
Reisetagebuch (17): Das Entspannungsschwein
Reisetagebuch Japan. Heute mit Schirmchen, versuchtem Versicherungsbetrug und dem Entspannungsschwein.
Dienstag, 22. Oktober 2024, Hiroshima
Schon um 5:45 Uhr klingelt der Wecker, und eine knappe halbe Stunde später bin ich im Frühstücksraum. Tatsächlich als erster. Das Frühstücksbuffet hat seinen Namen wirklich verdient, große Wannen biegen sich unter fettig gebratenen Würsten, Ei und sonst was. Sieht so aus, als würde hier Frühstück, Mittag- und Abendessen gleichzeitig angeboten.
Ich wähle nur ein wenig Obstsalat und ein Croissant mit Konfitüre, dazu einen Kaffee. Kaum habe ich an einem der vielen Einzeltische Platz genommen, wird es voller: Männer und Frauen in halbem Businessoutfits – Anzughosen und -röcke, dazu Hemden und Blusen, aber keine Jacketts – schlurfen in den Raum. Die Männer sehen verknittert und verschlafen aus, die Frauen zwar müde, aber schon perfekt geschminkt und frisiert.
Ich brauche nur knapp 10 Minuten, dann bin ich schon auf dem Weg. Der führt als erstes in den Conbini nebenan, wo ich einen Schirm erstehe. den dieser Reise. Es regnet, und zwar ganz ordentlich, und das Wetter soll auch den ganzen Tag so bleiben.
Durch noch fast leere Straßen laufe ich in Richtung Bahnhof.
Hä? Wieso ist der Fluss ist weg? Ach klar, Hiroshima liegt am Meer, da gibt es halt Gezeiten!
Ich gehe schnell, weil ich es ein wenig eilig habe, aber in diesem Morgen ist echt der Wurm drin. Zum einen versuche ich eine Route über eine kleine Fußgängerbrücke zu gehen, die aber prompt gesperrt ist, was mich 10 Minuten Umweg kostet. Dann verlaufe ich mich auf dem unterirdischen Platz unter dem Bahnhof und komme an einem Gate heraus, in das ich den Rail Pass nicht einführen kann. Super gelaufen!
Zum Glück bin ich früh genug losgegangen, und finde noch den richtigen Weg zu den lokalen JR Linien. Eine führt nach Südwesten, und nach neun Stationen komme ich am Bahnhof Miyajimaguchi an.
Der Bahnhof ist winzig, interessanter und größer ist die Anlegestelle direkt vor dem Bahnhofsgebäude.
Das hier sind die Fähren zur Insel Miyajima, und da die Schiffe von Japan Rail betrieben werden, kann ich die mit meinem Japan Railpass nutzen. Allerdings gibt es jetzt eine Tourismusgebühr. Ich muss an einem Automaten einhundert Yen bezahlen. Dafür der einen kleinen Quittungszettel, den ich drei Meter weiter trage und einem älteren Herrn in dunkler Uniform überreiche, der sich nickend bedankt, den Zettel sorgfältig prüft und dann sofort wegwirft.
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Jetzt darf ich durch eine Absperrung und auf die Fähre. Maximal vielleicht ein Dutzend anderer Passagiere sind schon an Bord, das Schiff ist praktisch leer.
Die Fähre gleitet so leise und so sanft vom Kai hinaus in die Bucht, dass ich erst gar nicht bemerke, dass wir schon unterwegs sind. Ich stehe auf dem offenen Oberdeck an der Reling und sehe das Wasser vorbeiziehen. Die Insel Miyajima liegt keine 15 Minuten entfernt.
Dieses Mal kann ich schon von weitem das legendäre Torii am Strand sehen – beim letzten Mal war das weltberühmte Denkmal, das die Einbände so vieler Reiseführer ziert, eingerüstet. Und nicht nur das, bei meinem Besuch 2019 war ich auch gerade erst über ein Fieber hinweg und bin trotzdem röchelnd und schwitzend durch den Urwald bis auf eine Bergspitze geklettert. Viel mitbekommen habe ich damals nicht, das will ich jetzt nachholen.
Direkt neben dem Fähranleger beginnt eine asphaltierte Promenade auf einer Schutzmauer. Etwas unterhalb liegt ein Strand. In einer sanften Dünung schwimmen und staksen Wasservögel herum. Sind das Reiher?
Ich laufe die Promenade entlang. Außer mir sind noch sehr, sehr wenig Menschen unterwegs, und auch die Verbrecherrehe sind noch nicht wach.
