Reisetagebuch Japan (22): Zurück auf Anfang

Reisetagebuch Japan (22): Zurück auf Anfang

Das Reisetagebuch in Japan. Heute schließt sich ein Kreis, ich treffe einen alten Bekannten aus dem Nachbarort und in Kamurocho bereitet man sich auf Ausschreitungen zu Halloween vor. Ach ja, und: Eggslut!

Dienstag, 29. Oktober 2024, Yokohama
Ich schlafe relativ lange aus, bis kurz vor Acht, dann laufe ich zum lokalen Bahnhof am Baseball-Stadion von Yokohama.

Von dort nehme ich den Zug vom Stadion zum Fernbahnhof Shin-Yokohama und dann geht es in einem kurzen, nur 15 Minuten dauernden Schnellzug-Hüpfer weiter nach Tokyo. Ja, der Kreis schließt sich – als ich vor mitlerweile vier(!) Wochen in Japan ankam, habe ich in Tokyo die ersten vier Tage verbracht, und nun werde ich die Reise hier ausklingen lassen. Aber gaaaaaanz langsam, ein paar Tage habe ich noch.

In Shinjuku springe ich aus dem Zug und finde schnell einen Coinlocker für den Rucksack.

Der Bahnhof Shinjku ist GIGANTISCH, und ich versuche mir ganz genau einzuprägen, wo das Schließfach ist. Zur Sicherheit mache ich Fotos nach allen Seiten

Ich mache auch Bilder von dem, was man sieht, wenn man aus dem nächstgelegenen Ausgang tritt.


Es ist am Ausgang hmhmh gegenüber des Gebäudes Hmhm in der hmhm Straße und das nächste Geschäft heißt… WIE BITTE? Okay, ich dachte ja, mich überrascht nichts mehr. Auch nicht der “Eggpresso” gestern, aber das hier ist dann doch bizarr:

Dann wandere ein wenig durch die Stadt und sehe mir die Takeshita Street, die Mädchenstraße, an.

Auch deren Tor ist jetzt in einen Instagramable bzw. auf TikTok verwertbares Maß hochgepimpt: Es hat jetzt ein LED-Panel, das den Livestream einer Kamera aufnimmt, die auf den Eingang der Straße gerichtet ist. Oder anders: Wenn man das Tor filmt oder fotografiert, nimmt man sich selbst mit auf.

Ansonsten gibt es hier alles was süß und rosa und mädchenhaft ist, manchmal mit Goth-Ausprägung: Plushies, Crepes, Klamotten.

Manche Namen und Schilder sind auch schon wieder seltsam.

Dann wird mir langweilig, und ich nehme die U-Bahn der Yamanote-Kreislinie bis auf die andere Seite der Stadt, bis nach Akihabara, wo ich ja in den ersten Tagen gewohnt habe.

Mir ist nämlich eingefallen, dass ich noch rund 14.000¥, also rund 100€, im Portemonnaie und keine Ahnung habe, wofür ich die ausgeben soll. Ich habe immer so darauf geachtet in den ländlichen Gebieten Bargeld dabei zu haben, das ich nun zu viel davon mit mir rumtrage. Und wo gibt es einen besseren Ort um sehr schnell viel Geld für kleine, teure Dinge auszugeben als im Paradies für Nerds, wo eine einzelne Pokemon-Sammelkarte schon mal Hunderttausende von Yen kostet?

So streife ich noch einmal durch die Manga-Kaufhäuser. Dooferweise interessiere ich mich null für Sammelkartengedöns, aber wieder kann ich mich über die ausgestellten Modelle amüsieren.

Gegen 14:00 Uhr fahre ich wieder zurück nach Shinjuku und laufe ein Stück nach Westen. Dort finde ich auf Anhieb das Hotel “Sakura”. Das ist ein etwas runtergekommenes, aber äußerst sympathisches “Welthotel” – ein alternativer Ort für Begegnung, Übernachtung und Verpflegung, ein Backpacker-Hotel mit dem Charme einer Jugendherberge.

Ich mag mein Zimmer, auch wenn das Bett aus drei alten Matratzen übereinander besteht.

Am späten Nachmittag beginnt es zu regnen und hört nicht mehr auf. Ich gehe aber trotzdem noch mal raus und mache ein paar Fotos von den tropfnassen Straßen. Das hat etwas Romantisches.

In einem lustigen Automaten-Café esse ich zu Abend. Das besteht aus langen Tischreihen. Im Abstand von einem Meter sind iPadsauf Augenhöhe angebracht, davor jeweils ein Stuhl. Ich nehme Platz und lege meinen tropfnassen Schirm ab, dann studiere ich das iPad. Ah, man kann einfach über das Display bestellen und wenige Minuten es wird einem das Gewünschte gebracht. Sehr praktisch!

