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Author: Silencer

Reisetagebuch (4): Sardegna!

Reisetagebuch (4): Sardegna!

Motorradherbst mit der Barocca. Heute passiert nichts – außer vielleicht Kuchen. Außerdem verliert die Pica jeglichen Kontakt, und ich entdecke China City.

Freitag, 22. September 2023, Fähre Allegra, vor der Küste Sardiniens
Die Nacht war unruhig. Die Allegra ist nach dem Ablegen durch das Unwetter vor der ligurischen Küste gefahren, und der Sturm hat selbst das große Schiff ordentlich ins Schaukeln und Rollen gebracht.

Um 07:15 Uhr kommt die Durchsage, dass man bis in einer halben Stunde die Kabinen geräumt haben solle, das Anlegen aber erst um kurz nach 09:00 Uhr und damit eine Stunde später als geplant erfolgen wird. Ich stehe an der Reling und sehe einer der knallbunten Comicfähren von Tyrrenhia zu, die sich mit der Allegra ein Rennen zu liefern scheint.

Warten. Langweilen.

Um Viertel nach Neun werden endlich die Treppen freigegeben, aber anscheinend nur für Parkdeck 3 – ich verstehe die Durchsage nicht ganz, und als ich auf Deck 4 aus dem Treppenhaus latsche, muss ich mich prompt vom Deckspersonal anranzen lassen, das ich hier noch nichts zu suchen habe. Gerade werden die Spanngurte von den Motorrädern entfernt.

Ich drücke mich im Treppenaufgang rum, bis auch Deck 4 freigegeben wird, dann gehe ich zur V-Strom. Die hat die Überfahrt gut überstanden.

Thomas, der neonfarbene GS-Fahrer, steht schon bei seinem Motorrad. “So spät?”, fragt er und grinst. Der ist viel zu gut gelaunt für so früh am Morgen. “War der erste, wurde rausgeschmissen”, grummele ich und wünsche ihm schon mal eine gute Fahrt. Er weiß nicht, dass wir an unserem Ferienort quasi eine Straße auseinander wohnen und uns mit Sicherheit wieder sehen werden.

Anna bootet hoch, das Smartphone hat auch wieder Empfang, und eine Textnachricht rollt herein: “Du kannst kommen, alles bereit”. Nun habe ich gute Laune. Die Nachricht besagt, dass ich nicht den halben Tag irgendwo abhängen muss, sondern direkt die Unterkunft anfahren kann.

Das Ausladen geht ohne Probleme. Ich kenne Porto Torres schon, und folge deshalb nicht der Menge der anderen Fahrzeuge in Richtung Ortsausgang. Die produzieren am ersten Kreisel nämlich schon veritable Staus. Nein, ich gebe Gas, folge der Hafenstraße in den Ort hinein, treibe die V-Strom dann durch ein Gewirr steiler Einbahnstraßen und bin auf diese Weise schneller aus Porto Torres raus als über die Umgehungsstraße.

Die Suzuki heizt über die Landstraße. Zumindest würde ich gerne heizen, aber alle paar Kilometer steht eine Baustellenampel. Hier wird überall Glasfaser verlegt, aber nicht am Stück, sondern längs der Straße überall gleichzeitig – und jede der Dutzenden Baustellen hat eine eigene Ampel. Immerhin: Es wird auch an jeder Baustelle gearbeitet! Breitbandausbau nimmt man hier wohl ernst – anders als in Deutschland, gerade hat mein Heimatlandkreis den Glasfaserausbau wieder eingestellt. Zu teuer.

Nach acht Ampeln bin ich endlich in dem kleinen Küstenort La Ciaccia, und die Barocca rollt auf den Parkplatz von Gli Ulivi, dem kleinen Apartmenthaus am Meer. Hier war ich im letzten Jahr schon, und hier wollte ich unbedingt wieder hin.


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Reisetagebuch (3): Schweres Wetter

Reisetagebuch (3): Schweres Wetter

Heute geht es hinein in schweres Wetter, es gibt eine Bier-Havarie, aus Versehen stoße ich auf den zweitbeliebtesten Ort Italiens und einen GS-Fahrer der…. vernünftig ist?!

Donnerstag, 21. September 2023, Veruno bei Mailand
Die Nacht ist unruhig. Im Zimmer ist es stickig und warm. Unruhig werfe ich mich in den Laken hin und her und schrappe immer haarscharf an der Grenze zum Schlaf entlang, ohne aber wirklich in ihn einsinken zu können.

Um vier Uhr halte ich es nicht mehr aus und öffne die Fenster, wohlwissend, das ich nun Mückenfutter werde. Die Nachtluft, die ins Zimmer strömt, ist auch warm, aber nicht ganz so schlimm wie im Zimmer, und langsam dämmere ich ein.

Der unruhige Halbschlaf dauert aber nicht lange, schon um sechs Uhr bin ich wieder wach, weil Flugzeuge durchs Zimmer dröhnen. Zumindest hört es sich so an. WTF? Warum sind die so laut? Klingt, als ob hinterm Haus ein Flughafen wäre.

Mit der Vermutung liege ich gar nicht mal falsch. Tatsächlich liegt Malpensa, der große Flughafen von Mailand, nur 16 Kilometer Luftlinie entfernt. Hätte nicht gedacht, dass man den so krass hört.

Ich schlurfe zum Fenster und blicke hinaus. Für heute ist Weltuntergang mit sintflutartigen Regenfällen angesagt, aber der zeigt sich noch nicht. Es ist wolkenverhangen und nieselt, aber da lugt eine fahle Sonne durch die Wolken und produziert ein gelbes Licht, was den Himmel irgendwie ungesund aussehen lässt.

Um 7:30 stehe ich wirklich auf und schlendere zum Frühstück. Ein Espresso Doppio, dann ein wenig Kuchen.

Ich eumele zurück in das Haus mit den Hotelzimmern, packe gemütlich meine Sachen zusammen, dann trage ich die Koffer zum Motorrad. Als das startbereit ist, fahre ich aber noch nicht los, sondern setze mich auf den Balkon. Es hat aufgehört zu nieseln, was ich ebenso erstaunlich wie gut finde. Das wird aber nicht so bleiben. Im Gegenteil, für die ganze Region bis runter nach Genua, wo ich heute hin muss, gibt es schwerste Unwetterwarnungen.

Starkregen, mit über die Ufer tretenden Flüssen und Erdrutschen, das ist für heute angesagt.

Anstatt mir den Tag über entspannt Pavia anzusehen, wie ich es eigentlich vor hatte, und dann gemütlich nach Genua zu dödeln, werde ich alles daran setzen, die Hafenstadt auf direktem Weg und so schnell wir möglich zu erreichen. Problem ist nur: Das dauert, wenn alles klappt, nicht besonders lang. Binnen vier Stunden kann ich da sein, die Fähre fährt aber erst heute Abend um 19:00 Uhr, ab 16:00 Uhr soll Boarding sein.

Was mache ich in der Zwischenzeit? Ich bin nicht gut im sinnlos Pause machen… Egal. Erstmal in Genua ankommen ohne weggespült zu werden. Die Wetterapp zählt für Genua allein acht Unwetterwarnungen auf. Schönen Dank auch. Nunja. Wenn ich übermorgen auf Gli Ulivi ankomme, dann habe ich es geschafft. Dann beginnt der Urlaub. Bis dahin ist Kampf.

Als gegen kurz nach Neun die Putzfrau vor der Tür steht, steige ich in den Fahreranzug. “Maximum Armor!”, denke ich, als die Lichter am linken Ärmel anfangen zu blinken. Der Weg heute wird keine einfache Fahrt, und irgendwie ist es beruhigend zu wissen, dass mich im Fall der Fälle diese Kleidung aktiv schützen wird.

Dann lege lege ich sorgfältig die Regenkombi an, gehe dann bereits bepackten Motorrad, wringe mich in die dicken Handschuhe und sage zur Barocca: Wir haben schon Schlimmeres überstanden”, und dieses Mal meine ich das auch so. Nach dem Starkregen in den Bergen im vergangenen Jahr kann uns nix mehr.

Es geht los, über kleine Straßen und vorbei an endlosen Reisfeldern. Noch regnet es nicht, aber jeden Moment muss es los gehen. Der Himmel ist grau, bestimmt beginnt gleich das angekündigte Unwetter.

Über die Po-Ebene zufahren ist jetzt schon end-langweilig, und dabei bin ich noch gar nicht richtig darauf. Das hier ist noch Alpen-Vorland, aber schon sehr, sehr platt. Im italienischen heißt das Ding hier übrigens Pianura Padana, was zwar exakt das selbe bedeutet, aber definitiv besser klingt als “Po-Ebene”

Schell erreiche ich Novara, eine Trabantenstadt auf der Höhe von Mailand. Die lässt sich gut umfahren, und danach wird es richtig langweilig. Felder, so weit das Auge reicht. Ab und an führt die Strada Statale durch kleine Dörfer, die immer gleich aussehen: Ein paar Wohnhäuser, ein Alimentari, ein Café mit Tabaccheria, ein Reifenhändler, dann wieder Felder, Felder, Felder und eine Straße, die schnurgerade bis zum Horizont führt.

Ich kann praktisch spüren, wie die Reifen der V-Strom immer platter gefahren werden. Aber vielleicht sollte ich das hier genießen, denn gleich wird es ja Unwetter geben.

Also, bestimmt gibt es gleich Unwetter. Der Himmel sieht zwar aus, als wäre er blau, aber das ist bestimmt nur eine Finte, um mich in Sicherheit zu wiegen. Ich gare in meiner Regenkombi und den dicken Handschuhen vor mich hin. Es ist warm, und vereinzelt kommt sogar die Sonne raus. Gleich geht es los mit dem Regen, ganz sicher.

Felder. Dorf. Tabaccheria, Reifenhändler, Felder.

Mehr Felder.

Dorf. Reifenhändler, Wohnhäuser, Tabaccheria, Felder.

Felder, Trecker überholen, (das ist zumindest ein wenig Abwechselung) Dorf, Reifenhändler.
😴

Mittlerweile sengt die Sonne vom Himmel, und ich komme mir vor wie eine Folienkartoffel. Ich habe gerade mal die Hälfte der einhundert Kilometer über die Po-Ebene geschafft, als ich es nicht mehr aushalte. Regen hin oder her: Aktuell bin ich klatschnass von innen, weil ich mich totschwitze!

Im nächsten Dorf halte ich an, reiße mir die Regenkombi vom Leib und trinke gierig eine halbe Flasche Wasser.

Dann wechsele ich die dicken, regenfesten Handschuhe gegen die ungefütterten Sommerhandschuhe, und mit offenen Lüftungsklappen an der Motorradkombi geht es weiter. Aaaaaah, tut der Fahrtwind gut!

Dann wechsele ich die dicken, regenfesten Handschuhe gegen die ungefütterten Sommerhandschuhe, und mit offenen Lüftungsklappen an der Motorradkombi geht es weiter. Aaaaaah, tut der Fahrtwind gut!

