
Reisetagebuch (18): Toyoda
Mittwoch, 23. Oktober 2024, Hiroshima
Okay, auch am zweiten Tag ist das Frühstück in diesem Hotel seltsam. Frühstück/Mittagessen/Abendessen finden sich nebeneinander am Tresen. Aber warum nicht mal Fischsuppe plus Kürbisgratin zum Frühstück, danach zwei Croissants und ein wenig Obstsalat anschließend ein wenig Kürbispudding. Immer rein mit dem Kalorien, der Tag wird lang.
Bevor es zum Bahnhof geht muss ich allerdings wieder meinen Schirm loswerden. Diese Stockschirme sind einfach zu unpraktisch zum Reisen. Das ist jetzt der zweite, den ich in Japan gekauft habe. Den möchte ich nicht auch wieder wegwerfen, sondern zumindest einem guten Zweck zu kommen lassen. Vielleicht kann das Hotel ihn nehmen, um ihn mal an Bedürftige zu verleihen?
Ich spreche die Dame an der Rezeption an und rechne damit, dass sie sehr merkwürdig gucken wird, wenn ich ihr meinen Schirm schenken will. Aber sie versteht sofort was ich von ihr möchte, strahlt mich an und bedankt sich überschwänglich – okay, also ist es anscheinend normal, dass man Schirme im Hotel lässt. Hm. Das erklärt auch, weshalb im blauen Haus in Akihabara viel mehr Schirme hingen als überhaupt Gäste in das kleine Hotel passen. Das merke ich mir, vielleicht kann ich beim nächsten Mal, wenn ich einen Schirm benötige, einfach einen leihen.
Los geht’s zum Bahnhof.
Die Fahrt heute wird entspannt, ich muss nur einmal umsteigen. Der erste Zug fährt um 9:30 Uhr und braucht ungefähr zwei Stunden bis Osaka. Dort habe ich 20 Minuten zum Umsteigen und bin eine Stunde später in Nagoya.
Die Autostadt war beim letzten Mal eine riesige Enttäuschung: Ich war in einem Montag hier, und Montags ist in Japan Ruhetag und alle Museen und viele Restaurants haben geschlossen.
Heute ist Mittwoch, und endlich werde ich mir angucken können, was 2019 nicht geklappt hat. Farbdisplays zeigen, wo es im Bahnhof freie Schließfächer gibt, und in einem davon schließe den Cabin Max ein. Nach kurzem Überlegen nutze ich dafür die digitale ICOCA-Karte in meinem Handy. Bislang habe ich die noch nie verwendet, aber tut ja nicht Not, dass der Geldbetrag darauf nicht genutzt wird.
Als ich vor den Bahnhof trete, versucht mich Nagoya gleich wieder mit seiner schieren Größe zu erschlagen.
Zu Fuß und im Regen marschiere ich die Hauptstraße in Richtung Norden. Nicht gänzlich unbeschirmt – ich habe in Hiroshima in einem Conbini doch noch einen Taschenschirm gefunden, der viel praktischer ist als die großen, transparenten Stockschirme.
Lustige Geschäfte haben die hier – ein Dildosaurus? Sexshops in Japan sind echt bizarr.
Nach wenigen Kilometern komme ich an einen riesigen Backsteinbau, der von einem schweren, metallenen Zaun eingefasst ist. Das ist es, das “Toyota Commemorative Museum of Industry and Technology”, oder anders: Toyotas Firmenmuseum.
Auch wenn Nagoya keine Touristenstadt und daher im Ausland wenig bekannt ist, es ist nicht nur die viertgrößte Stadt Japans (nach Tokyo, Yokohama und Osaka), sie hat auch einen berühmten Nachbarort, der im Osten angrenzt: Toyota-Shi. Die heißt nicht von ungefähr so, ist sie doch der Sitz von Toyota, dem größten Autohersteller der Welt. Toyota-Shi ist quasi das Wolfsburg (Buuuh!) von Japan.
Vor der Pandemie konnte man ein Toyota-Werk dort tatsächlich auch besichtigen, das geht nun nicht mehr. Schade, aber ich bin auch gespannt, was das Museum hier in der Innenstadt zu bieten hat. Also, außer Propaganda.
