die Brille auf die Nase und schaue aufs Handy. Nein, auch die Erdbebenwarn-App schweigt. Was immer die strenge Frau will, es ist offensichtlich nicht ganz akut. Ich bleibe vorsichtshalber im Bett liegen. Nur zur Sicherheit. Und weil es erst 7:00 Uhr ist. An einem Sonntag.

Eine Stunde später sitze ich mit Katsushi und Takako beim Frühstück. Also, ich sitze und die beiden stehen in ihrer Restaurantgroßen Küche und bereiten Dinge zu, die sie dann auffahren. Gemüsebällchen. Gebratener Fisch. Dazu Reis und eingelegte Gürkchen und Kiwischeiben. Alles ist wahnsinnig lecker und wieder wunderschön angerichtet.

“Was war denn das für eine Durchsage?”, will ich wissen, während ich am grünen Tee schlürfe.
“Durchsage?”, fragt Katsushi.
“Ja, klang wie Lautsprecher. Draußen. Überall”, sage ich.
“Ach, das! Die Lautsprecher sind eigentlich vom Katastrophenschutz, vor allem für Erdbebenwarnungen”, sagt Katsushi.
Ich nicke, das hatte ich mir schon gedacht.
“Um die Funktion im Ernstfall sicher zu stellen, müssen die regelmäßig getestet werden. Und irgendwann hat die Bürgermeisterin angefangen, Veranstaltungshinweise über die Anlage vorlesen zu lassen.”
“Hä?”, mache ich.
Katsushi lächelt “Ja, so kann man sicher sein, das alles funktioniert und ist gleichzeitig informiert, was los ist. Heute wurde durchgesagt, dass im Nachbardorf ein Herbstfest stattfindet”.

Er nimmt einen Flyer von einem Sideboard und legt ihn mit hin. Auf der Außenseite ist ein Bild wie von einem Erntedankfest, im Inneren sieht man Bogenschützen in traditioneller Tracht. “Wenn Du möchtest kann Du da vorbeifahren, da kann man Bogenschießen und einem Umzug zugucken und….”

Ich hebe lachend die Hände. Ich musste gerade an diese alte Fernsehserie denken, M.A.S.H. Da wurden auch immer irgendwelche unsinnigen Lautsprecherdurchsagen gemacht. “Sorry, keine Zeit”, sage ich dann, “Ich muss zurück nach Nagasaki.”
“Wann?”, fragt Takako.
“Heute”, sage ich und Katsushi rollt mit den Augen und sagt “Das ist aber weit!”

Hm. Ist es eigentlich gar nicht. Eigentlich sind das nur 200 Kilometer, aber das Navi rechnet schon runde sechs Stunden, vermutlich werden es am Ende eher acht.

Also ich mich vor dem Haus verabschiede, bitten Takako und Katsushi um ein Foto. Sie wollen sich an ihre Gäste erinnern und fotografieren darum alle, die sie beherbergen und auch das Essen, das sie servieren. Gerne tue ich ihnen den Gefallen.

Kurz darauf brummt der Yaris über die Ebene und hinein in eine Bergkette. Das ist teilweise eine ganz schöne Kurverei, aber auch schön zu fahren und hat einige tolle Aussichten. Die Straße führt durch grüne Täler, entlang an sprudelnden Bächen und gelegentlich über träge Flüsse.


Heute habe ich Zeit und verzichte darauf, Autobahn fahren. Da passt es, das es nur seeehr langsam vorangeht. Durchschnittsgeschwindigkeit ist Tempo 40, da muss man Gelassenheit in sich tragen.

Nachdem es aus den Bergen heraus geht, komme ich quasi an die Küste, und die ist natürlich wieder dicht besiedelt und bebaut.

Stundenlang geht es also durch Städte, die oft mit vielen Ampeln versehen, sind aber auch durchaus mal am Wasser entlang, was wiederum schöne Aussichten bietet.