Das Piemont wird zur Emilia Romagna, und es geht auf die Berge des Appenin zu, an deren Fuß die Po-Ebene endet. Genau an diesem Übergang liegt der Ort Nova Liguria, und hier nehme ich die Gelegenheit war, und steuere einen LÜDL an. Ins Einkaufskörbchen wandert ein Stück frische Pizza und ein Salat-Sandwich sowie ein Feierabendbier, das ich mir heute sicher noch verdienen werde.

Als das Motorrad gerade vom Parkplatz des Supermarkts rollt, fallen erste Tropfen. Die Vorboten des Unwetters, jetzt wirklich, zweifellos. Der Himmel ist jetzt nicht mehr blau, sondern dunkelgrau. Gleich beginnt es. Ich finde eine stillgelegte Tankstelle, unter deren Vordach ich die Regenkombi wieder anlege. Hm, eigentlich könnte ich auch gleich den Übernachtungsrucksack packen und PFFFFFFFFH

Hä? Was macht hier “PFFFFFH”? Es ist ein Zischgeräusch, als wenn irgend etwas unter Druck entweicht.

Ich horche am Motorrad, aber das macht nicht Pfffffh. Das Geräusch kommt aber aus meiner unmittelbaren Nähe. Ich lausche an den Reifen, dann an den Koffern, und dann an dem Einkaufsbeutel aus Ultrasil, den ich gerade in der Hand halte. IEEH! Da kommt das her!

Anscheinend hat die Bierdose, wie auch immer das passiert ist, ein Loch bekommen, und da zischt der Inhalt raus. Angewidert schütte ich den Inhalt des Beutels in eine Mülltonne. Goodbye, Feierabendbier, Good Bye, Abendessen.

Den nassen Einkaufsbeutel will ich nicht einfach wegwerfen, der war teuer. Ich stecke ihn in einen Müllsack. So, und wohin damit? Wenn ich das Ding in einen der Seitenkoffer stecke, dann geht der Biergestank sicher nie wieder aus dem Gepäck. Na, dann fährt der halt außerhalb mit! Ich binde den Bierbeutel oben auf der Satteltasche fest, da kann er stinken, wie er will!

Mit leicht schlechter Laune und Biergeruch in der Nase fahre ich weiter und bemerke kaum, dass die Straße entlang mehrerer Kreisel durch ein ganz seltsames Gebiet führt. Links und rechts befinden sich unglaublich riesige Parkplätze, auf einer Fläche, groß wie ein Stadtteil.

Mittendrin stehen Gebäude, die entfernt mediterran und gleichzeitig unglaublich fake aussehen. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht mitbekomme und auch nicht weiß: Das hier ist die zweit-meistbesuchte Attraktion Italiens, gleich nach dem Kolosseum in Rom. Und die liegt zwischen Nova Liguria, das mit 28.000 Einwohnern kaum mehr als ein Dorf ist, und den Bergen des Appenin, wo praktisch sofort nichts ist. Wer jetzt sagt: Hä? – ja, so habe ich auch geguckt.

Das hier ist das Serravalle Designer-Outlet. Über 250 Luxusmarken und Fashion-Brands haben hier Outlet Stores, vom Prada-Täschchen bis zum Gucci-Düftchen bekommt man hier alles, was unnütz und sehr, sehr teuer ist, nur billiger.

Nun ist es nicht ungewöhnlich, dass in Italien Luxusmarken in großen Einkaufszentren zusammengefasst werden, aber sinnvollerweise liegen die in der Nähe von vielbefahrenen Straßen oder großer Städte. Am Brenner ist so ein Outlet, oder in den Bergen hinter Florenz. Aber hier?

Stellt sich raus: Hier, diese Stelle im Nirgendwo, war wohl extrem billiges Bauland, was dazu geführt hat, dass die Investment-Firma MacArthur-Group hier 1999 angefangen hat zu bauen. Dann wurde das Ganze vermarktet als “Luxus-Outlet, das sowohl von Mailand als auch von Genua in 40 Minuten erreichbar ist” was eine glatte Lüge ist, von Mailand braucht man eineinhalb bis zwei Stunden, von Genua mindestens eine Stunde, aber damals gab es noch kein Google Maps, und so sammelten sich die Luxusmarken hier an. Zeitweise war sogar Ferrari vertreten, bis ihnen aufging, dass das nicht wirklich Sinn ergibt – um einen Ferrari zu kaufen, muss man ECHT reich sein, nicht nur so tun.

Wie auch immer, das Konzept funktioniert seit über zwanzig Jahren. Auf der Liste der meistbesuchten Orte in Italien steht auf Platz 1 das Kolosseum mit sieben Millionen Besuchern pro Jahr, Platz 2 ist dieses Ding hier, Serravalle, mit fünf Millionen. Unter den Top 10 finden sich auf Platz 6 noch die Ausgrabungen von Pompeji und auf Platz 10 die Uffizien in Florenz, alle anderen Plätze werden von Designer-Outlets belegt. Im Rennen um die Besuchergunst muss sich die Kultur dem Kommerz geschlagen geben, auch in Italien.

Während der schönsten Kurven setzt der Regen noch einmal eins drauf, und jetzt ist es wirklich Starkregen. Den spüre ich sogar durch die Schichten aus Regenkombi und Fahreranzug, er trommelt auf den Helm und schiebt sich durch die Visierdichtungen. Ich spüre regelrecht die Last des Wassers auf meinen Schultern, es ist, als wenn ich durch einen Wasserfall kreuze. “Heavy Rain”, denke ich, und drücke den kleinen Folientaster am Lenker bis zum Anschlag und drehe damit die Pumpe des Ölsystems hoch. Die Kette der V-Strom wird ja auch gerade im Regen geduscht, und um sie zu schützen, bekommt sie mehr Öl.

Grimmig fahre ich immer weiter. Jetzt ist es richtig anstrengend, das Motorrad durch die Kurven zu bewegen, denn die werden an vielen Stellen regelrecht von kleinen Bächen und Schlamm überspült. Zum Glück dauert dieser Spuk nur 20 Minuten, dann geht die Intensität wieder zurück auf normalen Regen.

Ich komme in einen Ort mit hohen Stadthäusern, die in beige gestrichen sind und grüne Fensterrahmen haben. Auch ohne auf Annas Display zu schauen, weiß ich, wo ich bin, denn diese spezielle Architektur und Farbgebung würde ich überall erkennen. Ich bin in Genua, oder zumindest in einem Vorort davon.

Zehn Kilometer sind es nun noch bis zum Hafen. Die Straße führt durch ein dicht bebautes Tal, das sich nach und nach weitet uniforme Wohnblöcke und hässliche Industriegebiete ziehen sich an den Hängen entlang. Ja, das ist Genua!

Als ich unter der neuen Brücke hindurchfahre, die die eingestürzte ersetzt, wird der Regen ohne Vorwarnung wieder heftiger, und ein Sturm setzt ein. Wolken ziehen so tief und schnell über die Stadt, dass im Nu die Gebäude am Talrand nicht mehr zu sehen sind. Äste und Blätter werden über die Straße gewirbelt, und die Barocca wird ordentlich durchgeschüttelt. Um die Maschine aufrecht zu halten, muss ich mich teils richtig aus dem Sattel lehnen. Am Schlimmsten ist es an den zahlreichen roten Ampeln. Ich muss die Beine steif machen, um das Motorrad im Stand stützen zu können. Halt durch, wir sind fast da, raune ich dem Motorrad durch zusammengebissene Zähne zu.

“Fast da” ist aber noch nicht ganz da, und wer Genua kennt weiß, dass das hier eine sehr vertikale Stadt ist – Straßen verlaufen in Tunnels oder unter oder über Brücken, vielspurig, als hätte sie jemand verknotet. Aber mit Annas Hilfe bekomme ich das hin, steuere die V-Strom über Hochstraßen und darunter durch und Rampen hinab in Tunnels.

…und dann bin ich tatsächlich im Passagierhafen! Ich habe es geschafft! Ich habe auf Anhieb die Einfahrt gefunden. Das war es jetzt? Das war doch viel zu einfach! Langsam rollt die V-Strom auf das Hafentor zu. Boah, wir sind in Sicherheit! Ich kann es kaum glauben! Wir haben dem schweren Wetter ein Schnippchen geschlagen und quasi problemlos und sofort ans Ziel gekommen! GESCHAFFT!

“EY! Sollen ditte?”, ruft plötzlich ein Wachmann. Er trägt einen Regenponcho und eine Langwaffe, und natürlich ruft er auf italienisch, aber der genueser Zungenschlag ist so hart und knapp wie Berlinerisch im Deutschen. Und die Menschen hier sind ähnlich spröde drauf wie in der deutschen Hauptstadt.

“Ich will zu einer Fähre”, sage ich. “Zufahrt erst ab 15 Uhr, wa”, sagt der Sicherheitsmann. “Es regnet in Strömen, kann ich wenigstens hier vor dem Tor warten?”, frage ich. Jetzt wieder raus in das Stadtgewühl, bei dem Wetter, das wäre Höchststrafe.

“Nix. Dit is ne Zufahrt, da könn´se nicht parken. Da könnt ja jeder kommen”, entgegnet der Wachmann schroff und verhängt damit besagte Höchststrafe. “Sie drehen jetzt da vorne um und dann sehn´se zu, dass Land jewinnen. Nach 15 Uhr könn´se wiederkommen.”

Ich sehe auf die Uhr. Das sind noch eineinhalb Stunden. Fuck.

Mir bleibt nichts anderes übrig als das Motorrad zu wenden (was mir noch erbostes Rufen einer Hafenwächterin einbringt, weil sie denkt, ich wollte an der Absperrung vorbeifahren) und durch den Hafentunnel wieder in die Stadt zu steuern.

Unter der Hochstraße, der Sopraelevata, gibt es kilometerlang Zweiradparkplätze – und alle, ALLE sind dicht an dicht mit Motorrollern belegt. Wundert mich nicht, in Genua gibt es nur rudimentären ÖPNV, bevorzugtes Fortbewegungsmittel durch alle Alters- und Berufsgruppen sind die Motorroller.

Die Barocca schwimmt im dichten Stadtverkehr mit. Ich fahre in Richtung des neuen Hafens, dort kenne ich eine versteckt gelegene Parkmöglichkeit. Dooferweise finde ich aber auf die letzten Meter die Zufahrt dahin nicht, und muss wohl oder übel weiter die Schnellstraße in Richtung des Vororts Boccadasse entlangfahren. Irgendwann biege ich in ein Wohnviertel ab, aber auch hier: Keine Parkplätze. In Genua ist jeder Quadratmeter zugebaut, zugestellt oder zugeparkt.

Dann, endlich, als ich fast schon wieder aus der Stadt bin, finde ich einen ausgewiesen Zweiradparkplatz mit genug Raum, um die breite V-Strom abstellen zu können. Himmel sei Dank!

Gegenüber des farbenprächtigen Corso Italia, dem berühmten Fußweg am Meer entlang, parke ich die Maschine und steige ab.

