Reisetagebuch Städtetour (2): Supermodel-Samstag
Februar 2018: Tag zwei einer Städtereise südlich der Alpen. Heute mit Euphemismen in Verona, einer duftenden Überschwemmung und einer schlimmen Befürchtung.
Samstag, 10.02.2018, Verona
Langsam strampele ich mich aus der erholsamen Dunkelheit eines tiefen Schlafes frei und lasse mich mit der Strömung an die Oberfläche des Wachseins treiben. Ausreichend guter, tiefer Schlaf, der hat mir die letzten Tage gefehlt. Vor 05:00 Uhr aufzustehen bekomme ich zwar hin, was ich aber meist eher nicht hin bekomme ist das zugehörige frühe ins Bett gehen. Auf Dauer laugt das aus. Aber jetzt ist es kurz nach Acht, ich habe eine Nacht erholsamen Schlafes hinter mir, die Energie ist wieder da.
In dem riesigen Badezimmer des B&B Lady Verona nehme ich eine ausgedehnte Dusche, dann packe ich meine Sachen zusammen und schaue in den Frühstücksraum. Anna, die Rezeptionistin von gestern, wirbelt hier schon zwischen den Frühstückstischen herum. Dazu trägt sie wieder die hochhackigen Overknee-Stiefel von gestern, dazu ein hautenges, gänzlich schwarzes Ensemble inklusive Lederjacke. Interessante Arbeitskleidung für die Tätigkeit in einem B&B. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln stellt sie mir einen Caffé Doppio hin.
Ich bin erstaunt. Der Anzahl der Tische nach muss das B&B Kapazität für rund 20 Gäste haben. So groß hätte ich das Haus gar nicht geschätzt. Aber tatsächlich trudeln nach und nach immer mehr Personen ein. Italienische Pärchen, chinesische und britische Touristen, japanische Studentinnen. Binnen Kurzem ist fast jeder Tisch besetzt und vielsprachiges Schnattern erfüllt die Luft. Ich trinke meinen Caffé aus, drücke der Lady Verona meinen Zimmerschlüssel in die Hand und verabschiede mich.
Vor dem Stadhaus trete ich in den Sonnenschein auf die Straße. Es ist kühl, aber der Himmel ist strahlend blau, kein Wölkchen zu sehe. Ich schließe für einen Moment die Augen und spüre die Wärme auf dem Gesicht. Die Sonne hat noch nicht viel Kraft, aber man, wie ich die vermisst habe!
Die Innenstadt von Verona liegt in einer Schleife der Etsch, und die Lady Verona liegt genau an einer der Brücken über den Fluß. Dumme Witze a la “livin´on the Etsch” erspart mir mein Hirn zum Glück in diesem Moment, da kommt es erst später drauf. Im Moment ist es viel zu sehr damit beschäftigt, die wirklich tolle Kulisse zu bestaunen. Der Fluß im Sonnenlicht, die großen Statuen an der Brücke, das Römerkastell in der nächsten Flußbiegung, das sind schon beeindruckende Bilder.
Ich wandere am Fluss hinab und besuche das ehemalige Arsenale. Das wird heute als “Freiluftmuseum” betitelt, was ein Euphemismus ist für “steht ungeliebt in der Gegend rum und verfällt langsam”. Hundebesitzerinnen lassen hier ihre Vierbeiner abkoten. Ein Rentner sitzt auf einer Parkbank in der Sonne und telefoniert lautstark mit einer Enkelin. Eine Joggerin läuft im Zickzack um die Kothaufen herum.
Beeindruckender ist da schon das alte Castell genau gegenüber. Die alte Burg und die Brücke sind aus Backstein gebaut. Alles wirkt mächtig, kann aber eigentlich nur Show sein. Schon die mächtig wirkenden Zinnen sind bei genauerem Hinschauen nur 30 Zentimeter stark, das würde keine Kanonenkugel aufhalten.
Auch einen Balkon gibt es hier. Kein Wunder, das man bei dem Anblick auf Geschichten wie die von Romeo und Julia kommt. Oder Cyrano de Bergerac.
Ich laufe ich ein wenig in der Stadt herum. Es ist warm, fast 10 Grad, und ich komme in meiner gefütterten M65 und mit dem 10 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken glatt ein wenig ins Schwitzen.