Die Straßenschilder der Landstraßen sind blaue Schilder, die mit “Route” und dann einer dreistelligen Nummer bezeichnet sind. Sehr amerikanisch sieht das aus.

Nach sechs Stunden steuere ich auf Nagasaki zu.

Ich halte an und checke den Yaris. Tja, die Radkappen sind halt verkratzt. Doof.

Jetzt bin ich wieder sehr aufgeregt. Zum einen, weil es in die 400.000-Einwohner-Stadt geht, zum anderen, weil ich halt nur noch einen Schritt vom Ziel entfernt bin. Und das ist, wie wir alle wissen genau der Punkt, an dem man den Boden unter den Füßen verliert. Oder auf die letzten Meter noch einen Fußgänger überfährt, siehe Sapporo.

Auch dieses Mal erwischt es mich fast, denn um zur Tankstelle zu gelangen, die der Mietwagenverleih akzeptiert, muss ich zuerst auf der Hauptstraße entlang fahren, die parallel zum Hafen verläuft, und dann rechts abbiegen. Rechts abbiegen bei Linksverkehr bedeutet: Über die entgegengesetzte Fahrspur.

Das ist auch durchaus so vorgesehen, es gibt dafür ganz kurze Rechtsabbiegerspuren, aber als ich auf die eingebogen bin und halte, um den Gegenverkehr durchzulassen, stelle ich plötzlich fest, dass ich mit dem Yaris quer auf Gleisen zum Halten gekommen bin. Shit shit shit, das sind die Gleise der kleinen Straßenbahn, die in hoher Frequenz durch die Stadt flitzt! Hoffentlich hat der Gegenverkehr bald mal rot – nicht, dass ich hier noch mit einer Tram kollidiere.

Die Umlaufzeiten der Ampeln in Nagasaki sind weit jenseits von Gut und Böse, das habe ich schon als Fußgänger gemerkt. Und auch jetzt wird die Ampel für den Längsverkehr dummerweise nicht rot, sondern lässt immer mehr Autos durch. Nervös sehe ich mich nach links und rechts um und hoffe, dass keine Straßenbahn kommt. Geschlagene vier Minuten dauert es, bis weiter vorne ENDLICH eine Ampel rot wird und er Strom der Autos kurz verebbt. Ich gebe Gas und scheuche den Yaris mit quietschenden Reifen von der Kreuzung.

Einmal um´s Carré geht´s jetzt noch, dann biege ich in einer Tankstelle ein. Natürlich durch die Ausfahrt, und natürlich stehe ich erstmal verkehrt herum und werde vom Tankwart freundlich, aber bestimmt gebeten zu drehen und rückwärts an die Zapfsäule zu fahren, was mir zum Glück auch gelingt.

Erhöhter Schwierigkeitsgrad hier. Ich bin einer der zehn besten Autofahrer in Deutschland*. FAHREN kann ich perfekt. Lediglich das Einparken und Rangieren ist nicht so meins.

Nachdem der Wagen betankt ist, geht es das kurze Stück weiter zur Vermietstation.

Wieder bin ich sehr hibbelig. Ob die verkratzte Felge wohl einen Grund zu Beschwerde sein wird? Das hat mich schon den halben Vormittag latent beschäftig, und geht mir auch jetzt durch den Kopf, als ich auf Anhieb die richtige Zufahrt finde und den Yaris an der Vermietstation abstelle.

Ich habe mir eine Strategie zurechtgelegt: Das Personal zulabern, damit sie nicht so genau hingucken. Aber das funktioniert nicht, denn Frau Tanaka, die mich in Empfang nimmt, spricht kein Englisch.