Es hat aufgehört zu regnen, vorerst, und ich steige aus der Regenhose. Eine Stunde verdödele ich Zeit, dann mache ich mich an den Rückweg – und prompt fängt es wieder an zu regnen. “Egal”, denke ich mir – wenn alles glatt geht, bin ich in 10 Minuten wieder am Hafen, für den kurzen Schauer brauche ich keine Regensachen anziehen.


Es geht natürlich nicht alles glatt. Eigentlich müsste ich nur auf die Schnellstraße fahren und der bis zum Hafen folgen, aber dooferweise ist die Schnellstraße gerade dicht – wegen Klimademonstrationen. Und nun?

Die V-Strom schwimmt in einem Schwarm aus Motorrollern mit und biegt in ein Wohnviertel ab, in dem nach wenigen hundert Metern allerdings nichts mehr geht. Alle Querstraßen münden auf die bestreikte Hauptstraße ein, und der stehende Querverkehr blockiert die Nebenstraßen, durch die ich gerade komme.

Als ob das nicht reicht, dreht unvermittelt der Regen wieder auf “Urwaldusche”. So sitze ich hier, mitten im Wohnviertel, im Stau, unter mir wird das Motorrad immer heißer und gleichzeitig fühle ich, wie die Hose meines Anzugs immer weiter durchnässt. Klar, die hat zwar eine Regenmembran im Inneren, aber kalt und klamm und nass wird die Außenschicht trotzdem.

Irgendwann nutze ich jede Lücke im Querverkehr um weiter zu kommen, schlängele mich an Autos vorbei und fahre an einer Stelle sogar unter einem Baugerüst auf dem Bürgersteig hindurch. Mit einem Motorroller geht sowas natürlich einfacher als mit der Barocca, deren barockes Hinterteil fast 1,5 Meter breit ist.

Hinter der Demo komme ich wieder auf die Hauptstraße, und nun sind es wirklich nur noch zehn Minuten durch das Gewirr der Tunnels und Brücken von Genua.

Mir fällt ein Motorradfahrer in Neonklamotten auf, der sich an mein Heck gehängt hat. Will wohl auch zum Hafen. Eine letzte Rampe, dann noch durch einen Tunnel, hier an der Ampel links, dann nach rechts und …Ha, ich habe die Zufahrt zum Hafen wiedergefunden! Ein Gefühl des Triumphs und der Erleichterung durchströmt mich, als ich die V-Strom am Straßenrand stoppe und meine Papiere aus der Innentasche der Regenjacke sortiere.

In dem Moment hält der Neonfarbene neben mir und fragt auf Deutsch, aber mit heftiger, österreichischer Färbung, ob ich wohl auch auf ein Schiff wolle. Ich nicke. Und auf welches?

“Die Allegra von Grande Navi Veloce”, antworte ich. “Ich bin auch GNV! Also mich haben die drei Mal umgebucht, da schaun´s! Ich war erst auf der “Allegra” und dann auf der “Excelsior” und jetzt haben sie mich auf die “Rhapsody” gebucht.”

Der Motorradfahrer wurschtelt mit drei Tickets herum und hält mir die unter die Nase. Ich würdige die keines Blicks. “Wann haben sie denn gebucht?” “Ah gehn´s… im Mai?”, sagt der Gelbe. “Seltsam. Ich habe im vergangenen Januar gebucht und habe nicht eine Änderung erfahren”, sage ich, und schaue nun doch mal auf die Tickets. Die Abfahrtszeit seiner “Rhapsody” heute ist die selbe wie die meiner “Allegra”. Fährt am Ende mein Schiff heute gar nicht? Nein, das kann nicht sein. Keine Ahnung, was bei dem Mann schief gelaufen ist, ich bin sicher, dass bei mir alles stimmt. “Viel Erfolg beim Schiff finden”, sage ich und starte den Motor.

Vom bewaffneten Wachmann ist nichts mehr zu sehen, und nach einer Runde durch einen Kreisel geht es in eine Unterführung. An einem Häusschen bekomme ich eine Boardingkarte für mein Ticket, und der Reedereiangestellt bappt einen Sticker mit dem Zielhafen auf den Außenspiegel der Barocca. Ob der wohl hält, auf dem regennassen Kunststoff?

Weiter gehts, in das Gewirr des Verladehafens hinein, vorbei an Absperrungen, Containern und Zäunen. Als ich nicht mehr weiter weiß, fährt ein weißer Transporter mit Hafenarbeitern an mir vorbei, hupt und bedeutet mir zu folgen.

Ich tue wie mir geheißen und stelle die V-Strom vor einer Absperrung ab. Die dahinterliegende Anlegestelle ist leer. Aber ein Dock weiter liegt eine GNV-Fähre die das Handy als “Allegra” identifiziert.

Ich gehe zu dem afrikanischen Hafenarbeiter, der mich gerade hier hergewunken hat, und frage, ob ich hier richtig bin. Er lacht und sagt nur “Sure, my Friend”. “Wirklich? 19:00 Uhr? Porto Torres?”, frage ich nochmal “Sure, my friend” kommt es wieder wie aus der Pistole geschossen. Ich glaub, der hört gar nicht zu. Ich wechsele von italienisch, was wir offensichtlich beide nicht gut können, ins englische. “Nee ernsthaft, hier, gucken sie mal”, sage ich und halte mein Ticket hin. Endlich wirft der Arbeiter einen Blick darauf, liest und nickt dann. “Ok,sorry, my friend”, sage ich. “Ich bin nicht so oft in Häfen”.

Was fast stimmt. Ich bin nicht so oft in Häfen wie Hafenarbeiter, und tatsächlich bin ich 2021 das allererste Mal mit dem Motorrad auf einer Fähre gewesen. Und 2022 dann schon vier Mal. Und dieses Jahr sechs Mal. Obwohl ich jedes Mal nervös bin, habe ich wohl irgendwie Gefallen daran gefunden. Die Barocca nicht. Die hasst Fährüberfahrten.

Die Barocca steht ganz vorne, in der Poleposition. Dahinter hält jetzt der Neonösterreicher, anscheinend hat man ihn doch auf die Allegra verfrachtet.

Es beginnt wieder stärker zu regnen, aber zum Glück brauche ich den gestern für diesen Zeitpunkt gekauften Regenschirm nicht – am Rand der Wartereihen stehen ein paar alte Pavillionzelte, die den Regen abhalten. Theroretisch kan man auch ins Terminalgebäde gehen, aber da gibt es keine Sitzgelegenheiten, es riecht schon am Eingang komisch und von den Hock-Toiletten fange ich besser gar nicht erst an.

Der Neonmann stellt sich neben mich und beginnt ein Gespräch. Thomas ist aus der Steiermark. Er fährt eine GS mit dem Spitznamen Optimus Prime, weil sie wie ein Transformer aussieht, haha, und spricht schnell und leise, mit starkem Österreichischem Einschlag, so dass ich nicht immer alles verstehe.

Bis hier her sei an einem Tag gefahren, 900 km. Respekt, sage ich.

Ob ich allein unterwegs sei? Ja, weil ich Gruppenfahrten nicht mag. “Geht doch nichts über Gruppendisziplin. Man muss schon ordentlich fahren! Die Schwächsten vorne, die Könner hinten!” Ich gucke erstaunt. Das klingt alles sehr vernünftig, aber ich bleibe misstrauisch. Immerhin ist er ein GS-Fahrer. Gibt es GS-Fahrer, die vernünftig im Kopf sind?

Er zeigt gerne Dinge auf seinem Handy. Hier, Bilder von Lost Places, da, Bilder seiner Tochter, hier Bilder von seinem Motorrad. “Für dieses Bild musste ich eine Treppe hochfahren, deshalb stinkt jetzt die Kupplung, aber das Bild war es wert”. Aha. OK, vielleicht ist er manchmal vernünftig und manchmal hakt es einfach aus? Wer ist so schräg und fährt Treppen hoch um ein Fotos seines Motorrads zu machen?

“Ich besuch übrigens Leute auf der Insel. Wir sind acht Kumpels und machen das immer, einer will da auch ein Haus kaufen nur dafür wir ein, zweimal im Jahr da hinfahren können, aber naja der braucht jetzt erst mal noch ein neues Motorrad”, sagt Thomas erzählt dann, dass der Kumpel bei eine m Ausritt ein Rennen mit einem anderen Kumpel gefahren sei und sich dann in eine Leitplanke gewickelt hätte.

Aber das gehöre ja dazu, irgendwo, ihn selbst habe ein Kumpel bei der Gruppenausfahrt am Hinterrad erwischt und dann habe er, Thomas den Abflug gemacht, aber sie hätten seiner Frau nichts von seinen gebrochenen Rippen erzählt und der Kumpel hätte sein Motorrad anstandslos repariert. Er zählt noch ein wenig weiter auf, wer von der Bande sich wo in Europa schon kaputtgefahren hat. Scheint normal zu sein bei der Truppe, dass mindestens einer der Komiker einen Abflug macht und im Krankenhaus landet. Vermutlich ist es sonst kein gelungener Urlaub. In Gedanken verabschiede ich mich von der Vorstellung, dass es vielleicht doch irgendwo vernünftige GS-Fahrer gibt.

“Ah hier wohnen mir übrigens”, sagt er und wischt auf seinem Handy rum und ich stöhne innerlich auf. Ich sage es in dem Moment nicht, aber er wird auf Sardinien nur 300 Meter von mir entfernt wohnen. In dem kleinen Dorf werde ich der GS-Truppe unweigerlich über den Weg laufen. Warum nur?! Warum??

Gegen 17:30 Uhr beginnt endlich, endlich das Boarding. Ich schwinge mich in den Sattel der regennassen Barocca. Sie darf als Allererste aufs Schiff. Vorsichtig und gerade fahre ich auf die Rampe zu. Die metallene Oberfläche ist nass und sehr glatt.

Die Deckcrew steht nebeneinander am oberen Ende der Rampe. Wie Feldherren stehen sie breitbeinig im Eingang zum Schiffsbug und schauen mir zu. Ich setze zum Einfahren an und gebe konstant Gas, um langsam, zügig und ohne Lenkbewegung die glatte Metallfläche hochzufahren. Die Crewmen machen Platz und ich visiere die Lücke in ihrer Gruppe an, aber als ich fast oben und im Schiffsrumpf bin, setzt sich unvermittelt ein Arbeiter in gelber Warnweste in Bewegung und latscht direkt in meinem Weg. Er ist zwei Meter vor mir, und ich muss eine Vollbremsung machen, um ihn nicht zu erwischen.

Der Typ glotzt mich dullig an, anscheinend hat er mich vorher nicht mal bemerkt. Ein Deckoffizier zieht ihn aus dem Weg, ich gebe Gas und fahre wieder an. Weiter vorn winkt schon ein Arbeiter, dass ich ihm folgen soll. “EY!STOPP!!” brüllt plötzlich jemand, und ein anderer Arbeiter stürmt auf mich zu und schreit wütend “Stopp! Biglietto!” und überzieht mich mit einer Tirade wirklich sehr blumiger und origineller Flüche.