Was mir immer wieder auffällt: Die Luft in Verona ist enorm schlecht. Nur ein kleiner Teil der Altstadt ist Fußgängerzone, der Rest der Straßen ist zum Bersten mit Verkehrsstau gefüllt. Autos stehen Stoßsstange an Stoßstange in den engen Gassen vor ständig roten Ampeln, und zwischen den hohen Stadthäusern stauen sich die Abgase zu regelrechten Wolken. Die Stadt stinkt nach Benzin und Diesel.
Der Rest der Stadt ist dagegen wunderschön, geradezu romantisch. Kleine, weinumrankte Geschäfte. Verspielte Kirchen. Sorgfältig erhaltene Stadthäuser. Und immer wieder schiebt sich die Etsch malerisch in die Szenerie. Ich laufe hierhin und dorthin, denn ich habe viel Zeit und kein Programm. Das heißt, eigentlich habe ich schon Programm, und das lautet: Verona entdecken. Also tue ich das und laufe Stunde um Stunde durch die Straßen und Gassen, am Fluß entlang und über Brücken, sehe mir die Schaufenster der Geschäfte an und beobachte die Leute.
Verona strahlt die Ruhe von wohlhabender Gediegenheit aus. Eine Stadt, die an der Oberfläche für die vielen Touristen glatt geschliffen ist, deren Bewohner aber auf einem tausende Jahre altem Geschichtsfundament eine eigenständige Version der Stadt erhalten, in der sie auch tatsächlich leben wollen. Oder anders: Die Einwohner von Verona haben ihre Stadt schön und hübsch hergerichtet und empfangen Besucher mit offenen Armen. Sie machen aber durch viele Kleinigkeiten sehr deutlich: Wir machen das hier nicht für Euch, wir machen das für uns. Lasst ruhig Geld hier, aber vergesst nicht, das ihr Gäste seid. Ds ist eine grundlegend andere Haltung als z.B. in Venedig, dass sich selbst ausverkauft.
Also nehme ich meine Rolle als Gast ein und schaue mir dieses Gesamtkunstwerk in aller Ruhe an.
Der Markt ist belebt, Händler verkaufen schon früh ungesundes und bestimmt schweineleckeres Zeug.
An der Arena stehen schon erste Besucherschlangen. Ich würde auch gerne das Innere sehen, aber nicht mit meinem Riesenrucksack auf dem Rücken.
Nach gut drei Stunden habe ich genug gesehen und laufe zum Bahnhof. Kurz bevor ich dort ankomme, nehme ich mir einen Moment Zeit, setze mich auf einen Stein am Rand einer Festungsruine und wechsele die Socken. Hört sich jetzt doof an, aber dadurch, dass ich so gut wie nie Barfuß laufe, haben meine Fußsohlen kaum noch Hornhaut. Wenn dann die Füße schwitzen und ich mit feuchten Socken viel laufe, bekomme ich sofort übelste Blasen. Das ist die Lehre aus London im vergangenen Jahr: Nasse Socken ruhig mal wechseln.
Der Bahnhof Porta Nuova ist groß und viel frequentiert. Er liegt an einer Hochgeschwindigkeitsstrecke, von hier aus kommt man überall in Italien hin.
Ich steige in den Zug nach Mailand, einen rubinroten Frecciarossa, dem “Roten Pfeil”. Das Ding sieht aus, als wäre es durch ein Dimensionsloch aus einem Science-Fiction-Film gefallen.
Erst bin ich nicht sicher, ob ich wirklich im richtigen Wagen bin. Ich habe vorab übers Netz eine Fahrkarte bei Trenitalia gekauft. 12 Euro hat die gekostet, und ich hatte angenommen, das sei die Holzklasse. Der Platz, vor dem ich stehe, ist aber ein überbreiter, luxuriöser Ledersessel vor einem Schreibtisch. Hm. Das kann nicht sein. Anscheinend bin ich zu dumm meine Platzkarte richtig zu lesen.
Zum Glück kommt gerade eine Stewardess in einem dunklen Hosenanzug. Zumindest denke ich im ersten Moment, dass sie eine Stewardess ist. Sie trägt weiße Handschuhe. Aber dann bin ich mir plötzlich doch nicht sicher. Mit ihrer eleganten Körperhaltung und einem umwerfenden Lächeln sieht sie ein wenig wie Meghan Markle aus und wirkt, als ob sie gerade einem Werbeclip entstiegen ist. Eher wie ein Model als eine Zugbegleiterin, und für einen kurzen Moment fürchte ich tatsächlich, dass ich eine Passagierin angesprochen hab. Aber das umwerfende Lächeln gehört tatsächlich zu Trenitalia. Sie prüft meine Karte und sagt “Sie sind hier schon richtig. Business Economy. Der Ledersessel da vorne ist ihrer. Ich komme gleich zu ihnen.” Achgott ja, Frecciarossa. Das ICE-Pendant von Trenitalia, aber mit Stil: Selbst in der Holzklasse bekommt man Getränke umsonst, und bei meiner Businessklasse sind sogar Mahlzeiten mit enthalten. Wow.