“Recito”, sagt sie und hält die Hand auf. Ich überreiche ihr die Quittung der Tankstelle.
Dann deutet sie unter das Armaturenbrett und fragt “ETC?”. Ich nicke, während ich gleichzeitig meinen Rucksack von der Sitzbank hole. Die Frau bittet mich schon mal ins Gebäude. Aus dem Inneren beobachte ich sie misstrauisch durch eine Glastür. Aber sie checkt den Wagen nur einmal rundherum auf Beulen in der Karosserie und guckt überhaupt nicht auf die Reifen, wenn ich das richtig sehe.

Dann kommt Tanaka-San in das Vermietbüro, wurschtelt mit Papierkram herum und liest die ETC-Karte aus. Ich weiß, dass ich 7950 ¥ verfahren habe – das hat ein Schild an der Autobahnabfahrt angezeigt. In Rechnung gestellt werden wir 8050. Keine Ahnung, wo die anderen 100 ¥ herkommen. Ach, das wird vorgestern die kurze Strecke aus Nagasaki raus gewesen sein!

Dummerweise funktioniert die Bezahlung mit Kreditkarte nicht, weder meine normale VISA- noch meine Ersatzkarte von Mastercard werden akzeptiert. Aber zum Glück habe ich genügend Bargeld dabei. Und das war’s dann auch schon, ich bekomme einen Papierschnibbel ausgehändigt, der quasi den gesamten Mietvertrag beinhaltet, dann darf geben.

Als ich aus dem Vermietbüro hinaustrete und Richtung Hafen trabe, macht sich Erleichterung in meiner Brust breit. Ich atme tief durch, und kurz ist es, als ob eine Last abfällt. Ich habe meine beiden Mietwagenepisoden in Japan überstanden – ohne Unfall, ohne Panne, ohne Schäden (die Felge, beschließe ich jetzt, zählt einfach nicht) und ohne Ärger. Ab jetzt fahre ich nur noch Bahn und gehe zu Fuß, die brenzligen Sachen sind durch! Aber irgendwie… sind damit auch die spannenden Dinge vorbei. Hm. Schade.

Ich laufe die Hauptstraße hinunter und vorbei an dem APA-Hotel, wo ich vor drei Nächten übernachtet habe. Ich bleibe noch eine Nacht in Nagasaki, aber einen Häuserblock weiter. Das Hotel “Bay View” ist groß, aber auch ein typisches Businesshotel. Ich werfe schnell das Gepäck ab, dann gehe ich noch einmal Innenstadt.

Ich drücke mich lange vor einem Restaurant herum, das mir neulich schon aufgefallen ist und in dem ich gerne essen würde. Es sieht nett aus und ist nicht zu überlaufen. Das ist mir nicht ganz unwichtig – ich habe noch fast zwei Wochen in Japan vor mir, und wenn ich mir jetzt was fange, sei es eine Erkältung oder sogar COVID, dann wäre das schon echt doof. Deshalb möchte ich Abstand halten und meide enge oder voll belegte Locations.

Nachdem ich einige Zeit vor der Tür gestanden und durch die Fenster geschaut habe merke ich, dass ich nicht verstehe wie man wohl in dem Laden bestellt. Ich traue mich trotzdem hinein. Der Kellner empfängt mich und bietet mir einen Platz an.
Er spricht zum Glück englisch, aber so nuschelig, dass ich ihn nicht wirklich verstehe. Er bringt eine Karte, auf der auf Englisch der Bestellvorgang erläutert ist – die Erklärung ist aber so schlecht übersetzt und so kryptisch, dass ich auch die nicht verstehe. Was macht man denn jetzt bloß? Von draußen habe ich gesehen, wie Gäste hier reinkamen, sich hinsetzten, auf ihr Smartphone guckten und dann bekamen sie einfach etwas gebracht.