Bei der Verladung der erste zu sein ist immer ein Fluch… alle hinter mir wissen nun wie es läuft. Ich musste es auf die harte Tour herausfinden.

Der Arbeiter vorne ruft “Vai! Vai!”, fahr zu, und das tue ich und fahre wieder an, als ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung sehe und sofort wieder die Bremse ziehe. Ich merke, wie das Vorderrad wegrutscht, und auch meine Füße finden auf dem glatten Deck keinen Halt. Zum Glück rutscht die Maschine nur für einen Sekundenbruchteil, dann greift der Reifen wieder und die V-Strom steht. Gut so, denn die Bewegung im Augenwinkel ist ein Fiat Punto, der sich irgendwie zwischen die Motorradschlange gemogelt hat und dachte, der Arbeiter, der mich einweist, würde ihm bedeuten zu fahren.

Die Crew wacht nun so langsam auf, verteilt sich besser auf dem Deck und separiert das Auto von den Motorrädern. Es geht eine Rampe hinauf in ein höheres Deck. Das ist zum Glück kein Problem, hier sind Gummimatten ausgelegt. Dann geht es einmal um das ganze Deck herum, bis ich in eine Parkposition zwischen zwei Spanten eingewiesen werde. Beim Absetzen auf den Seitenständer schlägt ein Koffer an, aber mit etwas manövrieren geht es dann doch.

Die Stelle ist eigentlich sehr gut, Problem ist aber: Die V-Strom ist so lang, dass sie von Spante zu Spante reicht, und ich nicht mehr herauskomme aus der Nische dazwischen. also nach rechts absteigen, was bedeutet das linke Bein über den Sattel zu ziehen – was nur geht, wenn recht genug Platz ist. Dort steht aber schon eine Honda eines Schnauzbartträgers. Gut, das ich noch gelenkig bin.

Die Kabine ist recht groß, aber frugal – es gibt nicht mal einen Stuhl. Egal. Ich sterbe vor Hunger, und da der Bier-Incident mein frisches Abendessen vernichtet hat, gibt es jetzt halt ein EPA von zuhause.

Später gehe ich auf´s Oberdeck. Es regnet nicht mehr, und so kann ich dem Treiben im Hafen zusehen. LKW rollen über das Gelände, ein paar Rumänen versuchen mittels eines Lastwagens die verrutschte Ladung eines anderen wieder zurecht zu drücken, Versorgungsfahrzeuge flitzen zwischen den Fähren hin und her.

Thomas schleicht sich an und erzählt im Nuschelton irgendwelche Dinge, dann zeigt er mir einen Chat mit seinen GS-Kumpels. Einer davon hat schon seine Maschine zerlegt und liegt mit vier gebrochenen Rippen im Krankenhaus. “Aber das macht ja einen gelungenen Urlaub erst aus, gell?”
GS-Fahrer, ey.

Ich schaue auf Genua hinaus. Der Leuchtturm steht stolz am Rand des Containerhafens, und die großen Gebäude der Stadtverwaltung sind ganz nahe.

Dann senkt sich die Nacht über die Stadt, und langsam gehen in den Wohnvierteln die Lichter an.

Schließlich legt die Allegra ab, und der neue Hafen gleitet am Schiff vorbei. “La Superba”, “die Herrliche”, wird Genua auch genannt, und ich weiß, warum.

Gott, ich liebe diese Stadt.

Tour des Tages: Von Veruno bei Mailand nach Genua, rund 200 Kilometer, ca. 4 Stunden.

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Reisetagebuch (2): Frei, endlich frei!

Reisetagebuch (2): Frei, endlich frei!

Motorradherbst mit der Barocca. Heute auf den Spuren Sean Connerys.
Mittwoch, 20. September 2023, in der Nähe von Thun, Schweiz

Ich werde wach, als sich die Sonne über die Berge schiebt. Die V-Strom auf ihrem Parkplatz am Hang zeichnet sich gegen das noch schattige Tal ab, während die gegenüberliegende Bergkette in goldenes Licht getaucht wird.

Das ist so schön, dass ich mich anziehe und dann erst einmal einen Rundgang um den Gasthof mache, um die Landschaft zu fotografieren. Meine Güte, was für ein Panorama!

Heute ist kein Ruhetag, und der junge Gastwirt trägt ein wunderbares Frühstück in die Gaststube. Hausgemachte Konfitüre und Honig, großartig!

Danach mache ich mich fertig und bestücke das Motorrad. Es sind nur 10 Grad, aber die Sonne wird dafür sorgen, dass es bald wärmer wird. Die Barocca ist ganz nass vom Morgentau, aber dafür habe ich das kleine Handtuch im Topcase.

Nachdem der Sattel trockengeledert und die Anzeigen wieder ablesbar sind, kommt das Handtuch in der kleine Haltenetz auf der Satteltasche. Ein wenig Fahrtwind, und das “Handtuch”, eigentlich ein hauchdünner Mikrofaserfetzen, wird wieder trocken sein.

Hinunter geht es vom Berg und dann im Tal bis zum Thunder See. Ich muss zu seinem Westende, und bis dahin ist es eigentlich ein Katzensprung, wenn man gegen den Uhrzeigersinn ca. ein Viertel um den See herumfährt. Was leider nur über die Autobahn geht. Für die ich immer noch keine Plakette habe.

Also in die andere Richtung, nach Thun hinein und mittendurch. Sogar über die Brücken in der Innenstadt geht es. Aber das ist okay, der Verkehr ist nicht dicht und fließt, und Thun ist hybsch.

Wieder aus der Stadt raus, geht es am Thunder See entlang, und hier stoppe ich das Motorrad bei der ersten Gelegenheit und bewundere wieder die Landschaft.

Es braucht einen Moment, bis ich mich wieder losreißen kann.

Überall an den Straßen stehen Wahlplakate mit markigen Slogans. Alle wollen etwas “Auf Kurs halten” oder “Anpacken”. Es tut mir ja wirklich leid, dass ich dabei sofort an negative und stramm rechte Politik denke. Das hat die Schweiz nämlich geschafft: Mein Bild von ihr so nachhaltig zu schädigen, das ich automatisch immer denke, es geht dabei gegen vermeintliche Gefahren durch Auslander als Ausrede für repressive und nationalistische Politik. Ebenfalls komisch an den Wahlplakaten: Ich kann Politiker mit Namen wie “Ueli Gfell” nicht ernst nehmen. Aber gut, ich habe mit Schweizer Ausdrücken eh ein Problem. Ich könnte es auch nicht ernst nehmen, wenn jemand zu mir sagte “Mit Ihrem Töff können sie hier nicht parkieren”, da würde ich einen Lachanfall bekommen.

Am Westende des Thunder Sees liegt die Stadt Interlaken, und ich bin erstaunt, wie klein die ist und wie schnell ich da durch bin. Dann wieder ein See, dieses Mal der Brienzer, und an dessen Südufer sehe ich schon die mächtigen Berge aufragen, in die die V-Strom wenig später über ein tief eingeschnittenes Tal hineinfährt.

An dessen Ende beginnt die Straße sich in Kurven die Bergflanken hinaufzuwinden, nicht ohne fantastische Ausblicke auf die steinernen Berggipfel zu erlauben.

Die Baumgrenze bleibt zurück, und jetzt fährt das Motorrad in einer Welt aus Stein und gelblichen Gras durch ein grandioses Alpenpanorama. Der Höhenmesser klettert binnen 30 Minuten von 600 Metern, dem Niveau des Tals, auf 2.400 Meter, als die V-Strom den Sustenpass überfährt. Hier oben müssten Gletscher sein, aber davon ist nichts zu sehen.

Zu sehen sind Wasserfälle, die im Sonnenlicht funkeln.

Motorradfahrer gibt es hier oben auc, viele davon, obwohl es unter der Woche ist. Nur wenige fahren wirklich gut. Ich beschließe vorsichtig zu sein, und gerade, als ich den Entschluss gefasst habe, sehr defensiv zu fahren, kommt mir schon die nächste Gruppe Moppeds entgegen, die Köpfe und Oberkörper auf meiner Fahrspur.

Immer tiefer geht es in die Berge hinein, und plötzlich sind nicht mehr die Motorradfahrer die gefährlichsten Verkehrsteilnehmer, sondern die flachen Supersportwagen, die ihre Besitzer (und ja, es sind ausnahmslos Männer) hier um die Kurven scheuchen und ein ums andere Mal auch mich und das Motorrad bedrängen oder an Stellen überholen, die nicht einsehbar sind. Die Alpen als Spielplatz und Freizeitpark für Egoisten.

Ich muss mir wirklich Mühe geben, um mich von dem Gedanken los zu reißen und mich wieder für die Schönheit der Landschaft zu öffnen.

Ich kurve einmal im Tal um das Massiv der Gössneralp herum. Das fühlt sich hier an wie ein Tal, liegt aber auch schon auf 1.500 Metern. Genau im Süden des Massivs geht es dann wieder in Serpentinen den Berg hinauf, und hier beginnt es zu regnen. Ich halte an einer kleinen Aussichtstelle, an der ein Schild steht. Was steht da drauf? “Nett hier, aber waren Sie schon mal in Baden-Würtemmberg” – diese Scheißaufkleber sind auch wirklich überall. Nein, das meine ich aber nicht. Was steht da oben? James Bond Street?

Tatsächlich. Aber warum? Wieso steht das hier? Ich blicke ins Tal hinunter und versuche mich zu erinnern, ob ich diese grüne Idylle in irgend einem Bondfilm schon einmal gesehen habe, aber mir fällt keiner ein.

Zum Glück steht ein wenig weiter ein Schild, und plötzlich wird mir klar, warum ich das hier nicht erkannt habe: Hier wurde “Goldfinger” gedreht, und der war noch in Schwarz-Weiß – zumindest in meiner Erinnerung. Any, hier hat Sean Connery den Gert Fröbe verfolgt, der als Auric Goldfinger einen goldenen Rolly Royce in die Schweiz schmuggelte.

Auf der Straße, über die ich gerade gefahren bin, hat Bond mit seinem silbernen Aston Martin DB5 dem Ford von Tilly Masterson die Reifen aufgeschlitzt.

Ts, das ist ja was. Wer hätte gedacht, dass ich hier auf sowas stoße, nur weil ich… was wollte ich nochmal? Ach ja, die Regenkombi. Ich ziehe die Regenkombi über. Hätte sich eh angeboten, es wird langsam arg kühl hier oben.

Über die Bond-Serpentinen klettert das Motorrad immer höher den Berg hinauf. Eine nette Begegnung sind die Rindviecher hier. Warum der Motorradfahrer allerdings hier nicht weiterfährt, weiß ich nicht. Er setzt sich auch nicht in Bewegung, als die Straße bis auf zwei Rinder wieder frei ist, und so überhole ich im Schrittempo… nur, um ihn wenige Minuten später wütend hupend wieder im Rückspiegel zu haben. Habe ich ein ungeschriebenes Schweizer Gesetz verletzt oder sowas?

