Reisetagebuch London (3): Camden

Reisetagebuch London (3): Camden

Montag, 10. Februar 2025
Es ist kalt.
Und nass.

Draußen regnet es, und im alten und ziemlich gammeligen Schiebefenster meines Zimmer steht das Kondenswasser. Ich schiebe es hoch und gucke auf das Edna House, ein ziemlich hässliches Gebäude im Norfolk Square.

Am Schreibtisch sitzend schreibe ich eine kleine Notiz.

“Lieber Zimmerservice, gestern habt ihr einen Duschkopf aus dem Bad entfernt. Das war der, der zu diesem Zimmer gehört, weil ich meinen eigenen mitgebracht habe. Bitte legt den wieder zurück, der nächste Gast wird ihn brauchen. Danke!”

So. Gucken wir mal, was passiert – ich möchte unter allen Umständen vermeiden, dass nach meiner Abreise, wenn ich MEINEN Duschkopf wieder mitnehme, der Eindruck entsteht, ich hätte den vom Zimmer mitgehen lassen.

Ich mache mich fertig und hoppele die 112 Stufen der Teppichversumpften Stiege hinab auf die Straße.

In der Straße war früher alles gesäumt von kleinen und billigen Hotels wie dem Belvedere. Das Belvedere ist immer noch klein, aber nicht mehr billig – die Preise haben sich in den letzten Jahren glatt verdoppelt. Aber immerhin gibt es das noch. Viel der anderen Hotels haben dicht machen müssen – vermutlich nicht zuletzt, weil die Arbeitskräfte, von den Hausmeistern über die Köchinnen bis zu den Zimmerdamen, früher aus Osteuropa kamen. Seit dem Brexit ist das vorbei, und ohne die Arbeitskräfte sterben die Häuser. Auch das “Cardiff”, ein großes und stolzes Haus, in dem ich bei meinem ersten Londonbesuch vor 10 Jahren übernachtete, gibt es nicht mehr. Das Gebäude ist verrammelt.

Einmal durch Paddington Station hindurch und dann an der Ostseite raus und vorbei am Paddington Hospital (KEINE Bärenklinik)…

…und man ist in Little Venice. Am Anfang sieht man zu Restaurants umgebaute Frachtschiffe wie die “Cheese Barge”…

…aber bald werden die Kanäle kleiner, und jetzt liegen hier schmale Kanalboote, auf denen Leute leben.

Auf einer Insel wachsen… Palmen?!


Ein Teil des Wegs am Kanal entlang ist nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Kanalbootbewohner wollen nicht gestört werden und haben hier ihre Gärten.

Ich erhasche einen Blick auf das Boot einer von mir SEHR geschätzten Journalistin. Sie ist sogar zu Hause.

Oh, eine rote Telefonzelle?

Oh, eine Manufaktur baut Elektro in Oldtimer ein. Ob das die Bude ist, wo Ewan McGregor seinen elektrischen VW-Käfer her hat?

Der Regents Park liegt grau und leer da. Nicht mal die Frühblüher haben schon die Köpfe aus der Erde gesteckt. Selbst die Enten sehen nach Winterdepression aus.

In einem bestimmt 200 Jahre alten Gartenhaus ist eine öffentliche Toilette. Hier, genau wie in die meisten anderen öffentlichen WCs, kommt man nur rein, wenn man eine Kreditkarte hat oder Google oder Apple Pay. Mit Münzen zahlt hier niemand mehr.

In der Toilette wäscht sich gerade ein Obdachloser. Ich grüße den nackten Mann, er grüßt höflich zurück und geht weiter seinen Verrichtungen nach.

Östlich des Regents Parks liegt Speedys Café. Es liegt in der North Gower Street, aber die meisten kennen es besser als Bakerstreet 221, denn das Gebäude war in der BBC-Serie “Sherlock” mit Benewatch Cumberdick der Wohnsitz von Sherlock Holmes.

Ich mag den Laden total. Einheimische geben sich mit Filmtouristen aus aller Herren Länder die Klinke in die Hand. Besitzer Chris guckt in ruhigen Zeiten Fernsehen oder sitzt an einem der Tische und telefoniert, während seine Crew den Laden schmeißt.

Ach Speedys ist teurer geworden, aber das Full English kann ich mir noch leisten.

Gestärkt vom Frühstück laufe ich nach Norden. Die Wohnviertel sind erst hässlich, dann erkennbar alt mit kaputten Fassaden. Aber dann ist zu merken, dass hier echte Menschen wohnen – etwas, das weiter südlich und in den Businessvierteln nicht der Fall zu sein scheint. Wie Löwenzahn wachsen mit einem Mal kleine Gemüseläden aus dem Boden neben den schiefen Gehwegplatten, dann weitere Geschäfte, die immer bunter werden.

