
Reisetagebuch London (2): Battersea
Sonntag, 09. Februar 2025
Der Bewegungsdrang von gestern ist noch da, ein Ziel nicht, und so laufe ich schon früh am Morgen wieder kreuz und quer durch die Straßen Londons.
Ich mag es, mich wieder zu bewegen – jeden Tag 10, 15 Kilometer laufen, das hat mir im Herbst in Japan SO gut getan. Solche Strecken lassen sich aber nicht in den Alltag einbauen.
Der erste Versuch, mit der Kreditkarte im Tescos um die Ecke ein kleines Frühstück zu kaufen, scheitert – der Self-Checkout akzeptiert die Karte nicht. Zum Glück habe ich noch von den letzten Reisen einige Pfund Bargeld dabei und kann so die Rosinenschnecke bezahlen.
Aber warum hat die Kreditkarte nicht… Ach, ich Blödmann. Weil die bei meiner Bank für Auslandseinsätze gesperrt ist. Schnell öffne ich die App auf dem Mobiltelefon und aktivere “Vereinigtes Königreich” in der Liste der erlaubten Länder. Ab jetzt wird die Karte hier funktionieren.
Vom Bahnhof Paddington aus wandere ich gen Süden und durch den Hyde Park.
Es regnet, aber das ist mir egal – der kleine Taschenschirm, den ich aus Japan mitgebracht habe, hält mich trocken. Ich laufe etwas ziellos herum und sammele Eindrücke.
Ah, die Victoria-Busstation. Von hier bin ich damals mit dem Bus nach Stonehenge gefahren. Mein Gott, das ist auch schon über 10 Jahre her. 2014. Seit diesem Jahr kenne ich London. Zeit vergeht.
Durch die Stadteile Pimlico und Churchill Gardens geht es zur Themse. Als ich am Fluß ankomme, scheint die Sonne kurz durch die Februarwolken. Hält aber nicht lange an.
Auf der anderen Seite der Themse lässt sich gerade eine Fitness-Influencerin von einem Kamerateam ablichten.
Etwas weiter liegt der Battersea-Park. Zu meinem Erstaunen steht hier eine japanische Pagode herum. Ein Schild daran erklärt, warum die hier ist: Die “London Peace Pagoda” ist ein Geschenk Japans an das Königreich gewesen und wurde tatsächlich von Anhängern und Glaubensbrüdern und -schwestern eines buddhistischen Mönchs gebaut. Das war so eine Art Hobby von denen, nach den ersten Bauten in Nagasaki und Hiroshima haben die weltweit solche Pagoden gebaut.
Richtung Osten, am gleichen Themseufer wie der Stadteil Battersea und der Battersea-Park, liegt ein altes Kraftwerk, das folgerichtig “Battersea Power Station” heißt.
Mit Worten lässt sich das Bauwerk kaum beschreiben, weil der Kopf nicht versteht, wie riesig der Bau wirklich ist. Battersea Power Station ist mit sechs Millionen Backsteinen einer der größten Backsteinbauten in Europa und so groß, dass die gesamte St. Pauls Cathedral in die Haupthalle des alten Kesselhauses passen würde.
Das Kohlekraftwerk war der Versuch, die Stromversorgung in London nicht nur zu zentralisieren, sondern auch zu vereinheitlichen. Vorher war es nämlich tatsächlich so, das etliche kleine Kraftwerke Strom nach ihrem Gusto produzierten, mal mit der Frequenz, mal mit jener Spannung. Wollte man ein elektrisches Gerät besitzen und benutzen, musste man es für den eigenen Wohnort anfertigen oder zumindest an die dortige Stromversorgung anpassen lassen. Kein Witz.
1929 begann das private Unternehmen “London Power Company” mit dem Bau des großen Kohlekraftwerks nach den Plänen von Giles Gilbert Scott, der schon die roten Telefonzellen, die Waterloo Bridge und die Bankside Powerstation, die wir heute als Tate Modern kennen, entworfen hatte. Scott entwarf das Gebäude im Art Deco Style. Das zeigt sich besonders im Inneren, wo die Kontrollräume mit schmiedeisernen Treppenhäusern, italienischem Marmor und gravierten Türen mit titanischen Figuren versehen sind. Batterse Power Station, das wird mir in diesem Moment klar, war die Vorlage für “Rapture” in Bioshock!
1933 ging die Battersea Powerstation in Betrieb und dominierte sofort das Stadtbild. Der Rauch aus den Schloten war so schwarz und dicht, dass er Piloten im zweiten Weltkrieg als Orientierung diente, weil man die schwarzen Rauchsäulen selbst im Nebel der Themse ausmachen konnte. Das Kraftwerk wurde 1948 noch einmal deutlich erweitert versorgte London insgesamt 50 Jahre, bis 1983, mit Strom.