Egal. Ich rege mich nicht auf, und das auf der nächsten Passhöhe wieder Dutzende Motorradfahrer stehen und sich in Siegerposen vor dem Alpenpanorama fotografieren, als hätten sie gerade eine besondere Heldentat vollbracht, ignoriere ich ebenfalls. Hier hochzukommen, das ist mit einem Motorrad nun echt keine Leistung. Die Straße ist perfekt ausgebaut und sowohl Kurven als auch Steigung sind handzahm, man muss praktisch nichts tun, um hier hochzurutschen.

Immerhin, das Panorama ist toll. Man sieht die Abfahrt des Furka-Passes, und im Hintergrund auch den Grimselpass.

Ich mache kurz ein Bild, dann fahre ich weiter. Die PAsshöhe interessiert mich nicht sonderlich, aber ein Stückchen weiter, da liegt… AH! Da ist es schon! Das Hotel “Belvedere” ist ein Schmuckstück, und da ist es!

Hier hoch zu kommen, ist keine Heldentat, schrieb ich. Das war 1964 noch anders, in “Goldfinger” ist die Straße hier nicht geteert und besteht nur aus Erde und lockeren Steinen:

Das Belvedere ist heute geschlossen. Gegenüber lag der Gletscher der Rhône, aber der ist heute nur noch eine Pfütze und wird nur von Motorradfahrern und Reisebussen angefahren, zu sehen gibt es da nichts mehr. Der Hauptgrund, warum hier niemand mehr übernachten möchte, ist aber der motorisierte Reiseverkehr. Als das Hotel gebaut wurde, hielten hier Pferdekutschen. 1980 hatte sich der Verkehr hier oben bereits verzweihundertfacht, und niemand wollte mehr in einem Hotel wohnen, um das permanent Autos pötterten. Heute, wo Motorräder und Sportwagen mit Klappenauspuffen hier oben wahren Akustikterror betreiben, wäre es gar nicht mehr auszuhalten. Aber wer weiß, vielleicht erlebt das schöne, alte Hotel mit der Elektromobilität eine Renaissance?

Über Serpentinen wieder hinab ins Tal, vorbei ander großen Felswand, wo früher der Rhône-Fall war, und dann durch ein Tal mit Orten wie Goms, Fiesch und Mörel-Filet (ich denke mir das nicht aus!) bis nach Brig. Den Ort kenne ich nur vom Bahnhof, jetzt nutze ich ihn, um mal kurz zu halten und die Regenkombis wieder zu verstauen. Der Regen ist auf der anderen Seite des Furka-Passes zurückgeblieben, und jetzt, 1.800 Meter tiefer, ist es auch wieder ordentlich warm.

Anna rechnet schon wieder Autobahn, was ich hier aber schnell austreibe. Es gibt hier einen anderen Weg, das weiß ich, soll sie sich mal ein wenig Mühe geben, den zu finden! Und tatsächlich, wenig später geht es eine Landstraße hinauf in die Berge und nach Süden. Die Ganterbrücke ist beeindruckend groß:

Überraschend gibt es hier viel Verkehr, vor allem Wohnmobile und Camper, die hier extrem langsam die Berge hochkriechen. Das ist nicht allein auf ihr hohes Gewicht oder eine zu geringe Motorisierung zurück zu führen – die Fahrer gucken sich schlicht die Landschaft an. Überholen ist kaum möglich, die Strecke ist unübersichtlich – wären nicht die ganzen Schlafwandler hier unterwegs, ich hätte auf der kurvigen Strecke richtig Spaß. Dort, wo es übersichtlich ist und überholen zumindest denkbar, warnt Anna vor Blitzern. So aber hänge ich hinter Campern fest, die nur die Hälfte der erlaubten 80 km/h fahren. Ach man, das fühlt sich an wie in einem Gefängnis. Muss nicht bald die italienische Grenze kommen? Nach der hätte zumindest dieses Blitzerelend ein Ende.

Meine Laune wird nicht besser, als es zu regnen beginnt. Haltestellen, wo ich schnell die Regenjacke überziehen könnte, gibt es nur wenig, und die stehen voller Camper. Bei Simplon verschwindet dann die Welt im Nebel, und die Wohnmobile fahren noch langsamer und bremsen bis zum Stillstand. Dabei ist das Tal hier so eng und tief und die Straße führt durch so viele Galerien und Tunnel, dass Anna sogar den Satellitenkontakt verliert und uns inmitten eines Berges vermutet.

So fahre ich vor mich hin, vorne und hinten eingekeilt zwischen Pupskisten, rechts und links steile Felswände, um mich rum nur Nebel, vor mich hin und regne langsam voll.
Dann sehe ich Zollbeamte aus Italien und der Schweiz in Regenponchos, aber die interessieren sich nicht für den laufenden Verkehr, und so quere ich die Grenze nach Italien. “FREI! ENDLICH FREI!”, denke ich, gebe Gas und überhole erstmal eine Reihe von Wohnmobilen, nur um mich dann spontan zu verfahren.

Falsche Abbiegung genommen, und schon drehe ich eine Runde durch den Ort Varzo. Der heißt auf Deutsch übrigens Warzo und es ist klar, warum die Einwohner italienisch präferieren.

Wurscht. Ich heize weiter gen Süden, überhole die gleichen Camper wie eben schon mal, kreuze durch Domodossola und komme dann unvermittelt in der Nähe des Lago Maggiore wieder aus den Bergen heraus. jetzt ist es nicht mehr weit, meine heutige Unterkunft liegt am Südende des Sees. Hier tanke ich, dann suche ich das örtliche Einkaufszentrum auf.

Hier suche ich – einen Schirm. “Ombrellone o parasole?”, fragt die Bedienung. “Regenschirm”, sage ich leicht gequält. Sonnenschirm wäre mir auch lieber, aber danach sieht es nicht aus. Im Gegenteil, morgen soll die Welt untergehen, und mit etwas Pech werde ich mehrere Stunden im Regen neben dem Motorrad stehen müssen. Dafür der Regenschirm.

Bis zur Unterkunft sind es nur noch wenige Kilometer. Im Dorf Veruno liegt ein großes, gut gesichertes Grundstück mit einem erstaunlich noblen Gästehaus. Gärtner mit Laubbläsern sind hier unterwegs, und Rezeptionistin Gianna wird von drei großen Hütehunden begleitet.

Ich stelle die Barocca unter dem Fenster des Zimmers ab, dann mache ich mich auf die Suche nach etwas zu essen. Laut Google und mehreren Schildern gibt es zwei Restaurants im Ort, eine Nobelrestaurant, was ich mir nicht leisten möchte und das auch erst um 20:00 Uhr öffnet, und eine Pizzeria. Na, da bin ich doch richtig!

“Nee, heute Ruhetag”, sagt die blonde Bedienung und fügt hinzu “Watt zu trinken oder ne Packung Kippen kann ich dir wohl erkaufen, wa? Aber essen ist nicht.”

Grml. Warum ist überall, wo ich hinkomme, Ruhetag!? Ich schleiche noch ein wenig durch die Straßen des Dorfes und bin mir schon sicher, dass es heute bei einem Müsliriegel aus dem Gepäck bleiben wird, als ich ein nettes, kleines Lebensmittelgeschäft entdecke. Man beachte das Acrimboldo-Gemälde!

Aus der Theke mit den frisch und handgemachten Sachen nehme ich eine Torta di… ach, vergessen. Ein Stück Pizza und einen Grünkernbratling nehme ich mit.

Das ist auch kalt erstaunlich legger, und während ich das verknuspere, checke ich nochmal die Regenvorhersage für morgen. Mittlerweile ist nicht nur Regen angesagt, sondern wirklicher Weltuntergang. Sturm und “ergiebige Niederschläge” bis 60 Liter pro Quadratmeter, sagt die Unwetterwarnung der Stufe Zwei. Ich seufze und hänge die Airbagjacke ans Ladegerät. Morgen werde ich jeden Schutz brauchen, den ich kriegen kann.

Tour des Tages: Vom Thuner See über den Susten- und den Furka-Pass nach Italien, am Lago Maggiore vorbei und bis Veruno, was neben Mailand liegt. 367 Kilometer.

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Reisetagebuch (13): Old York

Reisetagebuch (13): Old York

Sommertour mit der Barocca durch Irland, Schottland und England.
Samstag, 10. Juni 2023, Springhead Station, Northern Pennines

Wooooooah habe ich gut geschlafen. Ist halt auch totenstill, hier draußen im Nirgendwo. Ich recke und strecke mich, dann schwinge ich die Beine aus dem Bett. Vor dem Fenster, das direkt über dem Haupteingang des ehemaligen Bahnhofsvorsteherhauses liegt, erstreckt sich menschleere und erstaunlich graue Landschaft. Davon muss ich ein Foto machen!

Ach verdammt, die haben hier diese komischen Schiebefenster. Na, was solls. Ich schiebe die Riegel an den Seiten des Fensters zurück und will das Fenster hochschieben. Das geht überraschend schwer, und das kann nicht allein daran liegen, dass das moderne, mehrfach isolierte Fenster sind. Ich schaue nach oben und sehe ungläubig, wie die obere Scheibe anfängt, langsam nach unten zu rutschen. Soll das so? Das ergibt doch gar keinen Sinn!

Kalter Wind faucht durch das Fenster, das jetzt schon halb offen ist. Mist Mist Mist! Ich klettere aufs Fensterbrett und versuche mit beiden Händen die Scheibe wieder nach oben zu schieben, aber das gelingt mir nicht. Habe ich das Fenster irgendwie falsch bedient?

Ich renke mir fast den Rücken aus, aber ich bekomme die Scheibe nicht wieder nach ganz oben, und einrasten will sie auch nirgends.

Na egal, erstmal schnell das Bild machen, und dann frage ich gleich Rose wie man das hier wieder zubekommt. Ich bin zu dumm ein Fenster zu bedienen – darf man auch keinem erzählen. Aber nun, hier das Bild:

Rose ist in der kleinen Küche am Gange, die an den Gastraum grenzt, und kommt sofort mit einem Kaffee um die Ecke. “Äh, Rose, ich weiß nicht wie ich das Fenster…” “Mach Dir keine Gedanken! Das ist kaputt. Nachher kommt einer aus dem Ort, der mir hier hilft, der wird das hochdrücken und zumachen. Und dann muss ich das mal reparieren lassen.”

Uff, gut, dann habe ich das zumindest nicht kaputt gemacht. Mit dem Wissen schmeckt das Frühstück gleich nochmal besser.

Rose und ich unterhalten uns noch gut eine Stunde – wie es mit Springhead Station weitergehen könnte, und was sie vielleicht mit ihrem Leben machen möchte. Als wir uns verabschieden, sage ich “Vielleicht bis nächstes Mal”. Rose guckt mich mit feuchten Augen an und sagt “Dann bin ich vielleicht nicht mehr hier”. “Ja, vielleicht”, sage ich und schwinge das Bein über den Sattel der V-Strom und starte den Motor.

Die Strecke durch die North Pennines ist schlicht und ergreifend beeindruckend. Karge, nur mit gelbem Gras bewachsene Hügel und Berge bis zum Horizont, dazwischen, in den Tälern und Senken, Wiesen und manchmal kleine Seen.