Auch auf mehrfache Nachfrage möchte ich nichts, und gefragt werde ich oft. Der Service hier ist ungewöhnlich hoch. Eine Stewardess kommt und fragt, ob ich was essen möchte. Die Modelstewardess rollt vorbei und bietet mir Kaffee an, oder ein anderes Getränkt meiner Wahl. Eine fragt, ob ich gerne eine Zeitung hätte. Kostenlos, versteht sich. Die Stewardessendichte ist so hoch, sich plötzlich die Modelstewardess mit ihrem Getränke- und Kaffeewagen und eine andere mit ihren Wägelchen genau gegenüberstehen und nicht aneinander vorbeikommen. Während sie noch überlegen, wie sie das jetzt am besten lösen, rumpelt der Zug durch eine Kurve, und das Wägelchen der Kaffeestewardess kippt um.
Ich wusste nicht mal dass das möglich ist, ich habe immer gedacht diese Wägelchen seien erdbebenfest. Egal, da die beiden Frauen alles im Griff haben, ignoriere ich den kleinen Vorfall. Im ganzen Wagen duftet es plötzlich nach Kaffee. Nach einiger Zeit blicke ich zum Boden und sehe gerade noch, wie eine kleine Flutwelle um meinen Rucksack spült. Verdammt! Anscheinend ist der Wasserbehälter des Kaffeewagens ausgelaufen und hat den ganzen Sitzbereich Wasser gesetzt. Etwas hilflos stehen die Stewardessen in der Brühe, jede mit einem Stapel Servietten in der Hand. Sie tupfen ein wenig in der Überflutung herum, dann zucken sie mit den Schultern und ziehen ab.
Kurz darauf kommt ein Mann in einer Trenitalia-Latzhose und einem Lappen in der Hand. Er besieht sich die Sache und schüttelt den Kopf. Etwas lustlos wirft er seinen Lappen in die Fluten, prüft das Ergebnis, schüttelt wieder den Kopf und geht wieder weg. Kurz darauf kommt er wieder und beginnt den Boden des Wagens mit Zeitungen auszulegen. WTF? Gibt es in diesem Hightechzug keinen Feudel? Die haben doch auch ein Bordrestaurant, da muss es doch Putzsachen geben! Jetzt riecht der ganze Wagen nach nasser Zeitung.
30 Kilometer vor Mailand bleibt der Zug plötzlich stehen, dann geht es im Schrittempo weiter. Ich werde etwas nervös, denn mir bleiben nur 20 Minuten um in Mailand den nächsten Zug zu erreichen. Ich packe meine Sachen und mache mich auf den Weg zur Zugspitze. Milano Centrale ist ein Kopfbahnhof, je weiter ich vorne bin, desto schneller bin ich bei meinem Anschlusszug. Soweit die Theorie, in der Praxis bleibe ich nach 6 Wagen in einer Gruppe Chinesen stecken. Ist aber auch egal, denn mittlerweile ist die Verspätung so groß, dass ich die Hoffnung auf den Anschlusszug begrabe.
Am Ende läuft der Zug mit 30 Minuten Verspätung in den Bahnhof ein. Eine Computerstimme sagt: “Der Frecchiarossa von VERONA nach MAILAND hat jetzt eine Verspätung von 30 Minuten. Trenitalia drückt Bedauern aus”. Und das war´s. Kein unwürdiges Gestammel eine Schaffners, keine Durchsage welche Anschlusszüge noch erreicht werden. Das haben die Fahrgäste mittels App schon selbst rausbekommen.
Ich steige aus und renne in die Bahnhofshalle. Vielleicht habe ich ja Glück und… nein, natürlich nicht. Der andere Zug ist pünktlich abgefahren. Das ist jetzt nicht wirklich schlimm, ich habe bei der Zugplanung die Regel berücksichtigt, die sich in vielen Jahren Deutsche Bahn bewährt hat: Wenn Du einen Termin hast, plane Deine Reise so, dass ein Zug komplett ausfallen kann und du immer noch pünktlich kommst.
An den Gleisen stehen kleine Stände mit der Aufschrift “Last Minute Service”. Keine Ahnung wozu die gut sind, also gehe ich da mal hin.