Der Kellner kommt wieder vorbei und erklärt jetzt etwas ausführlicher, irgendwas mit Bestellung auswählen auf Zettel schreiben, ich hätte die Auswahl zwischen “all you can eat” und “à la carte”, dieses lässt sich mit jenem kombinieren und hier noch das Supersparmenu und so weiter und so fort. Dabei fährt er mit dem Finger über die Karte, die mit Pfeilen und Bildern zig Kombinationsmöglichkeiten abbilden will, aber ohne Studium nicht zu verstehen ist und einfach aussieht als hätte sich jemand vorgenommen, die wirrste Grafik der Welt zu malen. Leicht überfordert deute ich auf Bild, das nicht nach Fischinnereien aussieht und sage “Ich will das”.

Der Kellner nickt und sagt “Dauert aber zwanzig Minuten” “du kannst übrigens auch mit deinem Mobiltelefon bestellen. Ich bringe dir gleich einen QR-Code, dann kannst du mich über das Telefon jederzeit rufen oder etwas nachbestellen”.

Nach wenigen Minuten kommt er schon wieder und stellt einen metallenen Minitopf auf den Tisch. Der Topf hat einen Holzdeckel und ruht in einem Gestell, in dem ein Teelicht brennt. “Noch 15 Minuten warten”, sagt er und tippt dann an die Wand vor meinem Tisch “Und hier hängt übrigens der QR-Code, hatte ich ganz vergessen.”

Der QR-Code führt auf eine responsive Seite, auf der Bilder und gute(!) Beschreibungen der Gerichte auf Englisch sind. In die URL ist die Tischnummer eincodiert – man kann einfach Dinge aussuchen, durch drauftippen auswählen, und dann geht die Bestellung direkt an den Kellner. Über die Website kann man sogar den Kellner zum Tisch rufen. DAS erklärt das Verhalten der anderen Gäste – die sind reingekommen, haben sich hingehockt und dann haben über ihr Smartphone bestellt! Hätte der Mann mir auch gleich sagen können!

Was habe ich denn jetzt eigentlich bestellt? Auf dem Bild war eine Schale mit Reis zu sehen und darauf Erbsen und drei Stückchen von etwas, von dem ich hoffte es sei Tofu. Aber es ist… Aal? Oh shit. Und das, wo ich doch Fisch nicht so unbedingt mag.

Zwanzig Minuten später hebe ich zutiefst misstrauisch den Deckel des Töpfchens und spähe hinein. Was darin liegt ist ästhetisch wieder mal sehr schön. Es riecht auch gut! Aber… es bleibt Aal!

Vorsichtig picke ich ein Stück mit den Essstäbchen heraus. Der Fisch ist so weich, dass ich ohne Probleme ein Stückchen abbrechen kann. Misstrauisch stecke ich mir das Ding in den Mund und kaue vorsichtig darauf herum. Das….

…schmeckt richtig gut! Der Fisch ist so mürbe, dass ich ihn mit der Zunge zerdrücken kann. Er schmeckt nicht schlimm nach Fisch, sondern richtig lecker! Begeistert haue ich rein und merke erst jetzt, wie hungrig ich eigentlich bin.

Nach dem Essen gehe ich noch ein wenig im Hafenviertel spazieren. Das hat etwas Mediterranes – Schiffe schaukeln sanft an den Kais, im Hintergrund leuchtet die Stadt gegen den schwarzen Nachthimmel. Das ist meine letzte Nacht in Nagaskai, und ich muss sagen: Mir gefällt die Stadt.

Tour des Tages: Vom Nirgendwo nach Nagasaki, 280 km, rund 10 km zu Fuß.

Montag, 21. Oktober 2024
Im Erdgeschoss des Bay View-Hotels gibt es eine Frühstückstheke. Die ist wieder irrwitzig durcheinander, zumindest nach europäischem Geschmackssinn: Suppe steht neben gebratenem Speck, Hamburger neben Croissants – es sieht aus, als hätte man einfach das Abendessen von gestern nochmal aufgetischt Aber immerhin: Frühstück!

Schon um 6:30 Uhr ist der Raum schon ganz schön voll, aber ich finde noch einen Einzelplatz. Gegen 8:00 Uhr verlasse ich das Haus und schlendere zum Bahnhof.