Warum querte das Schaf die Straße?

Alte Silbermine.

Um das hier so lange wie möglich zu genießen, fahre ich einen weiten Bogen durch die Landschaft und nehme dann noch eine Fahrt über die Hügelkette mit.

Etwas unentspannt wird es, als ich eine Stelle erreiche, ab der die Straßendecke für 20 Kilometer neu gemacht wurde. Zum krönenden Abschluss haben die Bauarbeiter eine Zentimeterdicke Schicht Rollsplit aufgetragen, und auf dem um die Kurven zu fahren macht überhaupt keinen Spaß.

Die maximal erlaubte Geschwindigkeit sind 20 Meilen pro Stunde, in echter Geschwindigkeit ungefähr 30 km/h. An die halte ich mich tatsächlich auch, aber einem Subaru, der von hinten ankommt, ist das zu langsam. An einer gut einsehbaren Stelle überholt er mich, und als ich das mitbekomme, klappe ich schnell das Helmvisier zu. Und tatsächlich, als der Wagen gerade an mir vorbeigezogen ist, knallt es an meinem Helm. DIESER PENNER! Ich zeige dem davonfahrenden Wagen wütend den Mittelfinger.

Genau vor meinem linken Auge hat ein großes Schotterstück das Visier getroffen und ein Stückchen ausgeschlagen. Schiet, genau im Sichtfeld, rege ich mich auf. Damit ist das Visier wirklich hin. Für meinen geliebten Nolan N104 gibt es keine Helmvisiere mehr zu kaufen, und das vorletzte, dass ich besitze, hat der Wichser gerade ruiniert. Dann rege ich mich wieder ab, weil ich froh bin, dass es das Visier getroffen hat, und nicht die teure Brille oder mein Auge. Aber trotzdem: Wenn dick Schotter auf der Straße liegt, dann überholt man nicht! Die Steinchen fliegen echt überall hin und richten wer weiß was an!

Erst als ich aus den North Pennines raus bin, geht es weiter nach Süden. Die ländlichen Dörfer und die Felder bleiben zurück, die Straße führt durch zunehmend dichtere Besiedlung, dann durch uniforme Vororte und schließlich hinein in die Stadt York. Hier ist viel Verkehr, frie eParkplätze gibt es nirgendwo, und ich bin froh, dass ich auf Anhieb den Bezahlparkplatz finde, den ich mir im Vorfeld ausgeguckt hatte.

Als ich mich der Schranke des Parkplatzes nähere, geht die sofort auf. Ein Schild weist darauf hin, dass das hier ein Ticketloser Parkplatz ist und das Kennzeichen gescannt wurde. Pffh, dass das mit Motorrädern funktioniert, glaube ich erst, wenn ich es sehe!

Bis es soweit ist, schließe ich den Helm und mische mich unter die zahlreichen Fußgänger, die in Richtung Innenstadt tapern. Immer an er Stadtmauer entlang dauert es nicht lange, bis es in eine Fußgängerzone geht.

Hier finden sich kleine Geschäfte und ein Pub am nächsten, meist mit launigen Namen wie dem “Fetten Dachs”.

Herne würde ich das York Minster sehen, die große Kathedrale, aber angesichts der langen Schlange vor dem Portal belasse ich es bei der Außenansicht. Es ist mit fast 30 Grad viel zu heiß, um hier eine Stunde lange in der brezelnden Sonne herumzustehen, und außerdem soll ein Ticket über 20 Pfund kosten. England ist halt komisch: Museen kosten nichts, aber für Kirchen wird Eintritt verlangt.

Nein, da schlendere ich lieber ein wenig weiter durch die pittoreske Innenstadt. Alte Fachwerkhäuser gibt es hier zu sehen, mit altehrwürdigen Gescäften darin. Sogar Käthe Wohlfahrt ist hier vertreten!

Meine Güte, hier ist wirklich kein Durchkommen. Keine Ahnung, ob das hier jeden Samstag so ist, oder ob heute etwas Besonderes los ist, aber die Menschenmenge in der Innenstadt ist wirklich, wirklich heftig. Man schiebt sich mehr aneinander vorbei, als das man hier flanieren könnte. Und das bei den Temperaturen! Nein, das macht keinen Spaß, und schon nach ganz kurzer Zeit biege ich wieder ab in die Richtung, in der ich das Motorrad vermute. Viel mehr als zwei Straßen habe ich jetzt von York nicht gesehen, aber das reicht mir.

Durch den Park des Yorkshire Museums und vorbe an den Überresten der Kirche von St. Olav geht es zurück zum Parkplatz.

Natürlich funktioniert das mit dem Ticketlosen Kassenautomaten nicht.

Selbst wenn der das Kennzeichen der V-Strom gescannt haben sollte, abrechnen lässt es sich nicht. Die Barocca trägt das Kennzeichen “Gö V-137”, da ist ein Umlaut drin. Umlaute kann der Kassenautomat aber nicht. Weglassen darf man sie aber auch nicht, das Kennzeichen “Go-V137” hat der Automat, so behauptet er, noch nie gesehen, so ein Fahrzeug stünde nicht auf seinem Parkplatz.

Ich schaue noch drei Mal nach Aushängen, ob Motorräder vielleicht von den Parkgebühren befreit sind. Sind sie nicht. Am Ende zwinge ich den Automaten drei Pfund für “Go-V137” zu nehmen, dann gehe ich zur V-Strom, drücke mir den Helm auf den Schweißnassen Kopf und versuche mich an der Ausfahrt.
Was erwartungsgemäß nicht klappt.

Die Schranke bleibt unten, als das Motorrad davor steht. Genervt drücke ich den “Hilfe”-Knopf an der Schrankensäule und warte.

Ich höre, wie am anderen Ende ein Telefon läutet, aber niemand geht ran. Nach 30 Sekunden ist es aber plötzlich still. Ist eine Verbindung zustande gekommen? “Hello? HELLO!”, rufe ich laut und mit dickem, deutschen Akzent, “EI AM HIER AT ZE CAR PARK AND ZE BARRIER WON´T OPEN! BUTT EI PAID FOR ZE PARKING! I DO NOT UNDERSTAND!”

In Italien und Frankreich geben Pförtner praktisch sofort auf, wenn sie merken, dass sie es mit einem schlecht sprechenden Deutschen zu tun haben. Die sparen sich einfach jede Diskussion, öffnen die Schranken und legen wortlos auf.

Keine Ahnung, ob mich hier überhaupt jemand hört, aber plötzlich geht die Schranke auf. “Geht doch, Arschloch”, denkt mein innerer Jamiri, dann und steuere ich das Motorrad runter vom Parkplatz und wieder hinein in das Verkehrsgewühl.

Das ist so dicht, das ich zwei Mal einen Spurwechsel verpasse und Anne einen weiten Bogen durch ein Wohngebiet rechnen muss, dann geht es plötzlich zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Rechterhand sehe ich das Münster über die Häuser ragen, und dann ist plötzlich die Straße vorbei – sie endet einfach an zwei Betonpollern. Und nun? umdrehen wird kaum was bringen, und so fahre ich die Barocca einfach zwischen den Pollern durch. Keine so dolle Idee, denn jetzt befinde ich mich auf Fahrradspuren in einem verkehrsberuhigten Viertel. Ach Mensch, das gibts´ doch nicht! Schlimmer gehts ja kaum.

Aber natürlich geht es noch schlimmer, wie ich sofort merke. Noch eine Straßenecke weiter und die Barocca rollt inmitten der Fußgängermassen daher. Die Briten lassen sich tatsächlich auch überhaupt nicht beirren, als wäre es das normalste von der Welt, dass ein Motorrad in Schrittgeschwindigkeit in ihrer Mitte dahinrollt. Ich kann unter dem Helm spüren, wie meine Ohren vor Scham am glühen sind.

Zum Glück dauert das nicht lang, schon nach wenigen hundert Metern, die sich aber hinziehen wie eine Ewigkeit, kann ich die V-Strom wieder zwischen zwei Pollern durchlenken und bin zurück auf einer Straße, die offen für Kraftfahrzeuge ist. Bloß weg hier!

Es dauert noch fast eine halbe Stunde, bis endlich die Vororte von York im Rückspiegel verschwinden. Erleichtert halte ich an einer Tankstelle und mache noch einmal das Motorrad voll, dann geht es weiter nach Südosten.

Bis in die Hafenstadt Hull ist es nur noch ein Katzensprung. Von hier bin ich schon im vergangenen Jahr mit dem Schiff zurück nach Europa gefahren, und umso leichter ist es jetzt, den Weg auf das Dach des Docks von P&O-Ferries zu finden. Dieses Mal bin ich nicht der erste, das Dach steht schon voller Motorräder. Vor mir stehen Biker aus den Niederlanden, hinter mir kommt eine Gruppe aus Mettmann (dieser Name!) an.

Im vergangenen Jahr bin ich mit der “Pride of Hull” gereist, dieses Mal ist es das Schesterschiff “Pride of Rotterdamm”, dass mich zurück in die Heimat bringen wird. Beide sind identisch, und nachdem ich die V-Strom sicher verzurrt habe, mache ich es mir auf dem Restaurantdeck am Heck des Schiffes mit einem Heineken gemütlich.

Das waren also zehn Tage Irland, plus noch ein Erledigung von Unfinished Business in Schottland und England. Von dieser Tour wird mir sicher Dublin in Erinnerung bleiben, als quirlige Metropole, die man aber nur zu Fuß und mit Öffis erkunden kann. Da habe ich echt einiges richtig gemacht. Was ebenfalls bleiben wird ist das Wissen um überlaufene Touristenorte, aber auch wunderbar einsame und weite Landschaft im Nordwesten der Insel.

Ja, ich bin einmal um die Insel rumgefahren, vom Landesinneren habe ich wenig gesehen. Das war aber auch Absicht. Ich würde nicht soweit gehen wie ein Reisereporter der sinngemäß schrieb “Irland ist wie ein Gemälde, dessen Rahmen reizvoller ist als die Leinwand”, aber tatsächlich finden sich in der Inselmitte hauptsächlich unspektakuläre Seen und ländliche Gebiete, wirklich ungewöhnliche Landschaft findet sich halt eher an den Küsten.

Was mir auch in Erinnerung bleiben wird, ist die entsetzliche Trockenheit. Die Dürre seit Dezember hat Spuren hinterlassen, sowohl in Irland, das stellenweise eher staubig und gelb statt grün und lebendig war, als auch in Schottland, wo kurz nach meiner Abreise Gebietsweise das Wasser rationiert werden wird.

Ansonsten ist Irland einfach das bessere Großbritannien. Nette Leute, schlechtes Essen, urige Pubs, Linksfahrgebot und seltsame Stromstecker gibt es auch hier, aber dabei hat man den Komfort, sich in der Europäischen Union zu bewegen – inklusive dem metrischen System und dem Euro als Währung.

