Reisetagebuch London 2025 (1): Paddington

Reisetagebuch London 2025 (1): Paddington

Samstag, 08. Februar 2025, Mumpfelhausen
Ein eisiger Februarwind pfeift die Dorfstraße herunter und reißt an den Ästen der die winterkahlen Bäume. Es ist kurz vor sechs. Die Welt ist noch ganz still, alles schläft. Nur der kleine Bach, der in einem engen Kanal mitten durch Dorf fließt, gluckert im Dunkeln munter vor sich hin.

Der Bus hat wenige Minuten Verspätung. Ich bin der einzige Passagier. Klar, es ist Samstag und mitten in der Nacht, wer will jetzt schon irgendwohin, wenn er nicht arbeiten muss.

Auch die Stadt ist noch still. So still, dass man die Vögel singen hört. Das ist selten und hat ein wenig was von Frühling, aber die Kälte straft dieses Empfinden Lügen.

Selbst die mehrspurigen Hauptstraßen Göthams sind leer.

Auch der Bahnhof liegt noch leblos im Dunkeln.

Im Bahnhof hat noch nicht einmal das Café geöffnet. Das macht um 06:30 auf, und ich bin gleich der erste Gast. Denn: Jedes große Abenteuer sollte mit einem kleinen Kaffee beginnen.

Auch, wenn das heute gar kein großes Abenteuer wird. Es geht ja “nur” nach London, ein Trip den ich bis 2019 schon vier mal gemacht habe. Dementsprechend unspannend fühlt sich das an, auch wenn es nun die erste Fahrt nach dem Brexit und nach der Pandemie ist. Dennoch: Das abenteuerlichste wird die Fahrt mit der Bahn sein.

Einen Espresso später trabe ich zum Gleis. “CHRRRRGT…110 Minuten Verspätung. Grund dafür ist eine Störung an einer Weiche”, höre ich noch. Ist zum Glück nicht mein Zug.

Mein Zug fährt zwar pünktlich, wird aber im Laufe der Fahrt 45 Minuten Verspätung einsammeln. Grund dafür? “Störung an einer Weiche”. Umleitung über Aschaffenburg. Niemand wollte jemals nach Aschaffenburg, nicht freiwillig.

Ist schon interessant zu sehen, wie die Bahn verkackt. Also, nicht OB sie verkackt, sondern nur, was dieses Mal schief geht. Eine reibungslose Fahrt ist mit der Deutschen Bahn nicht zu erwarten. In den vergangenen drei Jahren ist bei denen einfach alles den Bach runtergegangen.

Zum Glück bin ich dem alten Mantra gefolgt: Buche immer einen Zug früher, damit Du auch dann noch pünktlich bist, wenn einer ausfällt. Was übrigens über die Bahnseite nicht möglich war. Jedes Mal, wenn ich einen Zug früher und eine längere Umsteigezeit wollte, meldete die Seite, dass sie mir keine Tickets verkaufen könne, ich solle ins Reisezentrum oder am Besten ganz weggehen. Zum Glück bin ich ein findiger Softwaretester und habe den Fehler im System gefunden und auch einen Workaround.

Laut Plan hätte ich damit zwischen dem ersten Zug und dem Anschluss eineinhalb Stunden Zeit gehabt. Am Ende sind es noch 30 Minuten als ich in Frankfurt ankomme.

“Hohe Auslastung erwartet”, sagt die Bahn und klar, am Samstag machen Leute Reisen. Immerhin fährt der Zug, auch wenn sich Wagen 24 für Wagen 94 hält und alle Reservierungen vergessen hat, die Leute finden trotzdem ihre Plätze.

Ich sitze am Kopf des Wagens, ab der Mitte ist er gefüllt mit aufgedrehten und schnatternden Teenagerinnen aus Stuttgart und Frankreich. Würde man sie nicht hören, hätte ich sie an den Wolken nach Vanille und Gebäck riechenden Deos bemerkt. Durch die FFP3-Maske. Ich trage die in Bus und Bahn immer noch. Ich hatte noch nie Corona, trotz zahlreicher Nah- und Fernreisen, und legen keinen Wert darauf, mit dieser schönen Tradition zu brechen.

Die Fahrt nach Brüssel verläuft harmlos. Dort steige ich aus, gehe eine Treppe hinab in die große Traverse und finde dann an Gleis 1 und 2 das “Channel Terminal”.

