Wenn man zum Sonnenaufgang um 05:00 Uhr aufsteht und gleich losfährt, dann kann man eine ausgedehnte Motorradtour machen und bereits wieder zu Hause sein, wenn die anderen Verkehrsteilnehmer erst so langsam mit Frühstücken fertig sind.
So früh am Morgen sind die Straßen noch leer. In der Nacht hat es ein wenig geregnet, und wo die Sonne hinscheint, beginnen Wiesen und Asphalt zu dampfen. Gegen die Sonne zu fahren macht keinen Spaß, manchmal gleicht es einem Blindflug. Aber ich kann ja so langsam fahren wie ich möchte, ich bin ja allein unterwegs.
Im Harz bietet sich immer noch das Bild der vergangenen Jahre. Ganze Täler voller toter Bäume, Ergebnis von Klimawandel und Borkenkäfer.
Das tote Holz bleibt auch so liegen, das ist das Konzept des Naturparks. Bislang zumindest, denn die Tourismusbranche protestiert heftig und möchte die toten Wälder am Liebsten vor den Besuchern verstecken.
Auch die Besitzer von Wäldern am Rande des Naturparks maulen. Argument ist hier immer: Das Totholz ist das Las Vegas für Borkenkäfer, und von dort aus fressen sie sich durchs Umland.
Die Naturparkleitung lässt sich davon bislang nicht unter Druck setzen und experimentiert sehr gelassen mit südeuropäischen Laubbäumen. Den Fehler, nochmal das ganze Mittelgebirge mit Fichten vollzustellen, den will man nicht nochmal begehen.
Es ist recht klar zu erkennen, woher die Namen der Orte im Harz kommen. Sorge. Elend. Tanne.
Mein Weg führt nach Stiege. Hier steht seit Neuestem eine Stabkirche am Ortsrand.
Hölzerne Kirchen dieser Art findet man viel in Skandinavien, und für die Region hier sind sie auch nicht außergewöhnlich. Aber diese Kirche hier ist wirklich interessant, denn auch wenn sie erst seit 4 Wochen hier steht, ist sie doch schon 115 Jahre alt.
Einige Kilometer von Stiege entfernt schlängelt sich eine Schmalspurbahn durch das Selketal.
Ich lasse die V-Strom stehen und folge einer alten Straße in den Wald hinein. Nach kurzer Zeit finden sich Zeichen, das es hier einmal Bauten gab.
Tatsächlich ist das hier das Gelände eines ehemaligen Lungensanatoriums, dem Albrechtshaus. Um das Jahr 1900 herum hatte jede gute Krankenkasse so ein Lufterholungsheim im Harz. In Wernigerode sind noch schmiedeeiserne Hallen erhalten, wo Mitglieder der AOK sich zum Atmen reinsetzten. DAs Albrechtshaus gehörte der Landesversicherungsanstalt Braunschweig, bis 1993 wurde es als Lungen- und Tuberkulose-Klinik genutzt. 2013 wurde es Opfer eines warmen Abrisses, seitdem verfällt der große Gebäudekomplex, hier das Pförtnerhaus.
Wo Gebäude verfallen gibt es Vandalismus, und der traf auch die Stabkirche, die auf dem Gelände des Sanatoriums stand. Genau hier:
Dass immer wieder die Buntglasfenster der kleinen Kirche eingeworfen und Graffiti hinterlassen wurde, missfiel den Einwohner:innen von Stiege. Gemeinsam sammelten sie für den Erhalt der Kirche, aber irgendwann wurde klar: An ihrer einsamen Position im Wald wird sich die Kirche nicht schützen lassen. Also sammelte man noch mehr Gelder, und nach 6 Jahren war es soweit: Die Kirche wurde transloziert, also an ihrer Stelle im Wald Stück für Stück abgebaut und am Rand von Stiege wieder neu errichtet.
Dort ist sie seit neuestem jeden Sonntag von 13:00 bis 16:00 Uhr für Besichtigungen geöffnet.
Dreizehn Uhr, da wird jede Straße hier im Harz von Motorengebrumm erfüllt und ich schon lange wieder zu Hause sein. Aber erst einmal genieße ich es, den Asphalt für mich allein zu haben und von den Bergen Sachsen-Anhalts über die Kornfelder Thüringens wieder zurück nach Niedersachsen zu fahren.
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