1988 wurden die riesiegen Kessel entfernt, wofür man das Dach abdeckte und dann einfach alles so ließ. Jahrzehntelang rottete das Gebäude vor sich hin, bis 2013 ein malaysischer Konzern das ganze kaufte und neun Milliarden investierte. Das Hauptgebäude wurde saniert, das Grundstück drumrum mit Luxusappartmentkomplexen von Norman Foster und Frank Gehry bebaut. 2023 zog Apple mit 1.400 Mitarbeitern ins Obergeschoss ein, und im Erdgeschoss und den Untergeschossen wurde ein Einkaufszentrum eröffnet.
Als ich das letzte Mal hier war – vor der Pandemie (also vor sechs Jahren!), war das hier noch Baustelle. Der Container, in dem das Bauvorhaben erklärt wurde, ist immer noch da, zeigt aber jetzt vorher-nachher-Vergleiche.
Das Gebäude hebt sich fast drohend gegen den grauen Februarhimmel ab.
Im Inneren fasziniert die Mischung aus Industriehalle und Luxusgeschäften.
Durch die indirekte Beleuchtung wirken die Haupthallen recht dunkel – eine strahlend helle Ausleuchtung hätte aber nicht zum Gebäude gepasst.
Ah, das Art-Deco-Controlcenter. Leider nicht zugänglich.
Oh, und es wird Aussicht angeboten. Für 20 Pfund kann man eine Ausstellung zu Battersea besuchen und dann mit einem Fahrstuhl nach oben fahren um aus einem der Schornsteine rauszugucken. Ich checke kurz die Seite und stelle fest, dass ich noch ein Ticket bekommen könnte – merke dann aber, dass ich das keine Lust drauf habe. Weder auf Geld ausgeben noch auf die Aussicht – was soll man jetzt schon groß sehen? Draußen hat es wieder zu regnen begonnen, viel mehr als grauen Himmel wird man kaum sehen.
Überhaupt schlägt mir das hier auf´s Gemüt. Ja, das Gebäude ist fazinierend, aber für wen bitte wurde das hier gemacht? Wieviele so reiche Menschen gibt es denn, dass die hier zum Rolex-Shoppen herkommen oder in einem der Luxusappartments hinter dem Kraftwerk wohnen? Vermutlich kostet die Monatsmiete einer solchen Wohnung so viel, wie ich in einem halben Jahr verdiene, denke ich, als ich den Electric Boulevard hinter dem Kraftwerk entlanglaufe.
Die Gebäude sind unverkennbar Gehry.
Die Luxusstraße wird von Luxusgeschäften gesäumt. In einem kann man Luxus-Kochutensilien kaufen. Ein kleiner Kupfertopf kostet ab 550 Pfund. Das ist wirklich nur was für Menschen, die obszön viel Geld haben. Wirklich krass, wie deutlich hier zu sehen ist, wie stark die Schere bei den Einkommen auseinanderklafft. Zumal in der U-Bahn plakatiert wird, das es jetzt schon nicht-staatliche Hilfsorganisationen braucht, damit arme Rentner im Winter heizen können:
Reich werden Banker und Aktionäre. Die lassen nur ihr Geld und damit andere arbeiten. Ihr Selbstbild ist aber ein ganz anderes. Wie das aussieht, kann man an der Figur inmitten des Boulevards ablesen. Sie zeigt eine moderne Version von Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt. Die Spekulanten halten sich allen Ernstes für eine tragende Säule der Gesellschaft.
Ich muss hier weg, bevor ich hier noch was anzünde und dabei “EAT THE RICH!” brülle.
An der Themse entlang entdecke ich den “New Covent Garden”, wohl einer Marktplatz, finde aber keinen Zugang zu den Hallen.
Die neue amerikanische Botschaft. Die Metalldinger an der Fassade schirmen Abhörstrahlen ab. Mich erinnern sie an Alienfinger.
Fast schon altmodisch und vertraut wirken die Luxusappartements im St. Georges Wharf Tower. Deren Besitzer kommen auch langsam in die Jahre. Je älter man wird, desto mehr Krempel sammelt sich an, und durch die großen Glasfronten der Luxusbuden lässt sich der Krempel deutlich erkennen. Das Gebäude wurde halt gebaut bevor es ordentliches tinted privacy glas gab.
Ah, das Secret Intelligence Service-Gebäude. Wurde der MI6 nicht in einem Bondfilm in die Luft gejagt?
Ich marschiere weiter durch London und sammele Eindrücke.
Der Buckingham Palace.
Marble Arch.
Hübsche Autos.
Paddington Station.
Das Notting Hill Gate.
Mehr hübsche Autos.
Im Apple Store an der Oxford Street zeigen die Angestellten voller Begeisterung, aber ohne Publikum, Funktionen des iPhone 16.
In der Regents Street steht Hamleys, Londons ältester Spielzeugladen. Auf sieben Etagen wird hier faszinierender Kinderkram angeboten. Die Treppen sind so alt, das selbst das Riffelblech weggewetzt ist.
Am Piccadilly Circus liegt das Criterion Theatre.