Es ist geradezu unheimlich still im Restaurant. Dadurch, das alles Einzelplätze sind und Gespräche mit der Bedienung nicht stattfinden, sind keine Gespräche zu hören. Nur Essgeräusche. Der einzige, der laut ist, ist der Mann auf dem Stuhl neben mir, der vor sich hin schnieft und hustet.

Beim Verlassen des Restaurants gibt man die Kassenzettel ab, die mit den Gerichten kamen, und bezahlt die Summe. Sehr praktisch.
Es regnet noch immer, und für mich ist der Tag vorbei. In einem Conbini, der direkt gegenüber des Restaurants ist, hole ich mir noch ein Dessert – Obststücke in Glibber, sehr lecker.

Von Yokohama einen Katzensprung nach Tokyo, dort einmal im Kreis gefahren und 9,5 Kilometer gelaufen.

Mittwoch, 30. Oktober 2024, Tokyo
Im Sakura gibt es auch ein schmales Backpacker-Frühstück. Zwar nur labbrigen Toast mit Konfitüre und ein wenig saft und Kaffee, aber hey, das ist quasi Breakfast for Champions. gefrühstückt. Am Tisch gegenüber sitzt eine Gruppe älterer Herren, anscheinend aus Thüringen, und beratschlagt über das Tagesprogramm.

Mit der Bahn fahre ich bis nach Shibuya und von dort aus weiter bis nach Akihabara. Ich weiß jetzt nämlich, wofür ich meine letzten Yen ausgeben möchte. Nicht für Spielkram, sondern für ein transportables Bidet! Wenn ich zurück in Deutschland nämlich eines vermissen werde, neben dem guten Essen, den günstigen Preisen, den freundlichen und unaufdringlichen Menschen, den Conbinis, der Sauberkeit und dem perfekten Schienenverkehr, dann sind das die japanischen Toiletten, die man praktisch ohne Papier nutzen kann.

Das transportable Washlet von Toto kenne ich schon, das ist nicht so doll. Deshalb nehme ich bei BIC Camera die “Handy Toilet” von Panasonic mit.

“With orr without taxes”, fragt der Kassierer, und kurz bin ich überfordert. Stimmt ja – als Tourist kann man bis zu einer bestimmten Summe steuerfrei einkaufen, wenn man den Reisepass vorlegt und die Waren aus dem Land verbracht werden. Ich könnte jetzt sofort 10 Prozent Umsatzsteuer sparen. Klingt verlockend! Aber muss ich dann Einfuhrumsatzsteuer in der EU zahlen? Und wie hoch ist der Freibetrag? Ach Mist, ich habe mich damit nicht wirklich beschäftigt. “Ich habe keinen Pass dabei”, lüge ich und zahle die Mehrwertsteuer.
Das ist ein bisschen dumm im Nachhinein, mir aber im Zweifelsfall lieber.

Dann laufe ich noch ein wenig durch die Geschäfte und kann die Frage des Podcasts “Baywatch Berlin” ob es wohl spezielle Essenscheren in Japan gibt, klären. Es gibt sie.

Ein letztes Mal besuche ich den grünen Münzspendeautomaten in Ueno und füttere ihn mit gesammeltem, nutzlosen Kleingeld…

Kilometerweit laufe ich von Ueno zurück nach Akihabara und finde an jeder Ecke Dinge, die mich staunen oder schmunzeln lassen. Das Suzuki-Gebäude. Oder die Panda-Schule.

Danach fahre ich wieder zurück zum Hotel. In der Metro entdecke ich Werbung für eine Ausstellung der Werke Canaletto und von Alfons Mucha, dem Jugendstil-Maler.

Hehe. Gute Kunst wird auf der ganzen Welt geschätzt, und Jugendstil mag irgendwie jeder. Ich weiß das, ich habe vor dieser Reise eine ganze IT-Tagung im Jugendstil-Design entwickelt und durchgezogen, und jeder hat´s geliebt.

Im Hotel mache ich einen kurzen Mittagsschlaf.
Nachmittags laufe ich durch ruhige Wohnviertel mit kleinen Häusern in einen anderen Stadtteil, nach Shimokitazawa, wo ich mich mit Dave treffe. Der jüngste Sohn einer guten Freundin ist mittlerweile auch schon 29. Er arbeitet als Schauspieler und Synchronsprecher und schreibt Drehbücher. Aktuell versucht er sein Glück hier in Japan – und scheint verliebt in das Land zu sein.