Ich bin erst mal leichter erstaunt, dass ich dort nicht hinein komme: Ein Schild an der Tür verkündet, dass der erst um zehn Uhr aufmacht. Hä?

Dann merke ich, dass ich vor dem Einkaufszentrum stehe, das vor den Bahnhof gebaut ist. Neulich bin ich dadurch rausgekommen, aber es gibt auch einen Hintereingang, der direkt in den Bahnhof führt.

Auf den Reservierungstickets sind Wagen und Sitzplatz angegeben. Da die Züge immer gleich und auf den Meter genau halten, stehen Wagennummern auch an den automatischen Türen am Bahnsteig, oft stehen daneben die Platznummern, die man damit am besten erreicht. Man kann sich also vor der Abfahrt so hinstellen, dass man nach dem Einstieg mit wenigen Schritten am Platz ist.

Heute ist wieder das gleiche Spiel wie bei der Hinfahrt auch: Fünf mal Umsteigen, teils Umsteigezeiten von nur drei Minuten. Zum Glück weiß ich mittlerweile, dass die Züge aufeinander warten beziehungsweise nebeneinander halten, dementsprechend gelassen bin ich auch.

Als der Zug die Insel Kyushu verlässt und auf die Hauptinsel Honshu quert, bin ich noch einmal entspannt und erleichtert. Ich habe das Südkap erreicht, die Mietwagenetappen überstanden und nun ist der richtig spannende Teil der Tour vorbei. Jetzt kann nichts mehr passieren. Alles, was jetzt noch kommt ist easy as pie. Obwohl, das ist ja immer genau der Punkt wo man dann doch irgendwas Komisches passiert.

Und tatsächlich passiert quasi sofort etwas Seltsames, als ich den Zug verlassen will: Mein Handy ist weg! Zum Glück merke ich das in dem Moment, als ich auf den Bahnsteig springe – und klettere sofort zurück in den Zug, dränge mich an anderen Reisenden vorbei, rase zu meinem Platz und fische das Smartphone aus der Ablage vor meinem Sitz, wo ich es vergessen habe. Uff!

Sowas ist mir noch nie passiert! Das wäre jetzt ein Lacher geworden – ohne Smartphone in Japan, ich wäre völlig aufgeschmissen. “Wie mache ich den entspannten Teil der Reise abenteuerlich” für Anfänger: Das einzige Ding wegwerfen, das alle Zugänge, Eintrittskarten, Bezahlmöglichkeiten, die Navigation und den Schlüssel zur Sprache enthält.

Selbst die ICOCA-Karte, die man hier gerne statt der Suica verwendet und die statt eines Pinguins ein Schnabeltier als Maskottchen hat, ist im Handy.

Im Bahnhof von Hiroshima sind alle Münzschließfächer belegt. Zum Glück räumen zwei Geschäftsleute gerade eines. Ich stelle mich an und warte, aber die beiden lassen sich viiiiiiel Zeit und ziehen sich direkt davor um, binden sich noch schön die Krawatten und bürsten ihre Jacketts ab. Noch während die Gockel ihre Manschettenknöpfe richten, kommen zwei Mädchen an, öffnen einen Schrank, entnehmen ihre Tasche und sind verschwunden. Wunderbar, dann nehme ich doch das!

Nur mit dem Day Pack läuft es sich doch viel angenehmer in die Stadt, zumal wieder 24 Grad sind und es beginnt zu regnen – es bleibt also tropisch.

Der A-Dome ist das ehemalige Gebäude der Handelsgesellschaf und eines der ganz wenigen Gebäude, das nicht vollständig durch die Atombombe vernichtet wurde. Es ist ein Denkmal, und natürlich nagt auch hier der Zahn der Zeit. Als ich davor stehe, sehe ich Arbeiter im Inneren herumklettern, die dafür sorgen, dass die Gebäudehülle nicht komplett in sich zusammenfällt.