Auf den Einbänden der Bücher ist das Torii immer bei Flut zu sehen. Mitten im Wasser sieht das halt besser aus als wenn es bei Ebbe im Schlick steht und Leute darum herumstapfen, wie jetzt gerade.
Gegenüber dem Torii, an Land, befindet sich eine große Tempelanlage.
In orange gekleidete Mönche sitzen in einem Kassenhäuschen und verkaufen neben Eintrittskarten für 300 Yen auch Glücksbringer (natürlich) und DVDs mit buddhistischen Lehren. Beim letzten Mal war ich nicht im Tempel, weil der völlig überlaufen war (und Modnerd auf einen Berg wollte), heute betrete ich die Anlage. Fast allein hier zu sein ist ein erhebendes Gefühl. Deshalb liebe ich es, sehr früh oder sehr spät an bekannten Orten zu sein: Weil ich sie dann fast für mich alleine habe und so erleben kann, wie das die wenigsten Besucher können.
Von einer vorgelagerten Plattform hat man den direkten Blick auf das Torii.
Ich wandere ein wenig durch den Ort. Der ist nach hinten raus gar nicht mal groß und wirkt eher wie eine Kulisse, durch die Besucher flanieren sollen – vermutlich ist das nahe dran an der Wahrheit.
Ich wundere mich über die europäischen Fahrradarschlöcher, die wirklich die Dreistigkeit hatten in einer der Parkanlagen zu zelten, und die nun auf einer der alten Steinbänke ihren Frühstückskocher anwerfen. Unverschämtes Pack, Das ist alles, was mir dazu einfällt.
Ah, und die Verbrecherrehe werden auch langsam wach. Genau wie Nara ist auch Miyajima in der Hand der Sika-Hirsche, die hier Schutzgelderpressung und andere zwielichtige Dinge betreiben.
Regen setzt ein. Eine Gelegenheit meinen neuen Schirm ausprobieren zu können. Der ist transparent und aus Vinyl. Dadurch kann man die Umgebung gut beobachten, so bekomme ich auch mit, wie ein kleiner Laster eines der Rehe anfährt, weil es sich gegen sein Vorderrad wirft. Vermutlich versuchter Versicherungsbetrug. Zum Glück hat der Wagen eine Dashcam, und das Reh flüchtet, als es die sieht.
Ein anderes Reh versucht an einer Böschung Steine auf mich zu treten. Es ist aber offensichtlich noch völlig verkatert und fällt bei dem Versuch fast die Felsen hinunter.
In kleinen Läden verkaufen die Rehe Produktfälschungen. Rehe sind als Produktfälscher aber eher nicht so begabt.
Ich bekomme sogar mit, wie eine Gruppe Rehe einen Kioskbesitzer um Schutzgeld erleichtert UND gleichzeitig noch einen der Gäste bestiehlt.
Mehr Menschen sind jetzt unterwegs und die Geschäfte öffnen. Ich glaube, ich habe hier alles gesehen, was ich 2019 verpasst habe und trete den Rückweg an. Die Flut steigt, und das Torii steht jetzt im Wasser, zumindest so halb.
Um 9:25 Uhr nehme ich das Schiff zurück aufs Festland, und hier hat sich jetzt die Situation radikal geändert: Wo ich vorhin einfach durchgelaufen bin, schlicht weil hier niemand war, stehen jetzt bereits Hunderte, ach was Tausende von Menschen und warten auf die Überfahrt nach Miyajima. Ich bin froh, dass ich jetzt schon hier weg kann, die vielen Menschen verursachen mir schon beim Angucken Platzangst.
Mit der Bahn geht es zurück nach Hiroshima. Hier steige ich in der Nähe der Burg aus und gucke mir den verregneten Garten und das Südtor an, beziehungsweise den Turm davon, ohne ihn aber im Inneren zu besuchen.
Statt des Burgstudiums laufe ich im Regen durch Wohnviertel wieder zurück Richtung Innenstadt.
Hey, hier gibt es sogar noch “Mister Minit” – die haben bei uns doch schon vor Jahren dicht gemacht, oder?
Ich vertreibe mir die Zeit in einem der großen Kaufhäuser. Im “Lavi” gibt es alle Arten von Elektronik, von Mobiltelefonen über Uhren bis hin zu Haushaltsgeräten und Spielzeug.