Apropos Großbritannien: Auch über England habe ich noch einmal viel gelernt, durch die Geschichte Irlands und was die Engländer mit der Bevölkerung und dem Land alles angestellt haben. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar, und ich habe nun ein tieferes Verständnis dafür, was die Menschen durchlitten haben und wie die oft negative Darstellung der Iren in den Einwanderungsländern zustande kam.

Alles in allem eine wirklich gute Tour, und worauf ich besonders stolz bin: Nicht ein Mal bin ich auf der verkehrten Straßenseite gefahren! Darauf noch ein Heinecken!

Tour des Tages: Von den North Pennines über York nach Hull, rund 315 Kilometer.

Die Gesamte Tour: 5.853 Kilometer in 14 Tagen, von Deutschland aus in die Niederlande, dann durch England und Wales bis nach Irland, dort einmal außen rum und dann über Nordirland, Schottland, England und die Niederlande wieder zurück.

Und hier das ganze Reisetagebuch Irland in der Übersicht:

Reisetagebuch (12): Springhead Station

Reisetagebuch (12): Springhead Station

Sommertour mit der Barocca durch Irland und Schottland. Heute mit einem Hightech-Ride, alten Heiratstraditionen und einer besonderen Geschichte.
Freitag, 08. Juni 2023

Okay, heute morgen geht es mir deutlich besser als gestern. Erstaunlich, was leichtes Essen und 12 Stunden Schlaf alles so ausrichten können. Ich schwinge die Beine aus dem Bett und habe mich im Nu fertig gemacht, dann tappe ich durch die kilometerlangen Teppichgänge des Bespoke Hotels ins Erdgeschoss.

Das Hotel hat, wie es sich für so ein altes Haus gehört, einen riesigen Frühstückssaal im Erdgeschoss, und ich verhelfe mir am Buffett zu einem ordentlichen (aber nicht fettigen) Frühstück. Während ich mich durch den Saal bewege und am Buffett rumkraute, trage ich übrigens stets eine FFP2-Maske – alle, selbst das Personal hier, sind am Husten und Schniefen und Niesen.

Gestärkt schleppe ich das Gepäck zur V-Strom. Der Loch Long sieht im Schein der Morgensonne fast unwirklich aus, wie eine Kulisse.

Ich mache das Motorrad startfertig und checke gerade die Kommunikation zwischen Motorrad und Helm, als ein älterer Herr freundlich nickend vorbeigeht und anfängt, an der Ducati herumzuwurschteln, die neben der Barocca steht.

“It´s a shame!”, sagt er dann plötzlich. “Watten?”, steige ich darauf ein und dann erzählt Simon, das er die Ducati in der Pandemie gekauft hat und bislang keine Tausend Kilometer damit zurückgelegt hat. Heute will er nach Ullapool. “Immerhin 300 Kilometer”, sage ich und Simon lacht. “Du bist deutscher?”, fragt er. “Ja”, sage ich. “Ach, Deutschland. Ich habe lange im Ausland für Öl- und Gasfirmen gearbeitet. In Frankfurt habe ich meiner heutigen Frau einen Antrag gemacht”, sagt er und guckt verträumt.

Mein Weg führt nach Süden, am Loch Lomond entlang und zunächst in die kleine Stadt Alexandria. Dort betanke ich die V-Strom bis zum Rand, dann geht es weiter, jetzt in die östlich Richtung.

Binnen einer Stunde habe ich einmal das Land gequert. Das ist aber auch keine Kunst – Schottland ist an dieser Stelle nicht besonders breit, weil die Bucht des Firth of Forth, an dem auf Edinburgh liegt, tief in das Land einschneidet.

Am Ende des Einschnitts liegt die Stadt Falkirk, und hier habe ich unfinished business zu erledigen. Im vergangenen Jahr war ich schon einmal hier, um die Kelpies anzuschauen. Was Leser Thom im Reisetagebuch aber zu Recht anmerkte: Ich hatte die zweite, große Attraktion in Falkirk völlig übersehen: Das Falkirk Wheel. Das zu besuchen, das hole ich jetzt nach.

Ich steuere die V-Strom auf einen Parkplatz und schließe den Helm ein, dann marschiere ich ein kleines Stück bergab und sehe schon auf dem Weg die turmhohe Konstruktion.


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Reisetagebuch Irland (11): Bespoke Scotland

Reisetagebuch Irland (11): Bespoke Scotland

Sommertour mit der Barocca. Heute tue ich Dinge, die ich hinterher bereue.

Mittwoch, 07. Juni 2023, 5 Corners Inn, ca. 10 Kilometer nördlich von Belfast.

Der “5 Corners Inn” gehört zwei Brüdern, und die legen einen erkennbaren Willen an den Tag, aus dem Pub/Hotel etwas zu machen. Der Anbau mit den Hotelzimmern ist neu, und es gibt einen Neubau mit einem separateb Café, dem “Take 5 Bistro”, in dem tagsüber kleine Speisen und Getränke verkauft werden – ideal für Fernfahrer.

Hier wird auch das Frühstück für die Übernachtungsgäste angeboten, und als ich dort um kurz nach Sieben auflaufe, bin ich ob der Karte leicht irritiert. Die bietet kein “Full Irish” oder andere, klassische Frühstücksmöglichkeiten an, stattdessen gibt es krass gesunde Dinge wie griechischen Joghurt mit Beeren oder Süßkram wie Pancakes oder Marmeladentoast. Was ein “Filed Soda” sein soll, weiß ich allerdings nicht und bestelle das aus Neugier.

Stellt sich raus: Es ist ein aufgeklapptes Brötchen (Sourdough?), in dem Sausages, Bacon und Rührei liegt. Quasi ein dekonstruiertes Breakfast. Okay, immerhin ist der Wille erkennbar, Neues auszuprobieren. Neues muss ja nicht immer gut sein.

Als ich halb durch das Soda durch bin, kommen die älteren Herren aus Hannover angeklötert. Sie sind recht ruhig heute morgen, weil allesamt neben der Spur. Englischkenntnisse sind ihnen über Nacht nicht gewachsen, und dadurch und die Tatsache, dass sie nicht mal wissen ob sie Kaffee wollen und dabei alle durcheinander brummeln, macht die Sache nicht einfacher. Als sie endlich einen Kaffee vor sich stehen haben, wachen sie langsam auf, werden lauter und nutzen die Gelegenheit gleich mal, um sich über alles und jedes zu beschweren.

Ich stehe auf, mache mich abreisebereit und bugsiere die Motorradkoffer durch die sieben Türen (davon fünf Brandschutztüren) zurück zum Motorrad. Als das Gepäck wieder an seinem richtigen Platz befestigt ist, mache ich es mir noch ein wenig im Zimmer bequem und spiele am Handy rum. Heute geht es wieder auf´s Wasser, dass Schiff legt um 12:00 Uhr ab. Man soll am besten neunzig Minuten vor Abfahrt am Hafen sein, und da der nur 20 Minuten entfernt ist, habe ich noch viiiiiel Zeit, zumal das Schiff noch auf der Anfahrt ist.

Ich beeile mich nicht, erst gegen zehn Uhr schlendere ich zurück zum Parkplatz, wo die Hannoveraner Oppas brummelnd und vor sich hin murmelnd ihre Motorräder bestücken. Ich brauche nur noch das Bremsscheibenschloss aushaken und kann sofort starten. Das Schloss verwende ich übrigens in Kontintentaleuropa praktisch nie, in UK aber dauernd.

Der Grund: In Europa stehlen Diebe meist zum Weiterverkauf, und deshalb gezielt beliebte, moderne und teure Modelle, bevorzugt von BMW. Alte Suzukis, wie die Barocca eine ist, sind völlig uninteressant für Profidiebe. In UK dagegen ist Moppeds klauen Jungensstreich und Volkssport, der als Kavaliersdelikt geahndet wird. Jugendliche klauen mittels Schraubendreher-in-Zündschloss auch alte Maschinen, ballern damit durch durchs Gelände und gegen Mauern und stecken das Wrack am Ende der Nacht an. Dieses Schicksal soll die Barocca nicht ereilen.

Der Himmel ist grau und bedeckt, bei rund 13 Grad. Später soll es regnen – etwas, was ich die letzten 10 Tage in Irland nicht erlebt habe. Nun verlasse ich die Insel, und der Himmel weint.

Schnell ist der Katzensprung zum Hafenort Larne gemacht. Ich fahre mit der Reederei P&O. Das ist gut, die sind modern, und dementsprechend brauche ich nur an einem Schrankenhäuschen einen Ticketcode vorzeigen und werde durchgewunken.


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Reisetagebuch Irland (10): Titanic

Reisetagebuch Irland (10): Titanic

Sommertour mit der Barocca durch Irland. Heute mit einer Zeitreise.

Dienstag, 06. Juni 2023, Fisherman´s Village, World´s End

Als ich vor die Tür des Häuschens trete, ist die Welt in Grauschleier gehüllt. Wie Gespenster treiben Nebelfetzen zwischen den Felsen und Cottages hindurch. Tiefhängende Wolken dämpfen das Licht so sehr, dass die Welt keine Farben hat. Unwirklich sieht das aus. Als würde außer den paar Felsen und den drei Häusern nichts mehr existieren. Als wäre überall drum herum das Nichts. Als wäre das hier wirklich das Ende der Welt. Ich ziehe den Reißverschluss der Fleecejacke bis unters Kinn und stapfe hinüber zum Haupthaus.

Die Gespräche verstummen und vierzehn Augen gucken mich an, als ich die grobe Holztür des Frühstücksraums hinter mir in Schloss drücke und am einzigen Einzeltisch im Frühstücksraum Platz nehme. Ich gucke demonstrativ zurück und offeriere die hoffentlich weltweit bekannte Begrüßung aller Küstenanrainer: “Moin!”

Die Horde der graubärtigen Rentner sieht mich an, dann nicken einige und vertiefen sich wieder in ihre Fachgespräche über´s Angeln. Denn dafür sind sie hier – heißt ja nicht umsonst “Fisherman´s Village”, dieses B&B hier am Ende der Welt. Kurz darauf brechen die Herrschaften auf, der frühe Fischer fischt den Frisch. Äh.

Ich mümmele nur ein wenig Cornflakes, denn so toll die Unterkunft hier auch ist, das Frühstück dauert einfach ewig und drei Tage. Ich bin schon dankbar, als ich nach geschlagenen 10 Minuten endlich eine Tasse Filterkaffee bekomme, aber für ein Full Irish Breakfast und die dreiviertel Stunde, die dessen Zubereitung erfordert, habe ich heute Morgen keine Zeit. Heather, die Besitzerin, ist total lieb, aber ähnlich schnell unterwegs wie ein kleines Weinbergschneckchen.

“Am in a hurry, gotta be in Belfast in three Hours”, erkläre ich meinen schnellen Abgang. “With your motorcycle, you´ll make it in two!” sagt Heather und lacht. Nee, nicht bei all den Baustellen, das habe ich ja nun gestern schon ausprobiert.

Heute morgen geht es einen ganz ähnlichen Weg wir am Tag zuvor, über die Bergkette und weg von der menschenleeren Küste. Schnell bleibt der Nebel zurück, und die Sonne kommt raus. Der Bergsee, den ich gestern schon bewundert habe, liegt schon im Sonnenlicht.