Die empfängt einen gleich am Eingang in Form einer futuristischen Roboterband. Aber leider, leider: Die ist nur Show.
In der Mitte der riesigen Empfangshalle, von der mehrere Wege in unterschiedliche Gebäudeteile abgehen, steht eine riesige Maschine. Die kann ich zunächst nicht einordnen. Was ist das? Stellt sich raus: Ein runder Webstuhl? Hä? Warum ein Webstuhl?
Aufklärung gibt der erste Gang, der aus der Haupthalle hinausführt und in einer großen, eckigen Backsteinhalle endet. Die sieht aus wie eine der klassischen Manufakturhallen der 1890er, und vermutlich liege ich damit gar nicht mal falsch.
Tatsächlich stehen hier überall Webstühle herum, und eine freundliche Mitarbeiterin zeigt Kindern und Erwachsenen, wie man Baumwolle aufplustert, kämmt, zu einem Faden spinnt und dann in einen Webstuhl einlegt. Andere Webstühle dienen der Herstellung moderner Gegenstände aus Kunstfasergeflecht.
In einer Vitrine wird gezeigt, aus wie vielen Teilen ein Autositz besteht, und was das Material alles aushalten muss.
Überall stehen hier Webstühle herum, denn das war das erste Geschäft von Sakichi Toyoda. Der war um 1890 ein geschickter Handwerker und nutzte sein Geschick um Webstühle zu bauen.
Aber keine simplen Webstühle, sondern solche mit cleveren, neuen Ideen. Toyoda-Webstühle enthielten z.B. Mechanismen, die dafür sorgten, dass die Maschine sofort stoppte, wenn ein Faden riss. Das steigerte die Effizienz. Andere Funktionen senkten die Verletzungsgefahr, wovon die Betriebe auch profitierten.
Sakichi Toyoda verkaufte seine Webstühle bald wie geschnitten Brot, und seine Firma wurde immer größer. In den 1920ern war es Sakichis Sohn Kiichirō Toyoda, der nach einem Studium des Maschinenbaus neue Produktionstechniken einführte, um in einem exakt festgelegte Verfahren Webstühle wie am Fließband zu bauen.
Während das Webstuhlgeschäft bombig lief, hatte der alte Sakichi neue Flausen im Kopf: Er war fasziniert von Automobilen und glaubte, dass denen die Zukunft gehörte. Er schickte Kiichirō nach Europa und in die USA, um Automobilwerke zu besichtigen. Der junge Toyoda besichtigte und machte sich Notizen und lernte, und 1929 verkaufte er einen Lizenz für einen automatisierten Toyoda-Webstuhl für 100.000 Pfund an die britische Firm Platt Brothers.
Mit dem Erlös begannen die Toyodas an der Automobilherstellung zu forschen. Anfang waren das nur zwei große Schuppen, in denen sie Materialien testeten und einen importierten Chevrolet bis auf die letzte Schraube demontierten und genau untersuchten. Versuchsweise wurden erste Motorblöcke und Kurbelwellen gegossen, die aber allesamt immer wieder brachen oder gleich ganz auseinanderflogen. Aber die Toyodas gaben nicht auf – sie beschafften Messgeräte für Zug- und Druckfestigkeit aus Deutschland, experimentierten mit unterschiedlichsten Herstellungsverfahren und erarbeiteten sich Schritt für Schritt, wie ein Automobil gebaut werden musste.
So ganz klappte das am Anfang aber nicht. Als 1935 der erste Toyoda-Wagen mit der Bezeichnung “Modell A1” auf den Markt, waren zwar Motorblock, Zylinderkopf und Zylinder von Toyoda hergestellt, Kurbelwelle und Ventile kamen aber von Chevrolet. Kurz auf den PKW folgte dann der Kleinlaster “Modell CG”.
Warum der Besen an den Rädern hat, möchte ich von einer Angestellten wissen. Sie trägt Rock und Kostümjacke und dazu ein Barrett, wie eine Flugbegleiterin. Nach meiner Frage wühlt sie hektisch in einem Haufen laminierter Zettel herum. Als sie gefunden hat, was sie sucht, überreicht sie mir das Blatt mit beiden Händen und verneigt sich dabei leicht. “Ein Spritzschutz, um Fußgänger nicht zu beschmutzen” steht auf Englisch darauf. Aha.