Schön sind diese Wasserkocher:
Retro ist immer in:
Und was ist das? Muss irgendeine Art von Entspannungsding sein, wo man die Füße reinsteckt. “Nach einem langen Tag gibt es nicht besseres als die müden Füße in das Entspannungsschwein zu stecken!” Ich muss kichern. Erinnert sich noch wer an “Steck Dein Kopf in ein Schwein”? Die Leuchtbuchstaben auf der Beschwerdeabteilung der Sirius Corporation?
Interessant sind die Beratungsareale. Egal ob man einen Mobilfunkvertrag abschließen oder ein großes Haushaltsgerät kaufen möchte: Überall gibt es bestuhlte Areale, in die man sich mit einem Verkäufer setzen kann und der dann in Ruhe mit einem durch Unterlagen oder auch durchs Internet guckt, mit einem vergleicht und dann den Vertrag fertig macht. Warum gibt es sowas bei uns nicht?
Die Videospielabteilung ist auch nice. Hier gibt es Dinge wie Arcade-Controller für die PS5, die ich so noch nie gesehen habe.
Ah, Yakuza! Kommt erst im Februar 2025 raus, die Werbung läuft aber hier schon in der Heavy Rotation.
Selbst die PS Vita hat hier noch eine eigene Abteilung!
Ein großes Ding, seit vielen Jahrzehnten schon, sind Rennen mit elektrischen Modellautos. Die sind nicht ferngesteuert oder gelenkt, nur angetrieben. Um zu gewinnen ist die Wahl der richtigen Reifen, Führungsschienen und des Motors wichtig. All diese Teile gibt es einzeln, in unterschiedlichsten Ausführungen. Eine Optimierungswissenschaft für sich. Das Lavi lädt dazu ein, direkt in der Spielwarenabteilung Rennen auszutragen:
Was ich witzig finde: Ich HATTE sogar so ein Lenkauto. Die gab es nämlich in den 80ern bei uns zu kaufen. Ich wusste damals nicht, dass man damit Rennen fahren soll, ich fand es einfach cool ein futuristisches Auto mit Elektromotor zu haben.
Dann werden meine Augen ganz groß und ich fange an zu Grinsen, weil ich vom Glauben abfalle, als ich sehe, das EXAKT dieses Modell noch heute, 40 Jahre später, hier verkauft wird: Der “Dash 2 Burning Sun”, war genau mein Wagen.
Dort werde ich dann plötzlich sehr müde, und da das Hotel um die Ecke liegt, beschließe ich einen Mittagsschlaf zu machen. Ich beglückwünsche mich selbst dazu, was für gute Ideen ich doch immer wieder habe.
Gegen 16:00 Uhr bin ich aber wieder auf der Straße und schaue im Okonomimura nach, ob es schon geöffnet hat. Leider ist der Großteil der Geschäfte noch geschlossen.
Nur einige der Restaurants in der dritten Etage haben offen, der Großteil hat aber geschlossen.
Also wandere ich noch ein wenig durch die Straßen. Ohne ziel, einfach nur Leute und Häuser anguckend.
Mal laufe ich hier hin, mal dort hin und durch eine Einkaufspassage. Als die Dämmerung einsetzt, kehre ich zurück zum Okonomimura.
Auch um 17:00 Uhr hat noch nichts geöffnet. Aber als ich um 17:45 Uhr das nächste mal dort bin, ist der Laden in den ich gerne wollte nicht nur offen, sondern schon bis auf den letzten Platz besetzt. Also gehe noch einmal ich in den selben wie gestern und bestelle einen Okonomiyaki mit Reiskuchen.
Die Herstellung ist wie immer ein Vergnügen anzuschauen. In diesem hier wandern ein Berg Weißkohl, ein Berg, Sojasprossen, drei Eier, ein Reiskuchen, vier Scheiben Schinken und jede Menge Gewürze und Sauce. Am Ende wird eine Faust Käse darüber gehäuft und mit einem Brenner verflüssigt. Interessant.
Satt und zufrieden laufe ich noch ein wenig durch die nächtlichen Straßen von Hiroshima.
Zurück im Hotel fällt mein Blick auf ein Blick auf einen Hinweis im Fahrstuhl. “Im Frühstückraum ist Nachtbekleidung nicht gestattet”. Jedes Schild hat eine Geschichte, und diese hier, würde ich wetten, hatte keine japanischen Protagonisten.
Tour des Tages: Von Hiroshima nach Miyajima und zurück. Bescheidene 76 Kilometer, davon 17 Kilometer zu Fuß.
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