Schlimm ist das mittlerweile, wie heruntergekommen und kaputt alles aussieht. Eine Metapher für das einst stolze Europa, das nun in Jahr sechs unter von der Leyen immer weiter abbaut.

Was einst eine großzügige Empfangshalle war, ist jetzt vollgestellt mit Absperrungen durch Tensorgurte, dahinter ein Sicherheitscheck. Zwar muss man die Taschen nicht auspacken und auch Getränke darf man mitnehmen, aber schön ist das trotzdem nicht – selbst Uhren und meinen Gürtel aus Plastik muss ich ablegen, weshalb ich mich noch fast mit einem Wachmann anlege. “Same rules for everybody” brüllt er und lässt mich nicht durch den Metalldetektor, bevor ich nicht den Kunststoffgürtel umständlich aus den Laschen gefriemelt habe und mit rutschenden Hosen dastehe. Völlig sinnlose Aktion.

Die EU-Passkontrolle ist schnell und freundlich, die UK-Borderkontrolle nicht. Automatische Passscanner gibt es nur für Angehörige des Empire (UK, Australien und Kanada). EU-Bürger müssen an zwei Blondies, einem Mann und einer Frau, vorbei, die sich nur unterhalten und dabei mit den Kunden…? Gäste…? nicht ein Wort wechseln. Das Abfertigungsvieh glotzt einen nur dumm an und hält die Hand auf, in die man einen Pass drücken soll. Da passt es, das über den Schalter nicht mehr “Border Control” steht sondern “UK BORDER FORCE”.

Der Rest vom Terminal ist auch in einem erbarmungswürdigen Zustand. Die einst große und elegante Wartehalle ist zerstückelt, weil in den Eingang ein Duty-Free-Shop gefrickelt werden musste und in eine Ecke noch eine “First Class Premium Lounge” gebaut wurde.

Wo man früher als Normalreisender bequem sitzen und sich an einem Cafétresen was zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen kaufen konnte, gibt es jetzt Alkohol und Parfum und riesige Tobleronepackungen. Dafür sind im Wartebereich signifikant weniger Sitzplätze, die Toiletten sind defekt und abgesperrt und ein Teil der Decke ist runtergekommen. WLAN gibt es keines, zumindest nicht ohne Registrierung.

Am Schlimmsten: Die Gleise sind nicht mehr ausgeschildert. Wenn ich nicht wüsste, dass sie DORT sein müssen, ich würde nicht auf die Idee kommen, dass man jetzt um zum Bahnsteig zu kommen vom Wartebereich noch einmal DURCH den Duty Free Shop laufen muss und DANN durch dessen Self-Checkout und DANN gelangt man zu einem Aufgang zu den Gleisen. Bedeutet: Als das Boarding freigegeben wird, schieben sich gleichzeitig 200 Personen im Gänsemarsch durch den Spirituosenladen, durch die Kasse und gehen dann weiter.
Grotesk.

Auch die Eurostar-Züge haben ihre Grandezza verloren. Vorbei die Zeiten der Zugbegleiterinnen im edlen Kostüm mit Barrett und Halstuch, vorbei die Zeiten der gediegenen Wagenstandanzeiger, vorbei auch die Zeit der bequemen, an Loungesessel erinnernden Sitze im mit Teppich ausgeschlagenen Eurostar.

Der neue Eurostar sieht aus, als hätte ihn Ryanair designt, und ähnlich viel Platz bietet er auch für die Beine und das Gepäck. Die Gepäckablagen sind so schmal, als wären sie nur zu Dekoration. Selbst mein kleiner Rucksack, ein nur halbvoller Osprey Porter 65, geht da nicht rein. Schlimm, im Vergleich zu früher. WLAN gibt es immer noch nicht, zumindest keines, was funktioniert.

Die Fahrt dauert zwei Stunden und drei Minuten. Der Zug rauscht im Eurotunnel unter dem Ärmelkanal durch und kommt in Folkestone wieder an die Oberfläche, schiesst an grau-verregnete Feldern vorbei und taucht noch einmal kurz in den Untergrund, nur um in London wieder ans schummrige Tageslicht zu kommen und im Bahnhof St. Pancras zu halten.

Ich bin froh, als ich endlich die Statue der Liebenden sehe. Das ist das Zeichen, dass ich es geschafft habe. Oh, seit dem letzten Mal hat jemand eine Neon-Schrift montiert.