Hinter dem Tresen sitzt eine Frau Anfang 20, mit blonden Haaren und markantem Kinn. Die Frau hat hohe Wangenknochen, die ihr einen aristokratischen Look verleihen und ihr auf ewig ein gutes Aussehen garantieren. Die Dame im Zug sah aus wie ein Model aus einem Werbeclip für Trenitalia, aber diese Frau hier könnte ein schwedisches Supermodel sein, das direkt einer Ausgabe der Vogue entstiegen ist. Wo sie für Lagerfeld vor der Kamera stand. Meine Güte, was ist denn bloß los? Ist heute Supermodel-Samstag oder was?
Ihre Erscheinung passt so gar nicht zu der Trenitalia Uniform aus Jackett und Schirmmütze, die in den 50er Jahren für alte Männer mit Schnurrbärten entworfen wurden. An dieser 20jährigen wirken die unförmigen Klamotten, als habe sie sich verkleidet. Ist hier irgendwo eine versteckte Kamera?
“Ist dieser Zug hier schon weg?” frage ich linkisch und halte ihr meine Fahrkarte hin. Das Supermodel blickt darauf und sagt ohne eine Miene zu verziehen: “Ja.”
Ich will sowas fragen wie “Kann ich den nächsten nehmen?”, habe aber massive Wortfindungsstörungen. Das hat nichts mit der Blonden zu tun, sondern mein ohnehin schlechtes Italienisch gerade total eingerostet. Statt einer halbwegs stringenten Frage bringe ich nur Gestammel hervor und rudere hilflos mit den Ärmchen in Richtung Gleise. Die Blonde mustert mich kühl und zieht eine geschwungene Augenbraue in die Höhe. “Sprechen Sie englisch?” fragt sie. Ich nicke. Sie blitzt sie mich aus blauen Augen an und sagt “Ist wohl auch besser so”.
Dann telefoniert sie, um sich eine Erlaubnis zu holen, macht einen Stempel auf meine alte Fahrkarte und sagt “Die ist jetzt für den Zug in einer Stunde gültig. Aber kein Sitzplatz. Wenn was frei ist, ist gut, wenn nicht, dann nicht.” Auch wenn sie jung ist: Die von allen Trenitalia-Beamten gelebte Arroganz hat sie schon voll verinnerlicht. Egal, Hauptsache Stempel, Hauptsache Zug.
Mit einer Stunde Zeit wandere ich mal wieder durch den Mailänder Bahnhof. Zumindest will ich das, weit komme ich aber nicht: Die Ladenzeile, die quer zur Gleishalle verläuft, wurde seit meinem letzten Besuch mit Sicherheitsschleusen versehen. Gehe ich da jetzt raus, muss ich später dort mein Gepäck kontrollieren lassen. Nee, da habe ich keine Lust drauf. Da stelle ich mich lieber in eine Ecke und lese.
Statt eines Intercity ist der andere Zug ein Thello. Keine Ahnung wo da die Unterschiede sind. Der Thello ist jedenfalls recht leer, und ich finde einen Sitzplatz gegenüber einer Mutter mit ihrer vielleicht zweijährigen Tochter. Mit einem Nuckel im Mund verfolgt sie gebannt “Rapunzel” auf einem kleinen Tablet.
Ich nicke ein. Als ich aufwache, zieht eine kalte, wie eingefroren aussehende Landschaft aus grauen Feldern an mir vorbei. Rapunzels Haare sind ab. Wieder dämmere ich weg, und als ich das nächste mal aus dem Fenster blicke, sind schneebedeckte Berge zu sehen und der Ritter kommt Rapunzel zur Hilfe.
Es geht durch zahlreiche Tunnels, dann kommt der Zug in ein dicht bebautes Tal, das von einer tiefstehenden Sonne mit goldenem Licht geflutet wird. Das kenne ich, das ist ligurisches Licht! Genau dieses goldene, warme Licht verbinde ich mit Genua.
Tatsächlich ist das hier schon eines der Täler, die auf Genua zuführen. Der Zug verschwindet wieder in einem Tunnel. Einen LANGEN Tunnel. Ich blicke auf die Uhr. Noch 10 Minuten bis zum Halt, plus 5 Minuten Verspätung, eigentlich habe ich noch viel Zeit… aber das hier FÜHLT sich schon an als wären wir fast da, diesen Tunnel kenne ich doch… und tatsächlich! Noch bevor ich den Gedanken zu Ende fassen kann, öffnet sich der Tunnel auf der Oberseite und der Zug macht eine Blitzbremsung und steht.