“Hätte nie gedacht, dass ich hier ein zweites Mal stehe”, denke ich, als ich das Mahnmal betrachte. Dann wandere ich über die Brücke hinüber zu der Insel in der Mitte des Flusses. Im Friedenspark singt gerade eine Schulklasse.

In Glasvitrinen sind Ketten mit gefalteten Kranichen zu sehen. 1.000 Kraniche muss man falten, damit einem die Götter (vielleicht) einen Wunsch erfüllen. Hier ist es der Wunsch nach Frieden.

In der Achse des Parks brennt die ewige Flamme. Die wird erst gelöscht, wenn es keine Atomwaffen mehr auf der Welt gibt. Davon sind wir heute weiter entfernt als jemals vorher in den vergangenen 30 Jahren.

Am Park steht das große Atombombenmuseum.

Heute sind auch hier sehr viele Schulklassen unterwegs. Das Hauptgebäude des Museums ist sehr, sehr voll.

Es geht noch nicht mehr im Gänsemarsch voran, sondern eigentlich überhaupt nicht. Ich bin froh, dass das hier mein zweiter Besuch ist und ich beim ersten Mal mehr Raum und Zeit hatte, mir alles anzusehen.

Ich habe einen Audioführer ausgeliehen, aber der lohnt sich nicht. Meistens gibt er nur wieder, was auf den Schrifttafeln der Exponate ohnehin steht. Die Exponate, das sind manchmal Kunstwerke oder Briefe von Menschen, die die Explosion überlebt haben. Häufiger aber sind es Gegenstände und Gebäudeteile, die durch die Explosion verbrannt, verformt oder anders verändert wurden. Stumme Zeugen der ungeheuerlichen Tat vor 75 Jahren.

Außerdem stelle ich fest, dass das Museum schlechter geworden ist: Beim letzten Mal gab es noch Exponate, die man auch anfassen konnte, wie geschmolzene Glasflaschen. Das ist jetzt nicht mehr so. Und das, was mich beim letzten Mal am meisten beeindruckt hat, nämlich die Auswirkungen auf den menschlichen Körper, wie Wucherungen von schwarzen Fingernägel, gibt es jetzt nicht mehr. Sehr seltsam.

Nichtsdestotrotz ist das Museum natürlich ein sehr eindrücklicher Ort. Ich bin nur froh, dass ich es beim ersten Mal in meinem eigenen Tempo erleben konnte.

Als ich das Museum verlasse, regnet es richtig. Ich gönne mir den Bus zurück zum Bahnhof, wo ich als erstes wieder Reservierung hole. Witzigerweise kann ich direkt zum Tresen für ausländische Besucher durchlaufen, da steht nämlich niemand an. Dafür ernte ich direkt Gegrummel und Gemaule von der langen Schlange an Ausländern, vor allem Amerikaner, die alle am Schalter für japanische Kunden anstanden. Tja, kann ich nichts dafür, wenn ihr die dezenten Hinweisschilder mit den unauffälligen Pfeilen überseht.

Mit zwei weiteren Reservierungen in der Tasche befreie den Rucksack aus dem Schließfach, laufe über einen unterirdischen Platz und dann durch die Straßen zum Hotel.

Auch das Chisun Hotel ist wieder eines dieser günstigen Businesshotels. Hier wird auch Halloween zelebriert.

Ich hoffe, dass es – genau wie die anderen – eine Wäscherei hat. Und tatsächlich bewahrheitet sich die Hoffnung: Im dritten Stock des Hotels gibt es einen Raum mit zwei Münzwaschmaschinen.