Vom Bahnsteig geht es eine Treppe herunter und durch den Keller des Bahnhofs. Überall hängen hier Schilder mit BORDER FORCE und Uniformierte mit Waffen stehen an jeder Ecke. Immerhin wird auf eine erneute Kontrolle der Ankommenden verzichtet. Ich bin froh, als es wieder eine Treppe hinaufgeht, die in der Ladenstraße des Bahnhofs endet und ich im Strom der Herumeilenden untertauchen kann.

Ab hier weiß ich wieder aus dem Kopf wie es weitergeht. Links rum, vorbei an den Oyster-Terminals, dann rechts und ab in die Metro. Meine Oyster-Card tut noch, obwohl mittlerweile selbst Transport for London, die Betreiber der U-Bahn, dazu raten, eine kontaktlose Kreditkarte oder sogar Apple/Google-Pay für die Fahrt in der Tube zu nutzen – die Konditionen, inkl. Tages-/Wochen-Caps, sind dieselben wie bei einer Oystercard.

Die U-Bahn hält am Bahnhof Paddington. Am Ende der langen Rampe, die den Ausgang aus dem Bahnhof darstellt, leuchtet schon tiefrot die Neonschrift des “Aberdeen Steak House”. Bei dem Anblick durchfährt mich ein Gefühl, als käme ich nach Hause. Jetzt sind es nur noch wenige Schritte bis zum Norfolk Square.

Im Norfolk Square liegt das Belvedere, meine bevorzugte Unterkunft in London. Das schmale Stadthaus hat einfach eine perfekte Lage: Der Bahnhof und die U-Bahn ist um die Ecke, das Herz der Stadt kann man aber auch zu Fuß in 25 Minuten erreichen.

Zimmer Nummer 14 liegt im fünften Stock, ganz oben unter der dem Dach, am Ende von 112 schiefen und ausgetretenen Stufen einer engen Stiege. Als ich die Tür öffne, atme ich tief. Dann sehe ich mich um. Es ist noch fast wie früher – das ist gut! “Ich bin wieder da” sage ich zum Zimmer. “Na, wie ist es Dir in der Zwischenzeit ergangen?”

So mittel, anscheinend. Der edle blaue Teppich wurde gegen einen schlecht verlegten roten ausgetauscht und das Bettschränkchen ist weg, der Schreibtisch hat wohl mal eine größere Menge Feuchtigkeit abbekommen, aber sonst ist alles wie immer. Die Möbel sind alt, der Spülkasten im Bad erratisch (mal spült er, mal spült er nicht, mal tropft er, mal tropft er nicht) und die Dusche hat keinen Druck.

Im Bad wackelt immer noch der Heißwasserhahn, auch wenn es ein anderer ist und der anders geflickt ist als beim letzten Mal. Immerhin ist der vermaledeite Duschkopf mit den Tonkügelchen im Griff verschwunden.

Leider ist der neue völlig verschimmelt und gibt nur Tropfen von sich, weil der Wasserdruck im 5. Stock so schlecht ist.

Aber gut, kein Ding – seit einiger Zeit habe ich ernsthaft einen kleinen Duschkopf im Gepäck, der auch bei niedrigstem Wasserdruck noch ordentlich funktioniert. Den habe ich sogar hier in London gekauft, fällt mir ein, während ich ihn montiere und das verschimmelte Etwas beiseite lege.

Auch wenn das Belvedere mit 85 Euro pro Nacht mittlerweile doppelt so teuer ist wie vor sechs Jahren, und auch wenn das Frühstück nicht mehr inklusive ist: Ich freue mich, wieder hier zu sein! Und zumindest gibt es das Haus hier noch, etliche der anderen Hotels in dieser Straße haben zugemacht. Würde mich nicht wundern, wenn das eine Folge des Brexit ist: Die Häuser hier wurden früher komplett von Pakistanis und Polinnen bewirtschaftet. Die Pakistanis sind noch da, die Polinnen vermutlich nicht mehr.

Ich habe noch Bewegungsdrang und beschließe, eine Runde spazieren zu gehen. Warum nicht Big Ben angucken? Gesagt, tun getan. Es ist Samstagnacht, Jungesellenabschiede und aufgedonnertes Partyvolk sind unterwegs.