Über Landstraßen geht es nach Londonderry, und kurz vor der Stadt noch einmal über die unsichtbare Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland. Hinter der Stadt bekomme ich dann fast wieder einen Koller, weil auch die Nordiren fahren, als hätten sie im Leben nichts mehr vor – Tempo 40 auf der Landstraße, in Kurven gerne mal abbremsen bis fast zum Stillstand. MAN! Sollen ditte?

Ich habe nach kurzer Zeit die Nase gestrichen voll von dem Trauerspiel und steuere die V-Strom auf die Autobahn A6. Bei Tempo 120 dengelt der V-Motor gleichbleibend vor sich hin, und die V-Strom tut, was sie am Besten kann: Kilometer fressen. Auch, wenn die hier Meilen heißen.

Nach rund 190 Kilometern, in denen ich die irische Insel einmal gequert habe und jetzt an der Ostküste bin, wird die A6 zur britischen M2, und dann führt sie hinein nach Belfast. Sofort nimmt der Verkehr noch einmal drastisch zu, aber Anna weist mir mit rechtzeitigen und präzisen Ansagen den Weg durch das Gewühl und leitet die V-Strom und mich erst in die Hafengegend, und dann eine Ausfahrtsrampe hinab bis in die ehemaligen Dockyards.

Der erste Straßenzug nach der Abfahrt von der Hochstraße zeigt die graue Schmuddeligkeit alter Plattenbauten, aber nach einer Abbiegung rollt die Barocca vorbei an modernen, aber leider auch uniformen, beliebigen und völlig identitätslosen Hotelbauten, die um eine neue Veranstaltungsarena entstanden sind.

Das hier früher mal Schiffe gebaut wurden, ist heute nicht mal mehr zu erahnen – das ganze, ehemalige Hafengelände wurde platt gemacht und neu bebaut.

Hinweise darauf, welche Vergangenheit dieser Ort hat, sind gut versteckt. Einer der Passagierdampfer “SS Nomadic”, auf den man von der Straße aus einen Blick erhaschen kann. Etwas lieblos liegt das über hundert Jahre alte Museumsschiff in einem Mini-Dock inmitten einer Rasenfläche.

Unmittelbar hinter der Nomadic liegt das letzte Backsteingebäude, das noch von den alten Dockyards erhalten ist. Im Auge des Betrachters findet das aber kaum Beachtung, weil es von einem dahinter liegenden, ungewöhnlichen und hochmodernen Gebäude überragt wird.


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Agathe Adele 2023/24

Agathe Adele 2023/24

Uiuiui, das war knapp. Ich wollte Agathe was Gutes tun, und habe sie dabei fast umgebracht.

Wir erinnern uns: Die dicke Agathe, der voluminöse Weihnachtskaktus, der in einer WG mit einem Drachenbaum in einem Steingut-Topf wohnte, hatte ich 2014 geerbt, als der Vormieter dieser Wohnung über Nacht die Flucht ergriff und sie neben vier Kubikmetern Gammel einfach zurückließ.

Seitdem wächst und gedeiht die seltsame Pflanze, der ich irgendwann den Namen Agathe gab. Elf Monate im Jahr sieht Agathe aus wir knotiges Gemüse aus dem Weltall, aber dann, zum Jahresende hin, wird sie zu einem Wasserfall aus knallrosa Blüten und ist wunderhybsch anzusehen.

So ungefähr (Bild von 2023):

In 2023 dachte ich dann in meinem Gärtnerwahn: Ach mönsch, die Pflanze hockt da jetzt seit mindestens 10 Jahren in der gleichen Erde, tue ich ihr mal was Gutes und wechsele das Substrat.

Tja, und beim Wechseln ist dann ganz viel von Agathe weggemöckelt, und außerdem stellte sich dann raus, dass sie eine Doppelpflanze war und sich eine Hälfte so im Würgegriff des gammeligen Drachenbaums befand, dass ich die nicht auseinander bekam.

Am Ende der Erdwechsel-Aktion war das, was von Agathe übrig blieb, kümmerlich. Ja, das ist das richtige Wort. Kümmerlich. Und DANN kam noch Nachtfrost im März und hat sie noch mehr angemackelt.

Das hier war am Ende alles, was von der dicken Agathe noch übrig war. Eher eine Adele.

Den Drachenbaum hat´s auch zerrissen, aber um den war es nicht schade.

Ich hatte übrigens versucht, Ableger zu züchten – aber ohne Erfolg, das gammelte alles weg. Den Sommer über siechte Adele vor sich hin, und fast nahm ich an, dass ich ihr nun endgültig hinüber geholfen hätte. Aber dann, gegen September, entwickelte sie fast unmerklich neue, knotige Blätter. Ganz langsam, aber da kam was. Und im Dezember wieder erste, zaghafte Knospen.

Das ist ein Bild von gestern: Adele blüht.

Fast wie ein Baby-Groot, oder? Bis sie wieder zu einer Agathe wird, dauert es sicher ein paar Jahre. Aber ich glaube, sie hat Zeit.

Frühere Agathes:

Die dicke Agathe 2022/23
Die dicke Agathe 2021
Die dicke Agathe 2020
Die dicke Agathe 2019
Die dicke Agathe 2018
Die dicke Agathe 2017

Mastodon-Umzug

Mastodon-Umzug

Mein bisheriger Mastodon-Account ist tot. Ich bin umgezogen und firmiere jetzt unter silencer137@mastodon.social. Das kam so:

  • Twitter ist seit der Übernahme von Musk eine rechtsextreme und misogyne Kloake geworden.
  • Threads zeigt sich aktuell schwer toxisch und auf meiner “Für Dich”-Seite abwechselnd halbnackte Achtzehnjährige und Teens, die sich darüber beschweren, das ältere Menschen existieren dürfen.
  • Instagram wird nur noch als Werbeplattform für “Lifecoaches” und Influencer genutzt.
  • Facebook ist nur noch für Generation Ü60.
  • Bluesky dilettiert noch vor sich hin und ist zudem das Produkt des Mannes, der Twitter an Musk verkauft hat.
  • TikTok ist universell, aber nichts für ernste Themen.

Was mir bislang sehr gut gefällt: Das Fediverse, und hier vor allem Mastodon. Gut per App nutzbar, und mein deutscher Bekanntenkreis ist fast komplett vertreten. Leider kein Ersatz als Nachrichtenservice, wie es Twitter früher war, aber nun.

Bislang war ich auf einer Instanz unterwegs, die mir von der inhaltlichen und politischen Ausrichtung sehr zusagte. Der Start war etwas holprig, weil mein kleiner Account sofort nach dem Start von den Admins eine Verwarnung bekam. Grund: Ich hatte automatisiert Tweets von, damals noch, Twitter auch auf Mastodon gepostet, und das war im Kleingedruckten verboten. Nun gut.

Seltsam fand ich zwischendurch, dass die Admins von vornherein die Förderation mit Threads ablehnten. Aber nun.

Heute dann der zweite Strike. Grund: Ich hatte etwas Politisches gepostet, und davor keine Contentwarnung gesetzt. Hat mich etwas erstaunt, weil Content-Warnungen in meinen Augen für Nacktbilder, Drogen oder Gewalt reserviert sein sollten, also Dinge, die jemanden vielleicht schockieren können.
Mir war schon bewusst, dass “was jemanden schockieren kann” mittlerweile sehr weit ausgelegt wird, und auch Triggerwarnungen für Themen wie psychische Erkrankungen oder ähnliches ausgesprochen werden. Was ich durchaus auch OK finde, jemand der an Depressionen leidet, will vielleicht nicht unbedingt was über das Thema lesen. Oder gerade doch? Ich weiß es nicht, und respektiere sowas erst einmal.

Aber in den Verhaltensregeln der Mastodoninstanz, auf der ich zu Gast war, findet sich noch wesentlich mehr, vor dem gewarnt werden MUSS. Dazu gehört eben auch alles, was sich mich Politik beschäftigt, insbesondere bei “kontroversen Themen”, und es wird dazu eingeladen, Content-Warnungen sehr großzügig zu verwenden – zum Beispiel auch für alles zu “Wahlen”.

Als Sozialwirt mit Schwerpunkt Politikwissenschaft finde ich es maximal befremdlich, dass ich jeglichen Post über meine Disziplin, jegliche politische Meinungsäußerung und jeglichen Verweis auf einen politischen Artikel mit einer Content-Warnung versehen soll.

Außerdem, so entdeckte ich bei der Gelegenheit gleich noch, ist es eine feste Regel der Instanz, das ALT-Beschreibungen zu Bildern geliefert werden MÜSSEN.

Ich habe großen Respekt vor der Arbeit von Instanz-Admins und begreife mich als Gast, der sich in einem fremden Haus zu benehmen hat. Allerdings fühle ich mich in diesem Haus nicht mehr wohl, wenn ich ständig befürchten muss, ohne böse Absicht gegen Regeln zu verstoßen.

Bevor ich mir jetzt den dritten Strike von den Admins einfange, die anscheinend gezielt nach Posts zur Verwarnung suchen und nicht nur Verwarnungen verhängen, weil jemand einen Post als “unangemessen” oder “verletzend” reportet, ziehe ich lieber um. Ich habe keine Lust, dass mein Konto gesperrt wird, weil ich eine Triggerwarnung vergessen habe oder weil ich nicht bei jedem Schnappschuss und jedem Quatsch, den ich manchmal Poste, einen ALT-Text hinterlegen möchte. Von daher sage ich der alten Instanz nun Goodbye und ziehe um auf eine andere, die etwas toleranter zu sein scheint.

Wenn alles klappt, brauchen bisherige Follower nichts zu unternehmen, die ziehen mit mir um. Falls es schief geht, auch nicht schlimm, dann gibt es halt einen Neustart.

[Nachtrag: Hat geklappt, bis auf 5 Accounts sind alle mit umgezogen]

Reisetagebuch Irland (9): Ein Tag bei McCool´s

Reisetagebuch Irland (9): Ein Tag bei McCool´s

Sommertour mit der Barocca durch Irland. Heute mit Riesentricks und einer der schönsten Straßen Irlands.

Montag, 05. Juni 2023, Fishermans Village, World´s End

Der Seewind pfeift, und es sind noch knapp 10 Grad draußen – gut, dass im Cottage die Heizung läuft. Als ich vor die Tür trete, atme ich erst einmal tief ein. Die Luft riecht wie gepökelt, so salzig ist sie.

Ich schlendere hinüber ins Haupthaus, wo schon eine Gruppe britischer Rentner auf Angelausflug im Frühstücksraum sitzt. Eine ordentliche Zeit später habe ich dann auch etwas auf dem Teller.

Das Frühstück einzunehmen dauert nicht lange, und kurze Zeit später tue ich wieder das, weswegen ich eigentlich hier bin: Aus dem Sattel der V-Strom Irland angucken. Topcase auf´s Motorrad, und los geht es, raus aus Fisherman´s Village und rein ins Land!


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