Schon 1936 folgte das Limousinenmodell “AA”. Dessen Prototyp wurde per Hand in zwei Schuppen zusammengeklöppelt.
Kiichirō gründete zusammen mit seinem Cousin Eiji Toyoda die “Toyota Motors Company”. Dabei wurde aus dem “d” in Toyoda ein “t” – warum genau, darum ranken sich Legenden. Die beiden gängigsten Erklärungen: Die Umbenennung sollte den Gründern die Trennung von Privat und Arbeitsleben ermöglichen (Hm), die andere: “Toyota” wird nur mit acht Strichen geschrieben, und die acht gilt als Glückszahl (Doppel-Hm). Irgendwie klingt beides seltsam.
Die Gründung von Toyota erlebte Sakichi Toyoda schon nicht mehr. Er starb 1930. Sein letzter Wunsch: Elektrifizierung. Das Unternehmen sollte weg von Verbrennermotoren und hin zu batterieelektrischen Fahrzeugen, in denen er der die Zukunft sah. Tatsächlich investierte die Firma heftig in ein Battery Research Lab. Gebaut wurden nur Prototypen, die u.a. Kiichiro Toyoda als eigenes Auto nutzte.
Die PKW-Produktion kam gar nicht richtig in Schwung, denn vorher passierte der Pazifikkrieg. Toyota bekam von der Regierung die Produktion von LKW verordnet. Erst 1947 konnte die Firma wieder Autos herstellen. Im Museum wird das Wort “Krieg” oder “Nachkriegszeit” nicht verwendet. Der Zeitraum nach 1945 wird als “Phase der Revitalisierung” bezeichnet.
Vom Westen zuerst als minderwertig belächelt, verbesserte Toyota kontinuierlich seine Produktion und seine Fahrzeuge. Schon 1972 lösten die Japaner VW als größten Automobilhersteller der Welt ab.
Uih, das war mir gar nicht klar. Bei uns auf dem Dorf kam Toyota erst in den 80ern an. Damals war es genau wie beschrieben. Zuerst lästerten alle über die japanischen Autos und erzählten sich, wie minderwertig die seien. Dann hatte der erste im Dorf einen Toyota, und der Wagen wurde misstrauisch beäugt.
Dann stand irgendwann der zweite Toyota in der Straße, und der Besitzer erzählte, wie günstig und zuverlässig der Wagen sei und wie freundlich der Händler zwei Orte weiter, kein Vergleich zu den VAG-Werkstätten mit ihren ölverschmierten und unfreundlichen Meistern. Mitte der 80er tauschte mein Vater seinen Passat gegen einen Corolla, denn der Passat rostete vom Angucken und neue VWs wurden immer teurer. Vorher war mein Dad nur Volkswagen gefahren, aber der Japaner begeisterte ihn so, dass er danach nie wieder etwas anderes wollte. Das prägte auch mich, denn ich kaufte meinem Dad seine alten Autos ab und war deshalb selbst Ende der 90er erst in einem Toyota Corolla, dann in einem Carina unterwegs. Wenn man so will: Wir waren zu einer Toyota-Familie geworden.
Hoch und runter bin ich jetzt durch verschiedene Hallen gelaufen, immer einer farbigen Linie auf dem Boden folgend und dabei den Erklärungen des Audioguides lauschend. Jetzt geht es eine Rolltreppe hinauf und hinaus auf einen Gang. In dem hängen… Comics? Sie zeigen auf großen Tableaus einen Manager, anscheinend einen Toyoda, und er ist sehr wütend und schreit seine Leute an, die aber zurückschreien.
Gottogott was regt der sich denn so auf? Ich halte den Google-Übersetzer drauf und muss kurz darauf vor Lachen nach Luft schnappen, so groß ist die Text-Bild-Schere.
“WIR SOLLTEN AIRBAGS ENTWICKELN, DIE AUCH SEITENKOLLISIONEN ABFANGEN”, brüllt ein Manager. “UMWELTVERSCHMUTZUNG UND ROHSTOFFERSCHÖPFUNG MÜSSEN WIR AUCH BEWÄLTIGEN!”, knurrt ein anderer. Was aussieht wie ein Streit, soll eine Besprechung darestellen.