Endlich weiß ich, warum ich die Apple Watch mit dem GROßEN Display trage. Navigation darüber ist schon cool.

Leider läuft auf der Apple Watch Apple Maps, und das ist leider hanebüchen schlecht. Es lotst mich über schlammige und unbeleuchtete Wege durch den Hyde Park. Das ist schon ein Bißchen unheimlich.

Vorbei am Buckingham Palace geht es Richtung Parliament, und ich genieße den Spaziergang durch Westminster.

Der Glockenturm mit Big Ben war die letzten Male, als ich hier war, eingerüstet und wurde renoviert. Jetzt strahlt er in neuem Glanz.

Mit der Bahn fahre ich zurück nach Paddington. Mittlerweile ist es ruhig geworden im Bahnhof, und ich besuche einen alten Freund, der an Geis 1 wartet. “Na, Bär?”, sage ich. “Lange nicht gesehen. Wie geht es Dir?”

Dann schlendere ich vom Bären Paddington durch das Stadtviertel Paddington zurück zum Hotel. Viele kleine Läden gibt es hier, und natürlich habe ALLE den beliebtesten Bären Großbritanniens im Schaufenster.

Tour des Tages: Bahnfahrt von Götham über Aschaffenburg nach Frankfurt, von dort über Aachen nach Brüssel, dann durch den Eurotunnel nach London. Dann zu Fuß von Paddington nach Westminster und mit der Tube zurück. Zu Fuß rund 10 Kilometer.

Weiter zu Teil 2: Battersea

8 Gedanken zu „Reisetagebuch London 2025 (1): Paddington

  1. Du scheinst das Glück ja förmlich anzuziehen mit der DB. Ich fahr ja auch nicht so selten, aber solche Extreme hab ich bisher nicht bei der der DB selbst erlebt. Bei der schwedischen Bahn sah das kürzlich schon anders.

    London würde ich auch gern mal per Zug machen, aber ich würde vermutlich Berlin – Paris – London fahren.

    Gab es die Paddington Plushies auch in schön?

  2. Ich bin vor langer Zeit mal mit meiner Tochter nach London mit der Fähre Cuxhaven-Harwich gefahren und dann mit dem Zug nach London. Gibt es, glaube ich, nicht mehr. War ne sehr schöne Tour.

    Und zu Max’ Kommentar mit der Bahn: Ich fahre achtmal im Monat eine Pendelstrecke und wenn eine Verbindung im Monat wie geplant klappt, dann mache ich ein Kreuz in den Kalender. Rekord war 5 Stunden in Hannover letztes Jahr, auch Weiche defekt. Da kann ich gleiches berichten. Nadelöhr ist, aus welchen Gründen auch immer, jeweils Hannover.

  3. Aschaffenburg … dort hatte ich das schlimmste Date meines Lebens. Ich war nur einmal da. Will nicht wieder hin. Ach ja, war schlimm weil der schlimmste Heuschnupfen-Anfall meines Lebens dazu kam 🙂

    Immerhin war meine Anfahrt gestern besser. Alle Züge pünktlicher, nagelneuer ICE mit echt gutem neuem Design (Wohnzimmer-Style) und es war auch insgesamt angenehm.

    Blöd, dass die nächsten Folgen jetzt nicht täglich kommen …

  4. Max: Ich glaube nicht ICH bin die Ausnahme bei diesen Erlebnisse, sondern Du hast einfach unfassbares Glück bislang! 😉

    Modnerd: Viel Spaß in London! Schreib mal wie es so ist!

    Ali: Das musste ich erstmal nachschlagen. “Schweizer Degen der schwarzen Kunst” ist Dein Titel – klingt sehr geheimnisvoll! (Lustig: Im Wikipedia-Eintrag steht, dass Buchdrucker spotten das sei jemand der nichts richtig kann) 🙂

    Lupo: Ah mit dem Schiff nach England ist auch nice. Ich finde gefühlt jedes Reisemittel besser als das Flugzeug, und gerade für London oder die anderen britischen Städte bietet sich die Bahn echt an. Auf gar keinen Fall würde ich mit dem eigenen Moped fahren – Erik Peters wurde seines gerade binnen zwei Minuten gestohlen, das ist in UK Volkssport.

    Aschaffenburg… Nunja, sagen wir einfach: Es hat sicher auch schöne Ecken.

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