Ich springe auf und reiße meinen Rucksack aus der Gepäckablage, dann kämpfe ich mich durch einen Wust von Koffern und zusteigenden Passagieren zum Ausgang. Die Türen schließen sich bereits, als ich aus dem Zug springe. Mit halbem Ohr höre ich noch, wie jetzt erst die Bandansage startet. “Wir erreichen in Kürze Genua…”, plärrt es aus den Lautsprechern, als der Zug schon wieder abfährt. Gut, dass ich mich hier auskenne, sonst hätte ich mein Ziel verpasst. Das hier ist Genua Principe, einer der beiden Bahnhöfe von Genua.
Am Tabakwarenladen im Bahnhof kaufe ich einen “Blocco Billetto”, ein Heftchen mit 10 Fahrkarten für Bus und Bahn, Fahrstühle(!) und die U-Bahn, auch wenn die nur eine einzige Linie mit bescheidenen acht Haltepunkten hat.
Vor dem Bahnhof steht Christoph Columbus und blickt grimmig in die untergehende Sonne.
Ich wandere durch die Stadt Richtung Brignole. Das ist der andere Bahnhof, an dem der Thello aber nicht gehalten hätte. Ist auch nur zwei Kilometer weg, und der Spaziergang tut mir gut.
Sofort nach dem Verlassen des Bahnhofs umspült mich Genua. Quirliger, aber unchaotischer Straßenverkehr fließt zwischen den hohen Stadthäusern umher, in denen kleine Geschäfte und Fakultäten der hiesigen Uni residieren.
Genuas Altstadt ist die größte in Europa. Hier habe ich vor drei Jahren schon mal für ein paar Tage im Hotel gewohnt. Irgendwie hat Genua es mir angetan, obwohl es hier nicht viele Sehenswürdigkeiten gibt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb es hier nicht viele Touristen gibt. Die Stadt ist zu dicht bebaut, es gibt kaum was anzuschauen, warum sollten sich Besucher hier her verirren? Nein, Genua ist natürlich, hier leben und arbeiten Menschen, wenig ist auf Besucher ausgerichtet ist.
Die Innenstadt mit ihren hohen Stadthäusern und den Metallkostruktionen aus dem 19. Jahrhundert verkörpert dabei eine verlebte Grandezza, die im krassen Gegensatz zu den betonverdichteten Berghängen mit ihren Wohnsilos steht. Genua ist nicht schön oder faszinierend, aber es ist interessant. Bislang habe ich noch nicht herausbekommen, woran sich diese Interessantheit festmacht, deshalb will ich jetzt ein paar Tage hier wohnen. Vielleicht erfahre ich dann das Geheimnis, warum Genua, “La Superba” (die Großartige), mich so fasziniert.
Vor dem Bahnhof Brignole liegt die Altstadt, hinter dem Bahnhofgelände liegt rechts ein Flußtal und links Berghänge. An den Hängen wachsen vielgeschossige Wohnblocks in die Höhe und stehen geradezu drohend über kleinen und alten Häusern, die sich zwischen Fluß und Berg schmiegen. Die Ansammlung an Häuschen ist das Borgo degli Incrociati, das “Dorf der Unschuldigen”. Hier warte ich vor Haus Nummer 13, wie verabredet. Da ich den Nachnamen meiner Gastgeberin nicht kenne und der Appartmentname nicht an der Klingel steht, bleibt mir auch nichts anderes übrig.
Ich warte und warte, und nach einer halben Stunde beginne ich sauer zu werden. Da klingelt mein Telefon. “Pronto”, sage ich und bin stolz darauf, dass ich weiß, wie man sich am Telefon meldet. “Wo bist Du?” fragt es aus dem Hörer. Es ist Marta, meine Gestgeberin. “Vor dem Haus, wie Du gesagt hast”, erwidere ich. “AH!”, kommt es zurück, dann folgt Schnellfeueritaliensch, das ich nicht verstehe. “Piano!” rufe ich, langsamer. Sie lacht. “Ich bin IM Haus”, sagt Marta dann langsamer. “Das ist schön, verrätst Du mir wie ich da reinkomme?”, frage ich. “Ach ja, ich habe nicht dran gedacht, dass die Tür zu ist”, sagt sie. In dem Moment summt es und die Haustür geht auf. “Zweiter Stock”, sagt Marta und legt auf.