Gut, gegen Autos sicherer machen kann niemand etwas haben. Toyota präsentiert sich hier als Pionier in Sachen Kopfstützen, Sicherheitsgurte, Airbags und Knautschzonen und zeigt sogar futuristische Studienmodelle mit umfangreichen Sicherheitspaketen, die zum Teil erst dreißig Jahre später bei anderen Herstellern Serie wurden.
Knautschzonen, zum eigenen Schutz und dem von Fußgängern! Da wird einem erst klar, wir primitiv und Rückständig dieser Cybertruck-Unfug ist, den Tesla da zusammenfriemelt.
Der Gang weitet sich zu einer Galerie. Von oben sieht man nun in eine große Halle, in der Produktionsmaschinen und Fahrzeuge stehen.
Die Fahrzeuge sind teils sehr alt, wie die “Toyopets”-Kleinwagen von 1951…
…teils topmodern, wie der elektrische Mirai, der seinen Strom aus Wasserstoff gewinnt…
…teils einfach nur hybsch anzusehen…
…und teils grandioser Schwachsinn, wie die Straßenvariante der Rallyeversion meines Yaris. Wobei mir die Front von meinem Auto besser gefällt als die der Rennsemmel
Cool sind die Maschinen. Es sind Ausschnitte aus der Produktionsstraße und der Lackiererei aufgebaut, und auf Knopfdruck lassen die sich in Bewegung versetzen. Wieder und wieder baut ein komplexes Ballett aus Kawasaki-Roboterarmen eine Karossereie zusammen und nimmt sie wieder auseinander, und Farbroboter simulieren immer wieder einen Lackierprozess.
Hinter der Haupthalle geht es wieder in die Eingangshalle mit dem Webstuhl. Von dort geht auch ein Kinderparadies ab, in der die kleinen Lenkung und Motoren erklärt bekommen, sie eine Runde Auto fahren können oder sich in einen Windkanal stellen dürfen.
Ebenfalls von der Eingangshalle geht es auch in einen kleinen Trophäenraum, in denen die Auszeichnungen der Toyodas präsentiert werden.
Die Firmenchefs werden hier geradezu kulthaft gefeiert. Aber machen wir uns nichts vor: Das Toyota Museum ist zwar wirklich beeindruckend, aber letztlich Propaganda. Auf nahezu jedem Bild ist zu sehen, wie die Firmengründer quasi eigenhändig Dinge erfinden und konstruieren. Dennoch ist die Geschichte Toyota, von der Webstuhl-Manufaktur hin zum größten Automobilhersteller der Welt, faszinierend.
Fast drei Stunden halte ich mich dort auf, und bin dabei fast alleine. Hier einige Impressionen im Bewegtbild:
Erst gegen Ende wird es voller, und ich wähle den Exit thru the gift shop. Dabei muss ich schmunzeln – wegen des Toyota-Baumkuchens, den es hier gibt (“A kind of german layered Cake”)
Im Nieselregen wandere ich zurück zum Bahnhof. Im Untergeschoß finde ich sofort das Schließfach, in dem mein Cabin Max liegt. So, mal gucken. Display auf Englisch einstellen, “Remove Luggage” auswählen, Handy mit aktivierter ICOCA-Karte ans Lesegerät halten.
Es passiert – nichts. Also, eigentlich doch, aber das Fach geht nicht auf. Dafür sagt das Display “Invalid”, leuchtet einmal rot auf und springt wieder zurück auf seinen Ausgangszustand.
Hm.
Vielleicht Handy komisch gehalten?
Geduldig führe ich die Schritt noch einmal aus.
Wieder passiert: Nichts.
Hä?
Nochmal.
Nichts.
Das Schloss geht nicht auf.
Jetzt werde ich leicht nervös und nestele den Zettel heraus, den ich vorhin als Einlieferungsbeleg bekommen habe. Vielleicht steht da ein Auslösecode drauf, den ich übersehen habe?