Ich mag das sehr. Der Theaterraum liegt unterirdisch, um dorthin zu gelangen geht man durch geflieste Korridore aus viktorianischer Zeit.
Hier wird heute Abend “Titanique – Das Musical” gegeben, eine Verarschung des Films Titanic in Kombination mit einer Nummernrevue der größten Hits von Celine Dion. Vor Beginn der Vorstellung halten Ordner Schilder hoch: “Bitte nicht mitsingen!”. Kein Problem, ich kenne nur ein Lied von Celine Dion, und davon auch nur eine Zeile.
Das Stück beginnt mit einer Gruppe Besucher in einem Museum. “…und dann ertranken 1.514 Menschen, als die Titanic sank”, sagt der Museumführer. In dem Moment springt eine Frau aus der Kulisse und ruft “MOOOOOOMENT! Das ist nicht, woran ich mich erinnere!”
Die Frau, das ist Celine Dion (gespielt von Lauren Drew), und sie hijacked die Museumstour und erzählt in den nächsten 90 Minuten dann die WAHRE Geschichte der “Titanic”, so, wie sie sie erlebt hat – denn sie war natürlich dabei: Gerade war sie noch mit Sting am abrocken um Jack und Rose zusammenzubringen, da hat Tina Turner das Schiff versenkt, aber gestorben, gestorben ist niemand! Weil sie, CELINE DION, alle mit “My heart will go on” ins Leben zurückgesungen hat!
Die Gesangsnummern sind kurz und sehr gut (und bestimmt nochmal spannender, wenn man ihr Werk kennt) und der Wortwitz hanebüchen. “My Name is Lady DeWitt Bukater”, stellt sich Rose´ Mutter vor. “That sounds a lot like Bukkake”, sagt Jack, worauf es der Oberschichtdame herausrutscht “Yeah, when I was younger I got this a lot”.
Großer Spaß. Ach ja, London. Ich bin auch deshalb so gerne hier, weil es nirgendwo sonst auf der Welt die Möglichkeit gibt, so viele tolle Theater- und Musicalproduktionen zu besuchen. HIER, im Londoner Westend, werden Stücke erprobt bevor sie an den Broadway kommen, nicht umgekehrt. Weltführende Produktionen? You saw´em in London first.
Zu Fuß laufe ich zurück, erst durch eine schöne, alte Fußgängerunterführung am Picadilly Square, dann durch die Nacht zurück zum Norfolk Square.
Wieder in meinem Zimmer am Norfolk Square stelle ich fest, dass der Duschkopf weg ist. Nicht meiner, der ist noch da – aber der alte, vergammelte ist weg. He? Muss der Zimmerservice mitgenommen haben. Schräg.
Tour des Tages: Vom Norfolk Square bei Paddington durch Pimlico nach Battersea, die Themse entlang gen Oste, dann durch Millbank und Westminster nach Mayfair und Soho. Runde 23,5 Kilometer zu Fuß.
Zurück zu Teil 1: Paddington
Weiter zu Teil 3: Camden
4 Gedanken zu „Reisetagebuch London (2): Battersea“
Ja, Battersea ist seltsam und krass. Das was dem Ort seinen Charakter gibt, ist 100 Jahre alt. Die 9 Milliarden Pfund (!), die hier investiert wurden, haben diese Gebäude immerhin wiederbelebt aber nicht so recht was hinzugefügt. Die Gebäude drumherum sind nicht besonders interessant und nehmen dem Kraftwerksgebäude total den Raum (zum Glück ist eine Seite noch nicht bebaut).
Was mich gewundert hat, wie düster es drinnen ist, gerade im der Osthalle. Hast du die auch gesehen? Düster und dunkel scheint in London jetzt mit teuer und edel verknüpft zu sein.
Der Turm ist nett, aber das Geld wirklich nicht wert. Aus dem Schornstein aufzusteigen macht schon Spaß aber zu sehen gibt es dann an anderer Stelle mehr von London. Immerhin kann man die ganze Anlage von oben sehen – inkl. trauriger Dachterassen der besonders teuren (und wohl überwiegend kaum genutzten) Maisonette-Apartments.
Schöner Bericht, die BPS steht bei mir auch noch auf der Agenda.
Was mich etwas wundert: Viele Infos zum Gebäude, aber nicht einmal ein einziges Wort zum fliegenden Schwein… Immerhin wurde das Kraftwerk dadurch tatsächlich weltberühmt. Seid ihr noch so jung? 🙂
Ja, bin ich . Also noch so jung, das Pink Floyd genau nicht mehr meins war und in meinem ganzen Jahrgang auch nur von einem Mitschüler gehört wurde. Natürlich kenne ich “The Wall” und fand das eklig (die Augenbrauen!) und später mochte ich “Division Bell”, aber richtig warm bin ich damit nie geworden – und in meinem Hinterkopf wohnen die auch nicht, deshalb keine spontanen Assoziationen…
Yeez, als die Platte rauskam war ich 4 Jahre alt, sehe ich gerade… 🙂