Das es dem Stadtteil nicht gut geht, ist aber deutlich zu merken. Es gibt viele Anlaufstellen von NGOs (Non Governement Organisations, gemeinnützige Hilfsorganisationen) wie Oxfam oder Cancer Research.

Ja, ich nähere mich Camden Town.

Das ist auch daran zu merken, als plötzlich die Schutzheilige von Camden von einem Mural an einer Straßenecke grüßt: Amy Winehouse.

Ab hier werden die Ladengeschäfte wild. “Lost Souls Pizza” bietet Goth-Snacks an…

…es gibt Hippie- und Piercingläden…

…und die Fassaden sind aufwendig verziert. Der Drache hat sogar einen neuen Anstrich bekommen – er hat seine bunten Farben verloren und wirkt jetzt sehr gedämpft.

Über die Brücke geht es zum Camden Lock.

Hier beginnt der Camden Market, den ich so liebe. Vintage, Kitsch, Handwerk, Chinaware – alles nebeneinander in den alten Industrie und Stallgebäuden des Camden Lock.

Schon lange ist er Market nicht mehr nur alternativ. Große Marken haben hier ganze Gebäudeteile angemietet. Doc Martens verkauft unten Schuhe und bietet im ersten Stock Raum für Bands und Kleinstkonzerte, und nebenan gibt es gerade eine Capcom-Store mit Anime- und Computerzeugs.

Am Eingang der Stables stehen immer noch die großen Roboterfiguren, die den Eingang zu Cyberdog markieren, einem Rave- und BDSM-Laden.

Im Kramvollen Hier-Gibts-Alles-Flohmarktgebäude gibt es mein Lieblingsgeschäft noch: In diesem Berg aus Zeug verbirgt sich der Eingang zu einem Höhlenartigen Geschäft, das Tausende Filmfiguren anbietet, die man sonst nirgends finden kann. Präsentiert werden die auf Tischen, in Bergen und sogar von der Decke hängt die Ware herunter. In einem Berg Zeug hat die Besitzerin ein winziges Guckloch, durch das sie ab und zu hustet.

Ach ja, Camden ist toll.

Über die Hauptstraße von Camden brettern Traktoren mit Protestschildern. Kein Wunder, die sind völlig verarscht worden. Viele von ihnen haben für den Brexit gestimmt, um die heimische Landwirtschaft gegen Billigimporte zu schützen. Nach dem Brexit schloss die Tory-Regierung als erstes Freihandelsabkommen mit Australien, was dazu führte, dass der britische Markt mit saubilligem australischem Rindfleisch überschwemmt wurde – und DANN wurde den Bauern eröffnet, dass leider, leider doch kein Geld da sei um die Subventionen aus Brüssel zu substituieren. Kein Wunder, dass die britischen Farmer verhalten wütend sind.

Ich laufe wieder in Richtung Themse, aus Camden heraus, an Speedys vorbei und die Shaftesbury Ave hinunter. “Der Teufel trägt Prada” als Musical? Warum nicht.

“Harry Potter and the cursed Child” läuft auch noch in diesem, perfekt zur Wizarding World passenden, Gebäude.

Und lustige neue Anime- und Comic-Merch-Geschäfte gibt es neben dem legendären “Forbidden Planet”:

In der Bond-Street macht demnächst ein Ikea auf, aktuell verkaufen die aber nur Einkaufstaschen.

Im Traditionskaufhaus Marks & Spencer kaufe ich mir einen Pyjama. Ob ich den wohl umtauschen kann, wenn er nicht passt? “Kein Problem”, sagt die freundliche Kassenkraft. Wenig später stehe ich wieder vor ihr – im Hotel anprobiert musste ich feststellen, dass der britische Schnitt so ist, dass ich eine Nummer kleiner benötige als normal. Immerhin tausche ich nicht nur um, sondern nehme gleich noch zwei weitere Pyjamas aus glatter und gebürsteter Baumwolle mit. Im Winter ist es in meinem Schlafzimmer so kalt, da weiß ich warme Schalfanzüge und eine Nachtmütze wieder zu schätzen. Und wo gibt es bessere, klassisch karierte Pyjamas als in Großbritannien?

Einen kurzen Nachmittagsschlaf später fahre ich zum Trafalgar Square und laufe von dort aus an die Themse. Auch hier fahren hupende Traktoren durch die Gegend. Hier liegt, zwischen Charing Cross und Embankment, The Strand, und an dem das Adelphi Theatre. Schon von Weitem ist zu sehen, was dort gerade läuft:

Zurück in die Zukunft – Das Musical! Crazy! Schon das Foyer ist liebevoll eingerichtet.