Hm. Nein, das steht nur die Fachnummer und das ich bezahlt habe. Ich trete einen Schritt beiseite, um einen jungen Mann vorzulassen. Er hat das Schließfach wohl mit Cash bezahlt und hat tatsächlich einen Abholcode auf seiner Quittung. Er tippt den Code ein, aber auch bei ihm macht das Schloss nichts außer rot zu leuchten und “ungültig” anzuzeigen. Nicht sehr hilfreich. Und nun?
Ich sehe mich um, ob ich irgendwo eine Notfallnummer sehe von der Schließfachbetreuung, sehe aber auf Anhieb nichts. Das ist halt der Nachteil an der Automatisierung: Wenn alles klappt ist toll, wenn aber mal was schiefgeht, sollte besser ein Ansprechpartner erreichbar sein.
Der junge Mann tritt beiseite und mustert verwirrt seinen Abholschein. Einen letzten Versuch noch, beschließe ich, tippe wieder auf “Remove Luggage”, warte einen Moment, rufe dann die ICOCA frisch auf dem Handy auf und halte sie an den Kartenleser. Das Display leuchtet grün auf und Fach 1444 springt auf.
Uff! Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich ziehe den Cabin Max aus dem Schließfach und drücke ihn an mich. “Ich habe gedacht ich sehe Dich nie wieder! Lass uns bloß hier verschwinden”, wispere ich ihm zu.
Es nieselt immer noch, und das bei 24 Grad und 90% Luftfeuchtigkeit. Ich war vorhin schon nassgeschwitzt, aber als ich nach drei Kilometern im Hotel ankomme bin ich nass bis auf die Haut und mir ist heiß bis zum Dampfen. Ekelhaft.
Mittlerweile trage ich übrigens nur noch die Trekkinghose. Obwohl sie aus Polyester ist (Buuh!) ist sie angenehmer zu tragen als die Jeans. Sie ist leichter, luftiger und trocknet viel schneller.
Oh, außerhalb der gigantomanischen Wolkenkratzerstadt hat Nagoya auch schöne Ecken!
Mein Hotel liegt sogar in einem Viertel, das alternativ wirkt, mit kleinen Läden und rumpeligen Cafés.
Ich bin wieder in einem APA untergekommen – ist halt einfach das günstigste, und das die Besitzer Nationalisten sind, weiß ich zu dem Zeitpunkt nicht.
Im Hotel dusche ich erst einmal, dann wasche ich die Oberwäsche durch und hänge sie zum Trocknen auf.
Als ich damit fertig bin, hat es aufgehört zu regnen, aber auch die Sonne ist weg. Im Dunkeln mache ich mich auf den Weg Richtung Innenstadt.
Hu, was ist das denn? Zum x-ten Mal sehe ich jetzt diese Lastwagen. Ich dachte, die transportieren Tierfutter.
Aber anscheinend ist das ein Paketdienstleister 🙂
Bei den blinkenden LED-Wänden und dem Riesenrad habe ich noch nicht geschaltet, aber als mir erstaunlich viele erstaunlich hübsch zurechtgemachte Frauen entgegenkommen, fällt der Groschen: Ich bin hier im Vergnügungs- und Ausgehviertel gelandet. Die Damen sind auf dem Weg zu Arbeit. Sie tragen viel Makeup, haben die Haare aufwendig gestyled und tragen Perlenketten und schwingende Ohrringe zu bodenlangen Abendkleidern, die seltsam altmodisch wirken. Hostessen, eindeutig.
Hostessen sind eigentlich die moderne Version der Geishas. Ihr Job ist nicht Beischlaf, sondern Konversation. In Hostessenclubs spielen sie die Rolle der Gastgeberin und Konversationspartnerin. Sie können über Politik und Gesellschaft plaudern, Gäste mit Smalltalk unterhalten, diskutieren und vor allem: Zuhören. Vor allen bei Geschäftsleuten, die gerne über ihren Job jammern, ist zuhören ein beliebter Service. Dabei wird gegessen und vor allem getrunken, und genau das ist dann das Geschäftsmodell: Die Hostess erwartet eingeladen zu werden und empfiehlt teure Getränke – SEHR teure Getränke, dem Vernehmen nach kann man in einem Hostessenclub binnen zweier Abende ein Monatsgehalt durchbringen. Denn genug gejammert wurde und der Alkoholpegel hoch genug ist, dann wird halt noch ein wenig gefeiert, und das nur mit dem guten Stoff. Die Hostess erhält Provisionen an den verkauften Getränken.