Ich schwinge mir den Rucksack auf die Schulter und springe die Treppe hoch. Ich kann kaum glauben was ich da sehe. Jetzt wird es vollends absurd.
Marta ist mit Sicherheit eine der hübschesten Frauen, die ich je gesehen habe. Die schwarzen Haare sind kurz geschnitten, Ihre Augen sprühen vor Energie, und als sie lächelt, scheint ihr Gesicht nur noch aus Grübchen zu bestehen. Sie trägt eine Jeansjacke über einem weißen Tanktop, und zwischen ihren Brüsten glitzert ein Piercing.
Das kann doch heute alles nicht wahr sein. Erst die Lady Verona, dann die Modelstewardess, dann die Supermodel-Schaffnerin und nun auch noch eine dermaßen hübsche und natürliche Gastgeberin?
Das kann ich doch niemals ins Reisetagebuch schreiben. Erstens glaubt mir das eh niemand, und zweitens muss jeder, der das liest, annehmen, dass hier die Hormone mit mir durchgehen. Herr Silencer verwandelt sich in einen dieser unangenehmen alten Männer, die sich von jeder jungen Frau beeindrucken lassen.
Ogottogott, ist es wirklich wirklich schon so weit? Werde ich zum alten Sack? Zum Lustgreis gar? Fange ich am Ende gleich an zu sabbern und zu geifern? Während ich ernsthaft überlege ob ich wirklich gerade rapide degeneriere und die Vorstufe zum ekligen alten Mann erreicht habe, oder ob heute doch nur die Entropie mal wieder eine Delle hat und mir deshalb so gehäuft schöne Frauen begegnen, plaudert Marta ohne Punkt und Komma drauf los.
Sie habe sich schon gewundert wo ich bleibe, sie hätte ja hier oben gewartet, haha, klar, hätte sie mir vielleicht auch mal die Klingel sagen können, aber egal, na sowas. Sie lacht ein angenehmes Lachen. Ich verstehe nur die Hälfte, aber Wurst, Hauptsache die Schlüsselübergabe klappt jetzt.
Marta zeigt mir erstmal “Lo Zenzero”. Das ist ein Zweizimmerappartment, ganz für mich allein. Marta macht keine langen Fisimatenten und setzt die italienische Pflicht zur Dokumentation von Übernachtungen damit um, dass sie kurzerhand meinen Ausweis mit ihrem Smartphone fotgrafiert. Dann sagt noch kurz an, dass ich die Übernachtungssteuer auf den Tisch legen soll, wirft mir einen Schlüsselbund zu und schon ist sie verschwunden.
Ich bleibe leicht verwirrt im Wohnzimmer zurück und muss nach dem Wortschwalltornado erstmal den Kopf klarkriegen. Dann verstaue ich den Rucksack und sehe mich um. Der Wohnraum ist ein Schlauch mit einer Fensterfront auf der einen Seite und einer kleinen Küche am anderen Ende. Dazwischen ist Wohnzimmer.
Dazu gibt es ein separates Schlafzimmer, das ist in erdrückendem Blau gehalten. Egal, sieht man im Dunkeln eh nicht.
Ich habe eine Wohnung in Genua! Wie toll! Und noch toller: Obwohl es zentral ist, ist die Straße absolut ruhig.
Und am besten: Direkt um die Ecke ist ein 24/7 Supermarkt. Sowas habe ich in Italien noch nie gesehen – wie toll ist das denn bitte?? Ich kriege mich vor Begeisterung gar nicht mehr ein.
Ich packe aus, dann gehe ich einkaufen. Heute Abend gibt es sizilianische Arranciata mit gerösteten Minikartoffeln.
Zum Weggehen bin ich zu faul, ich lege mich nun noch auf die Couch und gucke fern und dämmere hinüber in meinen Geburtstag, In meinem Appartement, in Genua. Es könnte mir nicht besser gehen.
5 Gedanken zu „Reisetagebuch Städtetour (2): Supermodel-Samstag“
Toller Artikel …mitten in Genua, wie cool is das denn … Mit Gruß von Claudia
KAWA, SUPERMODELCLAUDIA?
Hallo Silencer, hier läuft die Filmmusik zum SUPERMODEL SAMSTAG
https://www.youtube.com/watch?v=l5oqK3HX598
LIEBEn Gruß
Jetzt bin ich endlich dazu gekommen das Video mit Ton zu schauen… Sehr schön, Danke Rudi!
Gerne Silencer, es gefällt mir daß es DIR gefällt! LIEBEn Gruß