Auf dem Weg zu den Toiletten sehe ich Schilder mit Zitaten aus dem Film. Witzig, ich kenne habe den Film bestimmt 50 Mal gesehen und kann ihn auf Deutsch mitsprechen, aber habe ich den je auf Englisch geguckt? Egal, mein Hirn liest die Texte, hat sofort die Szene parat und liest die in der Stimme der Darsteller:

Auch die Bar im ersten Obergeschoss ist liebevoll dekoriert:

Es gibt sogar Artwork aus der Pre-Production zu sehen.

Ich sitze, wie so oft und gerne, auf der Empore, im Dresscircle. Eine Karte kostet 135 Pfund, das sind fast 160 Euro. Sehr viel Geld. Aber auf den billigen Plätzen kann ich maximal 35 Pfund sparen, laufe dann aber Gefahr nichts sehen zu können. Und das wäre mehr als Schade, denn schon der Bühnenraum ist eine Schau:

Durch die LED-Bänder und Holo-Projektion wird später der Zeitverschiebungseffekt dargestellt. Plötzlich rast der Delorean WIRKLICH mit 140 Sachen über die Bühne, schwenkt zur Seite und verschwindet in grellen Lichtblitzen in die Vergangenheit, wo er in eine Scheune rast.

Überhaupt bleibt das Musical nahe am Film. Ganze Szenen werden 1:1 nachgestellt. Andere werden sinnvoll erweitert, wie die Peeping-Tom-Szene. Manche Charaktere tauchen nicht auf (Einstein fehlt mir schon sehr!), und manchmal wird die Handlung geändert – statt durch die Libyer, denen Doc eine “Hübsche Atombombe, randvoll mit Schrott aus alten Flippern” angedreht hat, stirbt er hier an Strahlenvergiftung, weil sein Schutzanzug nicht dicht ist (“Den habe ich noch vom Roswell-Zwischenfall, da ist das gute noch nicht von!”). Dazwischen wird immer wieder gesungen und Szenen als Musicaleinlage umgesetzt.

Die Schauspieler machen einen tollen Job, das Adelphi leider nicht. Der Zuschauerraum ist kalt, und der Sound so übersteuert, das man manchmal die Dialoge nicht versteht. Ich ärgere mich darüber nicht. Ärgern tue ich mich über Menschen mit Smartwacthes und Always-on-Displays. Die Apple-Watch hat nun extra einen Theatermodus, in dem sie nicht leuchtet oder piept – aber die Leute nutzen den nicht, und so sitzt jeder zweite da und hat einen stark leuchtenden Bildschim am Handgelenk. Als würden alle permanent mit Taschenlampen rumfummeln. Ätzend.

Als es heißt “Straßen? Wo wir hingehen brauchen wir keine… Straßen” steht mir der Mund offen, den der DeLorean hebt TATSTÄCHLICH ab, fliegt eine Runde durch den Zuschauerraum und am Dresscircle vorbei und verschwindet mit einem letzten Dreifachblitz in der Zukunft. Wow, ich LIEBE diese Mischung aus Theater- bzw. Musical und Zaubershow, die seit “Harry Potter and the Cursed Child” immer mehr Einzug hält und das Erlebnis Theater auf eine neue Stufe hebt. Als die Zgugabe verklingt bin ich mir sicher: Sowas tolle Tricks wie in “Back to the Future” werde ich so schnell nicht noch einmal sehen. Zu dem Zeitpunkt habe ich keine Ahnung, dass das Erlebnis schon morgen getoppt werden wird.

Es schüttet, und im Regen laufe ich zurück zum Trafalgar Square. Die National Gallery wird schön angestrahlt.

Mit der U-Bahn geht es zurück nach Paddington und in den Norfolk Square. Sowohl der Bahnhof als auch die Straße sind schon zur Ruhe gekommen, es ist wenig los.

Ah, der Zimmerservice hat geantwortet. Unter meiner Duschkopf-Notiz von heute morgen steht “Lieber Gast, Danke! Wir ersetzen ihn wenn sie abreisen”.

Okay, wäre das auch geklärt. Ich werde also nicht als Duschkopfdieb auf die Schwarze Liste des Belvedere kommen. Das ist gut, ich würde hier nämlich vielleicht gerne nochmal herkommen.

Tour des Tages: Regents Park, Camden, Soho, und Embankment, rund 17 Kilometer zu Fuß.

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