Seit 19 Tagen bin ich jetzt unterwegs, jeden Tag in tropischer Wärme, hoher Luftfeuchtigkeit, Abgasen und Staub. Meine Kleidung ist mehrfach komplett durchgeschwitzt und durchgeregnet worden. Ich habe die Oberhemden zwar ein paar Mal per Hand durchgewaschen, aber interessanterweise zeichnen sich nach dem Trocknen feine Spuren ab. Wie Spinnweben sieht dass aus, die überall kleben. Es sind aber tatsächlich Reste von Salz, und das bekomme ich im Waschbecken nicht mehr weg. Deshalb kommt jetzt alles in die Maschine. Ich überlege kurz, dann schmeiße ich auch die Cargohose hinterher. Ich habe noch eine zweite Hose dabei, so eine leichte Wanderhose aus Kunststoff. Die muss ich jetzt wohl mal tragen. Igitte.

500 ¥en in 100 ¥en-Münzen möchte die Maschine haben. Zum Glück trage ich mittlerweile eine ganze Handvoll von diesen Münzen mit mir rum. Nachdem ich das Programm ausgewählt habe, von dem es zum Glück nur drei Stück gibt (normal oder normal mit weniger waschen und trocken oder mit mehr waschen und trocknen) kann ich einen selbstausgedachten Zugangscode programmieren, dadurch kann auch nach Ablauf der Zeit niemand an meine Wäsche. Sehr praktisch!

Ich vertreibe mir 2 Stunden die Zeit auf dem Hotelzimmer, dann kann ich saubere und warme Oberbekleidung entgegennehmen. Sehr schön! Die Cargo-Jeans ist noch ein wenig feucht. Nach kurzem Überlegen hole ich die zweite Hose die ich dabei habe aus dem Rucksack und mustere sie leicht skeptisch. Das ist so eine ultraleichte Trekkinghose aus Polyester. Will ich sowas tragen? Ach, warum nicht. Ist ja nur für heute Abend.

Ich mache mich zu Fuß auf dem Weg in die Innenstadt und zum Okonomimura, dem mehrstöckigen Haus, in dem auf jeder Etage ein Dutzend Okonomiyaki-Läden sind.

Okonomiyaki ist ein einfach ein gebratener Haufen Salat, Kohl, Nudeln, Ei, Kimchi und was einem auch immer einfällt. Es gibt zwei Okonomiyaki-Schulen: Die Osaka-Variante ist weltweit bekannt und sehr ordentlich und… langweilig. Die Hiroshima-Version ist dagegen pure Anarchie und in meinen Augen das beste Essen den Welt. Ernsthaft, ich bin nur deshalb zwei Tage hier, damit ich zwei Mal Okonimiyaki essen kann.

Am gleichen Stand wie beim letzten Mal finde ich einen Platz. Der Besitzer hat gewechselt, aber auch der neue ist schnell und häuft direkt vor mir Zutaten über Zutaten auf die heiße Arbeitsplatte des Tresens. Kurz darauf steht ein Okonomiyaki mit Kimchi vor mir.

Es schmeckt fantastisch. Nur wegen diesen Fladen hatte ich mi gewünscht noch einmal nach Japan zu kommen, und nun ist dieser Wunsch in Erfüllung gegangen – und ich musste nicht mal Kraniche dafür falten.

Neben mir sitzt Franzosen, rechts Engländer. Das ganze Haus ist wirklich von Ausländern überlaufen, und schon um kurz vor sechs gibt es kaum noch einen freien Platz.

Danach laufe ich noch ein wenig durch die Innenstadt. Beziehungsweise das Vergnügungsviertel, hier sind Casinos an Bars an Karaoke Bars. Dazwischen ein paar Restaurants, und wenn ich es richtig deute, etliche Hostessen , die auf dem Weg zur Arbeit sind. Buntes Hiroshima.

Hier übrigens der Beweis, warum Hiroshima doppelt so gut ist wie Osaka: Hiroshima hat zwei Glico-Läufer, nicht nur einen!

Ach, und schöne Autos fahren die hier.

Tour des Tages: Von Nagasaki nach Hiroshima, 403 Kilometer und dazu 12 Kilometer zu Fuß.


* das denkt jeder deutsche Autofahrer von sich

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