Diese Art von Clubs gibt es mittlerweile auch für Frauen, die dann von bubihaften “Hosts” umschmeichelt werden.
Der Menge der Plakate nach würde ich sagen: Mittlerweile gibt es in manchen Straßen 50% von Host-Clubs, die sich auf das Verwöhnen von Damen spezialisiert haben. Und warum auch nicht – in einer Gesellschaft, in der eine feste Partnerschaft keine Notwendigkeit darstellt und das Leben außerhalb des Jobs sehr einsam ist, bezahlt man eben Menschen dafür, dass sie einem ein Gefühl von Geselligkeit und Freundschaft vermitteln.
Nach “Konversation” und “sich überteuerte Getränke andrehen lassen” steht mir aber gar nicht der Sinn. Ich gehe nur ein wenig Spazieren in den von Neonschildern erleuchteten Straßen, besuche einen Don Quijote “Hier gibt´s alles”-Laden und wandere dann ein wenig durch den Park. Dort sitzen Streamer im Schein von Ringlichtern unter den Bäumen. Was erzählen die wohl, das sich das jemand anguckt?
Am Ende des Parks erhebt sich ein großer Fernsehturm, der “Mirai Electric Power”-Tower. Echt, der heißt wirklich so. Eine Angestellte in Uniform bittet mich herein, aber als ich sehe, dass der Besuch kostenpflichtig ist und gar nicht mal so günstig, verlässt mich spontan die Lust. “Vielleicht morgen”, sage ich der Dame und sie nickt. Vermutlich wissen wir beide, dass ich nicht wiederkommen werde.
Immer weiter und weiter laufe ich durch die warme Nachtluft und genieße die Nacht. Laufen – so geil. Seitdem ich in Japan bin, laufe oder besser: Gehe, ich jeden Tag kilometerweit, meist zwischen zehn und zwanzig Kilometern. Mittelwelle hat sich der Körper völlig daran gewöhnt – vorbei sind die Rückenschmerzen der ersten Tage. Ich musste wohl nach Jahren im Schreibtischstuhl oder im Motorradsattel erst mal wieder den Rücken und die Hüfte gerade bekommen, aber jetzt sind an den nötigen Stellen wieder die richtigen Muskeln und selbst lange Wanderungen machen mir nichts. Wirklich, meine Beine sind spürbar kräftiger, und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich sogar abgenommen*. OBWOHL ich jeden Tag Udon oder Soba-Nudeln essen, Crunky-Schokolade futtere und ein dickes Eis am Abend mittlerweile obligatorisch ist. Japan ist halt doch gesund.
Tour des Tages: Von Hiroshima nach Nagoya, rund 500 Kilometer mit dem Zug.
In Nagoya vom Bahnhof zum Toyota-Commemorative Museum (im Nordwesten) und zurück gelaufen, dann Abends zum zentralen Hisaya-Odori-Park und durchs Rotlichtviertel, rund 13 Kilometer zu Fuß.
Zurück zu Teil 17: Das Entspannungsschwein
Weiter zu Teil 19: Besuch bei Totoro
—-
* Nach meiner Rückkehr werde ich mich auf die Waage begeben und erstaunt feststellen, dass ich in vier Wochen fast sieben Kilo abgenommen habe durch die ganze Lauferei. Das fühlt sich extrem gut an, und bis heute halte ich das Gewicht.
2 Gedanken zu „Reisetagebuch (18): Toyoda“
Sehr spannender Einblick ins Museum, so viel zu entdecken und ich finde die Erklärung mit der Zahl 8 durchaus plausibler.
Das denke ich an einen Toyota Celica, der müsste Bj. 1973 gewesen sein, wenn ich so google.
Den fuhr mein Ausbilder Uffz in meiner Grundausbildung beim Bund in den 1980ern und den Wagen fand ich damals so cool, daran erinnere ich mich heute noch 😊