Als ich Dave in einem Craft-Café treffe, büffelt er gerade japanisch. Im Gegensatz zu mir spricht er das auch gut und versteht vor allem, was Leute zu ihm sagen. Ich bin ein wenig neidisch. Meine eineinhalb Semester an der Volkshochschule haben leider nicht so viel gebracht. Die Lehrerin hatte den Anspruch, Hochjapanisch zu unterrichten, mit einem Buch, das ausschließlich auf japanisch ist (wie soll man die Aufgaben lesen, wenn man die Sprache nicht kann?) und das in einer Gruppe weiblicher Manga-Fans, die sich schon selbst japanisch beigebracht hatten und jeden Tag in der Woche drei bis vier Stunden investieren konnten. Als berufstätiger nicht-Anime-Fan war ich in dem Kurs leider schneller abgehängt als ich “Watashi wa” sagen konnte. Dave ist da mit seinem Selbststudium mit Youtube wesentlich besser bedient.

Zum ersten Mal seit vier Wochen spreche ich Deutsch, und das mit einer anderen Person als mir selbst. Wir quatschen natürlich vor allem über das Land, und bei aller Mühe, die das ankommen hier bereitet, geht es Dave damit sehr gut – er brennt sogar darauf, sich noch tiefer in Kultur und Gesellschaft einzufinden.

“Sorry nochmal, dass ich nichts aus Deutschland mitbringen konnte”, sage ich. Dave wollte gerne was von zu Hause haben, allerdings ausgerechnet Bücher und Körperpflege-Dinge – beides ist schwer, beides hätte nicht in den Cabin Maxx gepasst.

Dann spazieren wir durch “sein” Shimokitazawa. Das Viertel gefällt mir sofort. Es ist ein wenig wie Camden Town in London, geprägt von einer lockeren Künstlerkultur. In den Gassen drängen sich kleine Läden die Selbstgemachtes anbieten, Craft-Cafés und Kleinstbrauereien, kleine Bäckereien und Bistros, Vintage- und Second-Hand-Läden. Ein sehr junges und entspanntes Viertel.

Hier gibt es viel zu entdecken. Einparkkünste der Anwohner, zum Beispiel.

Dave macht einen Sitzplatz vor einem kleinen Ramen-Restaurant klar. Ich hätte hier nichts bekommen, weil ich weder die Platzanweisungen verstanden noch den Bestellautomaten hätte bedienen können, der nicht nur tricky ist, sondern auch nicht jeden Geldschein annimmt. Als wir endlich sitzen und Ramen schlürfen, frage ich Dave, in Gedanken an seine Familie, wann er zurück nach Deutschland gehen wird. Die Antwort kommt ohne Zögern. “Wenn es sich ergibt, bleibe ich hier”, sagt Dave und grinst. “Das Land hat SO viel zu bieten!”
Ich kann ihn verstehen.

Ich verabschiede mich von Dave und fahre noch mal zurück nach Shinjuku. Dort lasse ich mich durch Kamurocho… äh, Kabukicho treiben und beobachte das abendliche Gewusel, was sich später in ein Nachtleben zwischen Host-Clubs und Liebeshotels verwandeln wird.

Tatsächlich scheint es in 2025 mehr Host- als Hostessenclubs zu geben. Bilder der hyperstilisierten Escortdamen sieht man nur noch wenige, Werbung für männliche Begleiter dagegen überall.

Das “Golden Gai”-Viertel existiert auch noch. Dicht zusammengedrängte, winzige Hütten, in jeder eine Bar mit manchmal nur drei Sitzplätzen. Natürlich ist auch hier alles voller Touristen. Auf großen Schildern werden die darauf hingewiesen sich zu benehmen, leise zu sein und sich nicht bis zum Torkeln zu zukippen.

Es ist ein Tag vor Halloween, und nach den Ausschreitung ein den vergangenen Jahren ist nun der Alkoholkonsum in der Nacht verboten, warnen große Schilder. Überall ist Halloween-Deko.

Auf der Hauptstraße steht ein Spalier von jungen Menschen, meist knapp oder lässig oder sogar in Cosplay gekleidet. Sie halten Schilder hoch. Auf Tiktok und Insta habe ich Influencer gesehen, die behaupten, die Jungen und Mädchen würden hier “Ihre Körper anbieten! Öffentliche Prostitution!”. Das ist Quatsch, Prostitution ist in Japan streng verboten. Was die Kids hier machen ist – Werbung! Auf den Schildern wird für Host-/Hostessenclubs, Bars und Restaurants geworben. Man kann die Personen ansprechen, und sie führen einen dann zum beworbenen Etablissement und bekommen dafür Provision – ganz genauso wie Taxifahrer auf dem Oktoberfest.

Mir reicht es für heute, ich laufe durch die warme Nacht entlang der Hauptstraßen die fünf Kilometer zurück zum “Sakura” und bewundere dabei die große Stadt.

Tour des Tages: Von West-Shibuya mit der Bah nach Ueno, von dort zu Fuß nach Akihabara, dann zurück und zu Fuß bis nach Shimokitazawa, mit der Bahn nach Shinjuku und dann wieder zu Fuß zurück. Rund 16,5 Kilometer per Pedes.

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